Leben = Warten auf den Tod
Was es nicht schon alles für Mythen und Geschichten über das Leben und das Dasein der Menschen gab. Ich kann darüber ja nur lachen. Da hoffen sie auf einen Gott, egal wie sie ihn auch nennen auf den verteilten Kontinenten, er möge sie erretten. Die kleinen Würmlinge wissen eigentlich ganz genau, was sein wird, wenn ich sie erwische. Leider, das muss ich zerknirscht gestehen, habe ich damals, als es darum ging, die geeignete Ausrüstung zu besorgen, den Kürzeren gezogen, die falsche Wahl getroffen. Nun hat die obere Etage einen kleinen Vorteil, doch ist dieser nur zeitlich zu betrachten. Irgendwann komm ich schon nach.
Sobald ein neuer Erdenbürger das Licht der scheinbar so heilen Welt erblickt hat, klingelt oben in hunderten neuen, blitzblank polierten Flachbildschirmen ein „Halleluja“ und die Liste verlängert sich. Es sei denn, ich konnte mal wieder meine Arbeit erfolgreich ausführen und der Ausgleich der Abgänge hält die Waage.
Normalerweise würden die Menschlinge nicht so alt, wie es derzeit der bedauerliche Fall ist. Die armen Unwissenden, schieben es auf verbesserte medizinische Versorgung, ausreichende Ernährung usw. Lächerlich. Manchmal werde ich sogar wütend, wenn ich sehe, wie sie mir vorenthalten, was mir gehört. Verlängern nicht das Leben, sondern das Sterben der mir anvertrauten Seelen durch zischende, piepsende Apparaturen und Maschinen.
Nun ja, letztendlich gewinne ich sowieso. Alles nur eine Frage der Zeit. Und davon habe ich wahrlich genug.
Dann wiederum habe ich auch unfreiwillige Helfer, die dafür sorgen, dass sich mein Seelekonto unerwartet füllt. Übrigens, mein Seelenkonto wird nicht elektronisch geführt; wie schon bemerkt, mir wurden damals, als sie das „viergeteilte Fenster“ oben installierten, stapelweise Kladden und Federkiele mit Tintenfässchen geliefert, in denen ich nun ordentlich per Soll und Haben die Seiten ausgleiche. Kommen und Gehen. Sorgfältig aufs Pergament gekratzt.
Hach, und schon wieder schweife ich ab. Zurück zum Eigentlichen. Wie erwähnt, ich habe Helfer, eifrige manchmal. Das Problem ist dabei, dass sie sich in ihrem Übereifer selbst eliminieren. Auch wenn dies meine Haben-Seiten füllt, sähe ich sie doch ganz gern noch weiter ihren Job ausführen.
Tja, wie kommt es nun, dass es Menschen gibt, die ein wahrhaft Methusalem-gleiches Alter erreichen? Diese haben sich meist verdammt gut vor mir versteckt. In den Karpaten, wo übrigens einer meiner fleißigsten Helfer vor lange Zeit durch spitze Zähne für einen Run auf meine Örtlichkeiten sorgte, gab und gibt es noch viele winzige Dörfchen, in denen meine Häscher nicht alle ausfindig machen. Im weitläufigen China, wo einer dem anderen gleicht ist es ebenfalls eine Herausforderung für meine schludrigen Assistenten. Dort wo ich sie aber in Schutz nehmen muss, das sind die Fälle der Zwillings- oder Mehrgeburten. Je nachdem wie schnell ich mit dem Eintragen bin, manchmal flutscht mir einer durch die Feder. Heutzutage gehen diese Geburten, meist Kaiserschnitte, ruckizucki, und die Verbindung in den Kreißsaal (obwohl es ja täglich viele derer sind) oft undeutlich ist. Zu voll und wuselig ist dieser Ort des neuen Lebens. Da sind Verwechslungen noch das harmloseste. Oft wurde dabei im Durcheinander die Kreißende selbst erwischt. DAS ist übel. Zugegeben.
Oder der Name des Abberufenen ist dem eines anderen so ähnlich, dass meine Helfer sie verwechselten. So kommt es auch vor, dass so einige vor ihrer Zeit abberufen wurden. „Grausam und unerbittlich“ wird dann das Schicksal benannt. Dabei war es eigentlich nur eine Verwechslung des Namens und statt XX (89 Jahre) wurde xx (8 Jahre) abberufen. Jaaaa, ich kann es ja verstehen, die Trauer und Verzweiflung der Angehörigen, in einem solchen Fall. Ich versuche es ja auch zu vermeiden – wirklich!
Allerdings liegt dies wohl generell an meinem Umfeld, dass hier unten mit Gehorsamkeit oder Disziplin, Ordnung und Genauigkeit nicht so umgegangen wird, wie es sein sollte.
Wenn ich meine Exekutive so betrachte – herrje, ich glaube, es wird sich nicht viel ändern in naher, bzw. ferner Unendlichkeit. Sehr bedauerlich – nicht wahr?
Chaoten, die auf ihren Bikes über die Landstraßen heizen, dann gibt es wiederum winzige Rostfresserchen, die sich an Muttern und Schrauben zu schaffen machen, um Gewinden ihre Belastbarkeit zu nehmen. Besonders ergiebig auf Rummelplätzen und deren Gerätschaften. Appetit-Häppchen sind einige Arten der Abgänge durch unsachgemäße Nahrungsaufnahmen. Doch dafür kann ich wirklich nichts. Ich schwöre bei…. Äääh, ja. Weiter.
Für diese Fälle sorgen die Menschen selbst. Gammelfleisch, BSE, Vogelgrippe – wunderbar. Gäbe es dies nicht, müsste ich sie doch tatsächlich erfinden.
Dann scheinen einige es besonders eilig zu haben, mich kennenzulernen. Drogen, Alkohol und weitere Nützlichkeiten beschleunigen ihren Trip zu mir. Quasi eine Direktrutsche in meine gemütliche Stube.
Die ganz Harten spielen mit meinem Nervenkostüm, indem sie sich z.B. durch Bungee-Springen, S-Bahnsurfen, Würgespielen, Volksmusikhören und ähnlichem, immer wieder ganz nah an mich heranwagen, um im letzten Moment von meiner Schippe zu springen. Wie gesagt, alles nur eine Frage der Zeit.
Am interessantesten sind meine Gewitterkobolde. Die sich einen Spaß daraus machen, mit Blitzen einen imaginären Zielkreis auf der Erde zu bombardieren. Und wenn nun ein Menschlein Pech hat, inmitten des kleinen schwarzen Punktes sich aufzuhalten – der wird halt geröstet. Dieser hat dann bereits einen körperlichen Vorteil gegenüber seinen Nachfolgern, die hier Einlass ersuchen.
Es sei denn, er wäre einer dieser von der oberen Etage beschützten, dann müssen die Kobolde sich mehr Mühe geben. So kommt es zustande, dass manche der Menschen mehrmals vom Blitz getroffen werden, andere wiederum niemals in ihrem Leben.
Dann gibt es allerdings noch Berufe der Menschen, die wie von mir geschaffen scheinen. Elektriker. Gleisarbeiter. Bergführer. Politiker. Finanzbeamte. Die landen verhältnismäßig oft und fast unbemerkt von oben, hier bei mir.
Es gibt wirklich unzählige Möglichkeiten für meine Arbeit. Eigentlich schon langweilig, wie es in der da oben abläuft. Jeder Mensch darf leben wie und tun was er will (ok, fast, er sollte sich schon ein wenig nach dem heiligen Buch richten, um unbehelligt sein Dasein zu fristen). Er kann weitere Nachkommen zeugen, was mich immer wieder in Stress versetzt, da meine Kladden sich auf den Seiten mit „Neuzugänge – unerledigt“ rasend schnell füllen. Somit komme ich nur schleifend hinterher, und die Menschen werden auch noch glücklich alt dadurch. Bis auf die wenigen, genannten Ausnahmen, die mir eigentlich auch Leid tun. (DAS bleibt aber unter uns, nicht dass ich noch meinen Ruf verliere!)
Wie bereits bemerkt, mache ich keine Unterschiede zwischen „Gut und Böse“.
Nein, das ist wirklich nicht meine Aufgabe. Die steht da oben an erster Stelle. Ich arbeite hier wirklich strikt nach Eingang ab. Daher entwischen mir auch so einige der Bösen, die eigentlich mir gehören, weil die gut organisierte Engelsschar bereits kurz vorm natürlichen Ableben einer Seele einen erneuten Piepser auf den Flachbildschirmen erhält (ein Insider hat mir erzählt, es würde seit einigen Jahren, seit ein berühmter Boxer seine Karriere beendete, „Time to say goodbye“ erklingen).
Bei mir hier unten ertönt aus blechern klingenden Lautsprechern das altbewährte „Highway to Hell“ und wird gleichzeitig mit Wechsel- und Gleichstrom geliefert, mit dem meine Jungs dann ihre E-Bikes aufladen. Heee, man muss mit der Zeit gehen, auch ich sorge für ein wenig Fortschritt.
Mit diesen Bikes brettern sie dann los in der Hoffnung, die angekündigte Seele für uns sichern zu können. Falls sich das gefiederte Geflügel nicht bereits wieder vorgedrängelt hat.
Selten – ganz selten, mache ich mir persönlich die Mühe, und erscheine in meinem jahrhunderte lang überlieferten Dress. Schwarzes Kapuzencape, Sense und glühende Augen. Dabei werde ich auch bleiben, so lange wie Rauschebart auch nicht für Aktualisierung seines Aussehens sorgt.
Diejenigen wenigen, die mich so erleben (ha ha ha), haben es aber auch verdient. Durch besonders böse Taten. In letzter Zeit stand ich oft an elektrischen Stühlen oder nahe von Giftspritzen. Manche erwische ich auch im Bett liegend. Das ist aber lange nicht so spannend.
Letztendlich ist dies sowieso egal. Wir tun unsere Arbeit. Er da oben, hat es etwas leichter, besser ausgerüstet, menschenfreundlicher, ich hinke mit allem ein wenig hinterher. Gewähre unfreiwillig kostbare Zeit.
So kommen die Menschen, die guten wie bösen, die alten wie jungen, in den Genuss eines relativ! langen und entspannten Lebens.
Wenn sie denn nicht, wie bereits seit Jahrhunderten, weiter dafür sorgen, es sich selbst zu versauen und durch Kriege und weitere Feindlichkeiten, für ein Plus auf meiner Haben-Seite sorgen.
Wie gesagt, ich bemühe mich und werde immer besser, die Konkurrenz schläft nie.
Denen, die sich in meinen Kladden namentlich bereits ganz oben auf der To-Do-Liste befinden sei gesagt:
Wir sehen uns – in der Hölle!