Sarah
"I'm dancing with my loneliness again...
I'm dancing with my loneliness again
slowly to the music from within.
I'm dancing with my loneliness again
feeling it can be my only friend."
Wie immer, wenn Sarah diese CD von Schiller hörte, schloss sie die Augen und ließ sich davontragen von den für sie fast schon überirdischen Klängen. Sie nahm die Musik in sich auf, ließ sich von der sanften Gesangsstimme hinwegtragen in eine Welt, die für sie für einen kurzen Moment keinen Schmerz, keine Entbehrung, keinen Hass, keine Sehnsucht - keine kalte und harte Realität enthielt. Sie ließ sich einfach fallen in die Woge der schönen Klänge, fühlte sie in jeder Zelle ihres Körpers. Und sie wurde eins mit der Musik und dem Text. Sie fühlte sich verstanden. Ja, diese Frau, die so wunderschön sang, musste sie einfach verstehen. Sie sprach aus, was sie fühlte.
"And I won't let myself go it's too near -
too near to hear, near to hear ... to hear..."
Sie tanzte… nein, sie schwebte. Mit langsamen Wiegeschritten, mal die Arme ausgebreitet, als würde sie fliegen, mal sich selbst umarmend. Und sie fühlte in sich tiefen Frieden und gleichzeitig eine Traurigkeit, die sie bereits seit langer Zeit als festen Bestandteil ihrer selbst angenommen hat.
Und dann kamen die Erinnerungen. Die Bilder liefen wie ein Film wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ab, angereichert mit einem überaus abwechslungsreichen und tief empfundenem Bouquet an Gefühlen.
Es war wundervoll, von ihm geliebt zu werden. Und es war noch wundervoller, ihn zu lieben. Ihn... ihren Traumprinzen. Lucien. Allein seinen Namen nur zu denken, löste bereits einen wohligen Schauer in ihr aus, der ihren Körper wie ein köstliches Elixier vom Scheitel bis zur Fußsohle durchfloss. Sogar heute noch...
Sie begegnete ihm eines späten Abends in einem etwas anrüchigen Lokal. Ein Lokal, das sie unter normalen Umständen niemals betreten hätte. Sie war gerade von einer längeren Abschiedsfeier eines Kollegen im Büro leicht angesäuselt mit dem Bus nach Hause gefahren, als sie auf dem letzten Fußweg zu ihrer Wohnung ein Gewitter überraschte. Es goss plötzlich wie aus Eimern. So flüchtete sie sich in dieses Lokal, um nicht noch mehr durchnässt zu werden. Es musste ja gleich wieder aufhören. Ein typisches Sommergewitter, das fast zu erwarten war bei dieser Gluthitze, die heute den Tag über herrschte. Für die kurze Zeit würde sie dieses Lokal schon ertragen können.
Sie trat in den etwas düsteren Raum, der nur durch kleine, rote Tischlämpchen beleuchtet wurde, die auf den kleinen runden Tischen standen. Es waren nicht viele Leute da, der Abend war wohl doch noch zu früh für dieses Publikum. Drei Tische nur waren von Paaren besetzt, die restlichen fünf Tische waren noch leer und warteten auf ihre Besucher der Nacht.
Sie zog kurz alle Blicke auf sich, wie sie da so durchnässt mit tropfenden Haarsträhnen im Gesicht im Eingang stand, jedoch wandten sich die Leute sogleich wieder ihrem Gegenüber zu. Sie schaute sich kurz um und wählte dann die Bar als für sie sichersten Ort in dieser Lokalität.
Sie saß schon eine ganze Weile auf dem erstaunlich bequemen Barhocker und nippte gedankenverloren an ihrem Rotwein, als sich plötzlich ihre Blicke mit seinen trafen. Er saß am anderen Ende der Bar und schaute sie an. Sie errötete sofort und war erleichtert, dass dies wohl nicht auffallen würde bei dem hier vorherrschenden Rotlicht. Nach kurzer Zeit setzte er sich zu ihr, lächelte sehr einnehmend und bestellte für sie und für sich eine Flasche des Weines, den sie gerade trank. Sein Name sei Lucien, waren seine ersten Worte. Und sogleich nahm sie seine so wohlklingende und ihren ganzen Körper streichelnde Stimme in Besitz und er betäubte sie langsam aber stetig mit seinen wohltuenden Worten. Auch seine Blicke berührten sie. Er schaute sie nicht nur an, er drang tief in sie ein mit jedem Blick in ihre Augen.
So begann eine doch sehr anregende Unterhaltung, die noch bis in die frühen Morgenstunden andauern sollte und in ihrer Wohnung endete.
Es folgten wundervolle Monate der Leidenschaft. Sie liebten sich jede Nacht bis in den Himmel der Wolllust, über die Wolken der Glückseeligkeit und hinab in den Garten der nie zuvor gekannten Lüste. Er flog mit ihr in ihre Gefühlswelten, er verstand sie, er sprach ihre Sprache, er fühlte wie sie. Er berührte ihre Sinne, wie niemals zuvor ein Mann. Sie war sich sicher, das muss die wahre, die echte Liebe sein.
Er nahm sie in Besitz, jede Zelle in ihr, ihre Seele, alles.
Eines Abends erschien er nicht zur verabredeten Zeit bei ihr. Stunde um Stunde verging, er kam nicht. Sie rief ihn an. Nichts. Auf dem Handy kam nur die kalte Ansage, "Der Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen."
Nach unendlich qualvollen vier Stunden musste sie raus. Sie bekam keine Luft mehr in ihrer Wohnung. 'Nur raus hier, ich ersticke', war ihr einziger Gedanke, zu dem sie momentan noch fähig war. Die Straßen waren leer und still, nur noch sehr wenige Spaziergänger oder Spätheimkehrer waren unterwegs. Und sie lief einfach nur ziellos durch die Straßen. Häuserzeile für Häuserzeile zogen an ihr vorüber, ohne dass sie diese wirklich wahrgenommen hätte. Plötzlich fand sie sich in einer kleinen, dunklen Gasse wieder. Sie schreckte kurz auf, da sie der Nachtschatten gewahr wurde, die hier so schnell auftauchten, wie sie auch wieder verschwanden. Es schauderte sie.
Aus einem Durchgang zu einem Hinterhof drang ein Geräusch zu ihr. Stöhnen war zu vernehmen. Lust. Und Leidenschaft. Sie ging vorsichtig leise an dem Durchgang vorbei und sah darin einen Mann, der eine Frau an die Wand drückte und ihr so viel Lust bereitete, dass ihr Stöhnen von den Mauern der Häuser hallte.
Sie war fast schon vorbei den dem Durchgang, als sie dieses Bild noch einmal vor sich sah. Sie blieb stocksteif einige Sekunden stehen, drehte sich um und ging ein paar Schritte mit klopfendem Herzen in diesen Hofeingang. Das Paar bemerkte sie nicht, waren sie doch so sehr von ihrer Lust eingefangen.
Als sie nahe genug war, erkannte sie ihn.
Ein markerschütternder Schrei kam tief aus ihrer Seele. Er war nicht zu hören, er war nur in ihr. Unerträglich. Die Welt um sie stürzte ein. Die Trümmer ihrer Welt prasselten auf sie, sie fiel tief zu Boden und stand gleichzeitig wie gelähmt in der Dunkelheit. Seine Leidenschaft, seine Hingabe, seine Liebe, die eine so tiefe und erfüllende leuchtende Spur in ihren Leib gebrannt hatten, verwandelten sich in eine tiefrot glühende und unendlich schmerzende Blutspur.
"I'm dancing with my loneliness inside
knowing there's no place where I can hide
dancing with my loneliness inside
there's no other place for me to hide."
Die wohltuenden Klänge trugen ihre Seele immer weiter, sie war wieder angekommen. Wieder ruhig in sich. Sie drückte die Repeat-Taste und begann mit den Vorbereitungen, ihr allabendliches Ritual zu zelebrieren.
Sie zündete ihre Talgkerzen an. Sie bildeten einen großen Kreis auf dem Boden ihres Wohnzimmers. Normalerweise bestehen Talgkerzen aus Rindertalg. Sie kannte sich damit gut aus, sie wusste, wie man Rindertalg gewinnt, denn ihr Vater war Metzger und sie musste ihm immer helfen beim Schlachten. Nur ihre Kerzen bestanden nicht aus Rindertalg...
Sie nahm die kleine Holztruhe aus der Ecke, kniete sich im Kerzenkreis davor auf den Boden, öffnete sie und nahm Knochen für Knochen daraus liebevoll in ihre Hände. Sie küsste jeden einzelnen und legte ihn vor sich auf den Boden. Am Ende bildeten diese Knochen ein menschliches Skelett.
"And I won't let myself go out and cry
I wonder why, I wonder why...
I'm dancing ... romancing"