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Eine Blume von einem vergessenen Ort

*******an_m Mann
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Themenersteller 
Eine Blume von einem vergessenen Ort
Ninan war ein Cholo, ein Bergbauer. Er lebte im Tahuantinsuyo, dem Königreich der vier Himmelsrichtungen, hoch oben in den Bergen, die man in anderen Zeitaltern die Anden nennen sollte. Er stieg immer höher den heiligen Weißen Berg, den Huascarán hinauf. Er war schon sehr hoch, höher als er jemals gestiegen war, vor mehr als eine Stunde hatte er die Schneegrenze überschritten. Sein Weg begann steiler zu werden, bald würde er klettern müssen. Es war kalt hier oben, der eisige Wind pfiff und trieb Eiskristalle vor sich her, so dass Ninan Mühe hatte, den Felsen im Auge zu behalten, auf dem er den Kondor mit seinem kleinen Lama hatte verschwinden sehen. Wenn der Wind stärker und die eisigen Flocken noch dichter wurden, musste er unverrichteter Dinge umkehren. Er hatte die Ohrklappen seiner Kopfbedeckung aus Alpakawolle heruntergezogen. Den Poncho hatte er wegen des Windes mit einem Strick fest um den Leib gebunden und die Füße in den Sandalen mit dicken, wollenen Tüchern umwickelt. Er stapfte weiter.

»Bitte, heiliger Berg, verzeih, dass ich deine Ruhe störe, ich bin nur ein einfacher Bauer mit wenigen Lamas und kleinen Feldern«, murmelte er, »Verzeih, doch ich muss das kleine Lama wiederfinden, dass dein Kondor mir genommen hat. Du weißt, dass mich das Schicksal in diesem Jahr schwer getroffen hat.«

Wegen des Windes kniff er die Augen zusammen und sah vor sich auf den Boden, um nicht durch einen Fehltritt zu stürzen. Er hatte sich so sehr auf sein Bitten an den Weißen Berg konzentriert, dass er erschrak, als er plötzlich Füße vor sich im Schnee sah. Die nackten, schmutzigen Füße einer Frau. Erschrocken fuhr sein Blick in die Höhe. Wild sah sie aus, sie trug ein grob gewebtes Gewand aus Wolle und darüber eine schwarze Decke mit farbenfrohen, kantigen Mustern, wie sie in dieser Gegend der Welt üblich waren. Der Schnee schien ihr nichts auszumachen, ihr langes schwarzes Haar flog im eisigen Wind, und aus diesem schwarzen Wirbel heraus funkelten ihn ebenso schwarze, ernst blickende Augen an. So wie für das Volk der Berge typisch, war ihre Haut dunkel, die Nase stolz gebogen wie der Schnabel des Kondors, die Wangenknochen hoch, ihre Lippen breit und voll.

»Rimaykullayki, Mamay« grüßte er erschrocken.
»Chaskillaykim, Tatay«, erwiederte sie den Gruß, »Was tut ein Cholo so hoch oben auf dem weißen Berg? Felder oder Weiden gibt es hier nicht.«
»Ein Kondor hat mir ein kleines Lama aus meiner Herde genommen. Ich will es zurückholen.«
»Für ein einziges Lamajunges nehmt Ihr einen so gefährlichen Weg auf Euch?«
»Das muss ich, Mamay, denn ich bin arm und das Schicksal hat mich in diesem Jahr hart getroffen. Hätte ich nur ein einziges Lama mehr, würde ich es dem Kondor als Opfer für den weißen Berg überlassen, doch meine Frau erwartet ein Kind und mein Bruder, der gekommen ist, um an ihrer Stelle bei der Ernte zu helfen, liegt krank in meiner Hütte. Wenn ich das kleine Lama schon nicht mehr lebend finde, so will ich doch wenigstens einen Poncho für meine Jüngste Tochter aus seiner Wolle machen.«
»Dann ist es Euer Lama, das ich gefunden habe.«
»Ihr habt mein Lama gefunden?« fragte Ninan ungläubig, »Wo ist es?«
»Folgt mir, ich habe es dort in einer Höhle gelassen.« Sie deutete in die weißen Wirbel.

Was für ein Glück! Dachte er, als er der Frau hinterherstapfte. Als sie schließlich die Höhle betraten und er das Lama an einem Felsen angebunden sah, konnte er es kaum fassen. Es hatte einige Wunden von den Krallen des Kondors, einer seiner Läufe war geschient und mit Kräutern umwickelt, aber es lebte.
»Ich habe es in den Klauen des Kondors gesehen und gespürt, dass viel Sorge an diesem kleinen Wesen hängt. Deshalb habe ich dem Kondor befohlen, es mir zu bringen. Ich habe es versorgt und machte mich gerade auf die Suche nach seinem Hirten.«
»Ihr habt dem Kondor befohlen?« fragte Ninan ungläubig. »Ihr müßt eine Layqa, eine Magierin sein! Wie kann ich Euch danken?«
»Begleitet mich hinab, Tatay, und erzählt mir, was es Neues gibt im Tahuantinsuyo. Es ist lange her, dass ich unter Menschen war und seit mein Lehrmeister gestorben ist, hält mich nichts mehr hier oben.«
Er nahm eines der Tücher, die er sich umgebunden hatte und wickelte das kleine Tier sicher darin ein. Das schwach protestierende Bündel band er sich auf den Rücken. Dann verließen sie die Höhle.

»Ihr müßt eine mächtige Magierin sein, wenn Ihr dem Kondor befehlen könnt« rief Ninan ihr durch den eisigen Wind zu.
»Der Kondor ist ein gewaltiger Vogel, aber auch er ist nur ein Tier«, erwiderte sie laut, »Hat Euer Dorf keinen Layqa, der Pumas und Kondore von den Herden fernhält?«
»Ach Mamay, die Zeiten, in denen jedes Dorf einen Layqa hatte, sind lange vorbei«, antwortete er und obwohl er gegen das weiße Treiben und Tosen anschreien musste, konnte sie Traurigkeit in seiner Stimme erkennen, »Wir müssen nicht nur auf den Feldern arbeiten, sondern auch unsere Herden selbst beschützen.«
»Hat denn nicht Herrscher Lloque Yupanki befohlen, dass jede Gemeinde einen Layqa haben muss?«
Er blieb stehen und sah sie ungläubig an »Die Zeiten des Inka Lloque Yupanki sind lange vorbei, Mamay. Der Großvater meines Großvaters hat davon erzählt, wie er die Stämme der Ayahuiri und der Colla besiegt hat, aber das ist lange her. Nun herrscht seit vielen Generationen Coya Xiomara, die Schwester der Sonne.«
Nun war es an ihr, die Brauen zu heben und ihn durch die wirbelnden Schneeflocken ungläubig anzusehen.
»Schwester der Sonne?« fragte sie laut, »Hat sie noch niemand bestraft für diese Anmaßung?«
Ninan sah sich gehetzt um, dann rief er: »Ich bitte Euch, Layqa, sprecht nicht so, es heißt, sie sieht mit den Augen des Kondors und hört mit den Ohren der Eidechsen, die überall sind. Lasst uns nur weiterziehen.«

Sie fragte sich gerade, wie lange sie schon nicht mehr von ihrer Hütte hinabgestiegen war und was sie alles versäumt hatte, während sie ihren Lehrmeister gepflegt hatte. Sie betrachtete den Cholo nun genauer, der vor ihr den Abstieg fortsetzte. Doch so, wie sich auch die weit auseinander liegenden Dörfer bei jedem ihrer Besuche nur wenig verändert hatten, war auch an diesem Bauern, der sich Ninan nannte, nichts außergewöhnliches. Seine Sprache war anders als das Quechua, das sie sprach, aber nicht so, dass sie einander nicht verstanden. Doch auch das musste nichts bedeuten, es war gut möglich, dass sie nach so langer Zeit der Einsamkeit einfach nicht mehr an menschliche Sprache gewöhnt war.
Das Sausen des Windes, die ziehenden Wolken und die kalte, klare Luft des Huascarán waren ihr nach dem Tod ihres Lehrmeisters lange Zeit genug gewesen, bis sie ihre Traurigkeit überwunden hatte. Der Cholo dort vor ihr wirkte schmaler als die Bauern, an die sie sich erinnerte, und er musste wirklich arm sein, wenn er für ein einziges Lamajunges so einen gefährlichen Weg auf sich nahm. Doch auch das gab es und das allein konnte es nicht sein, was ihr merkwürdig vorkam. Dann erkannte sie es – er hatte Angst. Es war nicht nur die Angst um sein Lama, um den Kranken Bruder, von dem er gesprochen hatte, es war auch nicht der Weg. Es war eine grundlegende Angst, die ihn schon sein ganzes Leben begleitet und geprägt haben musste. Wie er zusammengezuckt war, als sie ihn gefragt hatte, ob man diese neue Coya, diese Königin, für ihre Anmaßung bestraft hatte …

Etwas später hatten sie die eisigen Höhenwinde hinter sich gelassen, sie konnten nun nebeneinander gehen und miteinander reden.
»Erzählt mir, was Euer Großvater erzählt hat« bat sie ihn.
Und Ninan erzählte. Er berichtete, wie Inka Lloque Yupanki gestorben war, wie dessen Familie sich um die Macht balgte und schließlich ein Nachfolger gefunden war. Dieser neue Inka hatte eine Tochter, Xiomara, die schnell zu einer mächtigen Magierin wurde. Es dauerte nicht lange und ihr Vater starb nach einer plötzlichen Krankheit. Ninan schaute sie an, als er das erzählte und sie dachte an seine Reaktion oben bei der Höhle, deshalb stellte sie nicht die offensichtliche Frage. Er schien beruhigt, als er fortfuhr.
»Mein Großvater hat erzählt, dass sein Großvater ihm eine uralte Geschichte von einem Dorf auf der anderen Seite des Weißen Berges erzählt hat. Vor langer Zeit soll dort ein Layqa einem anderen Unterschlupf gewährt haben, als dieser von Xiomaras Soldaten gesucht wurde. Zur Strafe hat Sie das Dorf niederbrennen und alle seine Bewohner töten lassen. Aus dieser Zeit stammt auch die Legende, dass nur eine Blume von einem vergessenen Ort die Herrschaft Xiomaras brechen kann.«
Sie erschrak, ließ sich aber nichts anmerken – das war die Geschichte von Huancarupac, ihrem Heimatdorf!

Wie die immensen Steinblöcke, aus denen die titanischen Mauern der Tempelfestung Sacsayhuaman erbaut waren, fügten sich vergessen geglaubte Erinnerungen zu einer Geschichte, zu ihrer Vergangenheit zusammen. Ihr Name fiel ihr wieder ein – Tika war sie genannt worden, als sie noch ein kleines Mädchen war. Damals hatte die Tochter des Herrschers nach der Macht gegriffen. Für Details hatte sie sich nicht interessiert. Das schickte sich nicht für ein Mädchen und die Geschäfte der Mächtigen waren weit weg von ihrem kleinen Dorf. Nachrichten fanden nur langsam den Weg über die tiefen Schluchten und steilen Hänge der Anden.
Es hieß, diese Tochter sei eine mächtige aber auch grausame Magierin. Um die Herrschaft zu erlangen, hatte sie nicht davor zurückgeschreckt, ihren eigenen Vater zu töten. Zu dieser Zeit gab es viele Layqas, auch in Huancarupac gab es einen. Er war nicht so stark wie manche anderen, doch er sorgte gut für sein Dorf. Er hielt die hungrigen Pumas von den Lamaherden fern, ließ zur Erntezeit die Sonne scheinen, bewegte mit seinen Zaubern schwere Felsbrocken und war ein guter Zuhörer und Heiler.

Eines Tages war ein Freund des Layqa erschöpft und in abgerissenen Kleidern nach Huancarupac gekommen. Er war auf der Flucht, weil er nicht in die Dienste Xiomaras treten wollte. Die Ältesten kamen überein, dass man ihm helfen sollte, so gut es ging, bis er wieder bei Kräften war, dann wollte man ihn hoch oben im Gebirge verstecken. Zu gefährlich war seine Anwesenheit, denn Coya Xiomara hatte befohlen, dass alle Layqa nach Cuzco kommen und ihr zu Diensten sein sollten bei den Eroberungszügen gegen die Nachbarvölker.

Doch man hatte ihn gefunden, noch bevor er wieder bei Kräften war. An dem Tag, als die Soldaten ins Dorf gekommen waren, hatte Tika die Lamas geweidet, auf den fetten Wiesen der anderen Seite des Tales, dort, wo die Sonne länger schien. Als sie die dunklen Rauchwolken auf der anderen Seite sah, hatte sie mit den gellenden Pfiffen der Bergbewohner hinübergerufen, doch keine Antwort erhalten. Auch als sie mit ihrem polierten Hirtenmesser aus Kupfer Lichtsignale sandte, regte sich nichts. Dann war sie losgerannt und hatte die Lamas allein gelassen. Sie rannte, dass selbst die schnellsten Läufer des Tahuantinsuyo Mühe gehabt hätten, Schritt zu halten und mehr als einmal wäre sie beinahe gestürzt, doch das war ihr gleich. Ohne die Lamas konnte sie den kürzeren Weg durch das hüfttiefe Wasser einer Stromschnelle nehmen. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass dieser Weg gefährlicher war, denn der Marañon war reißend um diese Jahreszeit. Trotzdem kam sie zu spät. Ihr Dorf war zerstört. Die Krieger der Herrscherin hatten niemanden am Leben gelassen. Sie fand die kleine Schwester am Rand des Dorfes, eine Steinkugel aus der Schleuder eines Soldaten hatte ihr den Schädel zerschmettert, als sie davonlaufen wollte. Vor ihrem Haus lag der Vater mit einem Knüppel neben sich, drinnen die Mutter und die große Schwester, der Bruder vor ihnen auf dem Boden mit einem Küchenmesser in der Hand. Alle waren erschlagen worden oder bluteten aus Stichwunden.

Ihr Haus war eines der wenigen, die nicht brannten. Solange ihre Glieder ihr noch gehorchten, brachte sie die kleine Schwester und den Vater hinein und zündete es an, damit ihre Geister mit dem Rauch zur Sonne aufsteigen konnten. Lange saß sie weinend vor dem Feuer. Die Funken sengten ihr Haar und ihre Kleider an, doch das berührte sie nicht.
Schließlich erschienen im Zwischenreich der Dämmerung, das sich Inti der Sonnengott, mit Quilla der Mondgöttin teilte, die Geister. Bis zum Morgen hielt sie Zwiesprache mit ihnen, klagte und weinte. Sie wollte sterben und bat die Geister, sie mit sich zu nehmen. Die Geister versagten ihr diesen Wunsch und schickten sie zu einem weisen, sehr alten Layqa, der hoch oben auf dem heiligen Berg lebte, damit er sie lehren und ins Leben zurückzuführen konnte.
Als sie keine Tränen mehr hatte, und die Geister verblassten, verabschiedete sie sich und brach auf zum Huascarán. Sie schaute nicht mehr zurück.

Der alte Magier nahm sie auf und half ihr, die Ruhe des Geistes wieder zu erlangen. Er tröstete sie über den Verlust hinweg und heilte sie von der unbändigen Wut, die sich in ihr auszubreiten drohte und zu nichts Gutem führen konnte. Er erkannte starke Magie in ihr, lehrte sie das Gleichgewicht der Dinge und die Macht von Pachamama, der Erdmutter zu gebrauchen. Dafür half sie ihm bei der Arbeit auf seinem kleinen Feld und dem bescheidenen Haushalt. Nur selten musste sie hinab in die Dörfer um etwas zu kaufen oder zu tauschen, was das eigene Feld und ihrer Hände Arbeit nicht hergaben.
Weil die Zeit in der Abgeschiedenheit der verstreut liegenden Dorfgemeinschaften seit jeher anders verging, wunderte sie sich nicht weiter über die Veränderungen bei jedem ihrer Besuche. Schließlich kam eine Zeit, in der sie das Haus des Magiers nicht verlassen konnte, weil er krank wurde und sie ihn pflegte.

Schließlich starb er. Er war alt und begrüßte das Ende seines Lebens, und so war es ein Abschied ohne Schmerz. Ihre Trauer jedoch ließ sie noch lange in der kleinen Hütte bleiben, bis sie schließlich jede Erinnerung auswendig kannte, die sich einstellen würde, wenn sie nur ein Gefäß oder irgendeinen Gegenstand ansah, den ihr Meister benutzt hatte. Er hatte sie zwar gelehrt, das Gleichgewicht des Geistes zu wahren, aber nicht, was zu tun wäre, wenn mit diesem Gleichgewicht nichts anzufangen wäre, wenn niemand da wäre, um es zu teilen. Denn da waren immer die täglichen Pflichten und Lektionen zu absolvieren gewesen, so dass der Gedanke nie aufkam, dass das einmal zu Ende sein könnte.
So saß sie dann eines Tages da, schaute in die Täler, in denen sie die Quinoa-Felder der Bauern erkennen konnte, die kleinen Flecken ihrer Siedlungen, weit unten, nur schwer erreichbar. Wind zog auf, es würde bald schneien. Ein Kondor, der ein kleines Lama in den Klauen hielt, schwebte majestätisch in ihr Blickfeld …

Schließlich erreichten sie spät Ninans Hütte. Sie erschrak über die Armut des Bergbauern. In der Hütte wurde sie mit der Herzlichkeit empfangen, die sie seit jeher von den Leuten der Berge gewohnt war, jedoch bemerkte sie auch hier die allgegenwärtige Angst vor der grausamen Königin. Ninans Frau Taoca begrüßte ihren Mann überschwänglich, hatte sie doch die Änderung des Wetters selbst von hier beobachten können. Stille Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihn an sich drückte. Überglücklich bot sie Tika zu Essen und zu trinken an, doch Tika sah, dass sie nur wenig hatten und so nahm sie nur einen kleinen Maisfladen und wenige Schlucke Chicha. Sie ließ sich die ganze Nacht hindurch erzählen, wie das Leben im Königreich der vier Himmelsrichtungen nun aussah und erschrak. Mit dem Schrecken kam die Wut, mit der Wut wieder die Bilder ihrer getöteten Familie, ihres brennenden Dorfes und es kostete sie unglaubliche Mühe, diese Wut niederzuringen.

Das war, was sie hörte: Das relativ friedliche Vorgehen der bisherigen Inka, die Kinder der Herrscher der Vasallenstaaten in Cuzco erziehen zu lassen, damit sie später im Sinne der Inka regierten, dauerte Königin Xiomara zu lange. Sie wollte direkte, uneingeschränkte Macht und das sofort. Deshalb rüstete sie ihr Heer immer weiter, zog so viele junge Männer ein, wie sie konnte, ohne Rücksicht auf Familien und das Leben der Dorfgemeinschaften, welche die Grundlage des gewaltigen Reiches bildeten, das sich von den eisigen Inseln im Süden bis zur Landbrücke zwischen den Kontinenten im Norden erstreckte. Die meisten Magier der Gemeinden stellten sich gegen sie, doch bisher hatte sie noch keiner besiegen können. An ihrer Seite war Guacane, ein ebenfalls sehr mächtiger Magier, gegen den jeder Layqa kämpfen musste. Kaum einer bestand gegen Guacane und diese wenigen hatten nur noch die Wahl, Xiomara zu folgen oder durch ihre Hand zu sterben.

Sie redeten bis zum Morgen, dann schliefen sie ein. Ninan legte sich liebevoll und schützend an den runden Bauch seiner Frau, die beiden Töchter atmeten friedlich unter ihren Wolldecken. Während Tika sich umsah, den Bruder Ninans im Schlaf stöhnen hörte, fragte sie sich, wie es so weit hatte kommen können.

Am nächsten Tag, Ninan war auf seinen Feldern, die Töchter halfen ihm und seine Frau war ins Dorf gegangen, besah sie sich Ninans Bruder. Ein Fieber, fand sie heraus, etwas, das er sich im Tiefland zugezogen haben musste. Nicht ungefährlich, aber nichts, was sie nicht heilen konnte. Sie fand in der Umgebung einige Kräuter, kochte einen kräftigenden Sud daraus und gab sie dem Mann zu trinken. Er öffnete die Augen, fühlte die heilende Wirkung in seinem Inneren und sah sie dankbar an, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel.

Dann ging sie ins Dorf, um Ninans Frau zu suchen. Im Dorf fand sie die selbe Armut wie in der Hütte des Cholo. Auch hier begrüßte man sie freundlich, doch auch mit ängstlicher Vorsicht. Sie sah nur Frauen, kleine Kinder, alte Leute und nur sehr wenige Männer wie Ninan. Junge Männer fehlten ganz. Sie fand Taoca, die mit einer anderen Bäuerin um einen Beutel Ullucu feilschte.
»Mamay,« klagte die Bäuerin, »du weißt, dass wir ohne den Bach unsere Felder nicht mehr bewässern können, ich muss soviel verlangen, damit ich mich heute nicht wieder hungrig schlafen legen muss.«
Taoca seufzte, als Tika dazukam.
»Rimaykullayki,« grüßte sie »was ist mit eurem Bach geschehen?«.
»Das ist die Magierin, die unser Lama gerettet hat« erklärte Taoca.
»Chaskillaykim,« erwiederte die Bäuerin und begann zu klagen, dass der Bach, mit dem viele ihre Felder bewässerten, vor Kurzem von einem Erdrutsch verschüttet worden war. Tika ließ sich sogleich zu diesem Erdrutsch führen. Einige Marktfrauen hatten das Gespräch mitangehört und folgten den dreien neugierig.

Wieder war Tika entsetzt. Da lagen Steine im Bachbett und das Wasser musste sich nun einen anderen Weg suchen. Es waren große Steine, doch ein paar kräftige Männer oder auch ein einziger Layqa hätten ausgereicht, den Bach innerhalb von zwei oder drei Tagen zu befreien. Ärger und Unverständnis über die uneinsichtige Königin ließen sie den Kopf schütteln. Ohne weitere Worte sprang sie in das Bachbett, kletterte auf den größten Brocken und breitete die Arme aus. Mit geschlossenen Augen sang sie ein kurzes Lied in einer Sprache, die älter war als das Quechua der Bergbewohner. Gebannt sahen die Bäuerinnen zu. Ein solches Schauspiel kannten sie nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern und die alte Sprache ließ tiefe, archaische Erinnerungen wach werden. Tika verstummte, schien zu lauschen, dann stampfte sie mit aller Kraft auf den Stein und lauschte wieder. Sie sang noch einmal und stampfte erneut, lauschte, bis sie sicher war, dass Pachamama sie gehört hatte. Sie stieg von dem Stein und sagte den Leuten: »Noch heute nacht oder morgen in aller Frühe wird der Huascarán diesen Bach freigeben.«

Tika und Taoca gingen nach Hause, und als Taoca ihren Schwager ruhig und friedlich schlafen sah, konnte sie es zuerst nicht glauben, dann fiel sie Tika weinend um den Hals. Am Abend, als wieder alle zusammen saßen, konnte sich Ninans Bruder bereits aufsetzen und mit ihnen essen. Sie alle bedankten sich, dass es Tika beinahe unbehaglich wurde, vor Allem als sie daran dachte, dass all diese Dinge selbstverständlich gewesen waren, damals, als sie aufgewachsen war.

In der Nacht wurde das Dorf von einem tiefen Rumpeln geweckt und alle wussten, dass die neue Layqa, die aus dem Nichts gekommen war, Wort gehalten hatte.

In aller Frühe nahm Tika schläfrig wahr, dass Ninan die Hütte verlassen wollte, um auf sein Feld zu gehen, doch sofort kam er mit großen Augen wieder hineingestürzt.
»Was ist?« fragten Taoca und Tika.
»Seht selbst« erwiederte er aufgeregt lächelnd.
Sie traten vor die Hütte, wo bereits unzählige Frauen und ältere Männer in ihre Ponchos gehüllt warteten. Das ganze Dorf musste anwesend sein. Sie starrten Tika an und auf einmal bestürmte sie ein Stimmengewirr aus Dankesbekundungen, Erzählen, Bitten und Flehen, dass kein Wort zu verstehen war.

Während der folgenden Tage wurde Tika bis aufs Äußerste von den Dorfbewohnern in Anspruch genommen. Und sie half gern, auch wenn sie in der Nacht wie tot auf ihr Lager sank. So lange war sie nicht unter Menschen gewesen, dass es ihr eine Freude war, ihnen mit Gefälligkeiten, die für ihre Begriffe meist einfach waren, zu helfen. Doch bei aller Freude – der Bauern und auch Tikas – es lag eine Traurigkeit über Allem, so als ob bereits fest stand, dass auch dieses Aufblühen des kleinen Dorfes, diese neue Zuversicht in den Mienen der Leute, bald ein Ende haben würde. Aus den geflüsterten Berichten der Bäuerinnen wusste sie, dass die Magierkönigin Xiomara alles erfuhr, was im Reich vor sich ging und ihr selbst war klar, dass die vielen großen und kleinen Zauber, die sie hier wirkte, einer so mächtigen Magierin nicht verborgen bleiben konnten.
Und so kam es auch.

Sie hatte gerade die Weide eines alten Paares mit einem Zauber belegt, der Kondore und Pumas eine Weile fernhalten würde, da kam ein kleiner Junge aus dem Dorf gelaufen. Schon von weitem rief er: »Mamay! Mamay! Es ist ein Chaski aus Cuzco gekommen!«
Atemlos berichtete er, wie der Botenläufer im Dorf angekommen war und nach der neuen Magierin gefragt hatte, »Xiomara selbst hat ihn geschickt! Er ist noch im Dorf und stärkt sich mit einem Krug Chicha. Er kommt gleich zu Euch, Mamay!«
Stille breitete sich aus, die alte Bäuerin drückte Tikas Hand, sie wussten, was nun geschehen würde.
»Ich werde zu ihm kommen« sagte Tika entschlossen und machte sich auf den Weg.

Vor dem Dorf traf sie den Läufer. Die Chaski waren Staffelläufer, die in Windeseile Botschaften im riesigen Reich der Inka verteilten. Sie liefen von den Nebelwüsten an der Küste, durch den Dschungel, durch die Täler und über die hohen Gipfel der Anden. Es hieß, sie seien unermüdlich und niemand könne sie aufhalten. Tika hatte in ihrem Leben nur einmal einen Chaski gesehen, damals, als ihrem Dorf befohlen wurde, den geflohenen Layqa herauszugeben. So wie der Bote damals war auch dieser, dem sie nun gegenüber stand, sehnig und stark. Er hatte noch die Koka-Blätter im Mund, die ihn den raschen Wechsel aus dem Tiefland hinauf in die dünne Luft der Hochebenen nicht spüren ließen. Die Dorfleute kamen zusammen und sahen aus sicherer Entfernung zu.

Der Chaski hob die Stimme so weit, dass er sicher sein konnte, dass alle hören würden, was er zu sagen hatte: »Ich überbringe eine Botschaft von Coya Xiomara, der Schwester der Sonne«, sprach er.
Auch er war nicht frei von Angst, bemerkte Tika, doch er war sehr stolz auf die wichtige Funktion, die er ausübte.
»Ihr seid die neue Layqa dieses Dorfes?« es war eher eine Feststellung als eine Frage.
Tika nickte ernst und er fuhr fort: »Ihr müsst in die Hauptstadt kommen, die Schwester der Sonne wünscht Euch zu sehen.«
Als sie nicht antwortete, ihn nur ansah, sagte er »Wenn ihr nicht in Cuzco erscheint, werden Soldaten ins Dorf kommen und Euch abholen«.
Die Dorfleute zuckten zusammen, es war nur zu deutlich, was das bedeutete. Sollte Tika sich weigern, würde das Dorf zerstört werden.

Schweren Herzens nickte Tika und sagte leise: »Sagt ihr, dass ich kommen werde«.
Der Bote nickte respektvoll, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und machte sich auf den Weg zurück nach Cuzco.
Tika drehte sich um, sah in die Augen der Dorfleute. Schweigend ging sie zur Hütte, packte ihre wenige Habe in einen kleinen Beutel und verließ das Dorf auf dem selben Weg wie der Chaski. Stumm folgten ihr die Blicke der Leute, als sie hinter einer Biegung verschwand. Sie schaute nicht zurück.

Durch die Berichte der Leute wusste sie, was sie erwartete, und was sie in den Wolken las, bestätigte sie in dem, was sie tun musste, deshalb sammelte sie auf dem Weg einige seltene Kräuter und Früchte, aus denen sie einen Trank zubereiten würde.
In Cuzco kam man eilig zur Sache, denn Xiomara bereitete einen weiteren Eroberungsfeldzug vor. Tika bat, die Königin sprechen zu dürfen, doch das wurde ihr verwehrt, erst bei dem Kampf mit Guacane, dem sie sich wie alle anderen Layqa stellen musste, würde sie sie sehen.
In der Nacht vor dem Kampf bereitete sie den Trank zu.

Der Kampf fand in der Festung Sacsayhuaman statt, auf dem Berg Macchu Picchu, nahe der Hauptstadt. Es würden nur die Königin, wenige hohe Mitglieder des Hofstaates, Guacane und Soldaten zur Bewachung anwesend sein. Ort des Kampfes war ein rechteckiger Platz am Rande der Festung, der von drei Mauern aus riesigen Steinen eingefasst wurde. Die vierte Mauer reichte Tika nur bis zur Brust, sie konnte hinaus in die tiefhägenden Wolken schauen. Unter ihr ging es hunderte Meter steil in die Tiefe. Auf halber Höhe der hoch aufragenden Mauer auf der anderen Seite war eine schwarze Türöffnung zu sehen, die auf eine Plattform führte, acht Schritte breit und sechs Schritte tief. An der Vorderseite führte eine Treppe hinab, die die ganze Breite der Plattform einnahm und in mehr als doppelter Breite auf dem rechteckigen Platz endete.

In der Mitte der Plattform ragte ein Opferblock empor, ein hüfthoher Monolith aus poliertem Obsidian, etwa zwei Schritte in der Länge und einen in der Breite. Eine armdicke Platte aus dem gelben Metall, das sie ›Tränen der Sonne‹ nannten, lag darauf. In früheren Zeiten hatte man hier dem Sonnengott Inti geopfert und das Volk hatte von unten zugesehen. Nun war Xiomara, die Schwester der Sonne selbst herabgestiegen, um die Opferungen entgegenzunehmen. Auf dem Block lag eine Decke aus der Wolle der edelsten Alpakas, die mit glänzenden Fäden aus den Tränen der Sonne durchzogen war. Hier würde Königin Xiomara dem Kampf zusehen.

Tika hatte den Krug mit dem Trank bis zum letzten Tropfen geleert, als man sie auf den Platz geleitete. Allein stand sie zwischen den einschüchternden hoch aufragenden Mauern, sah hinauf. Dort oben sah sie einige Mitglieder von Xiomaras Hofstaat, die zusehen würden. An den Seiten des Platzes standen junge Krieger, die den Kampf bewachten. Man hatte ihnen Abwehrzauber auf die Haut gezeichnet und sie trugen Yakullas, Toga-ähnliche Kleidungsstücke aus Alpakawolle, in die Zauber eingewebt waren, damit sie nicht durch Magie beeinflusst werden konnten. Jeder trug einen runden Schild aus Tränen der Sonne und zwei armlange Wurfspieße, deren Spitzen ebenfalls aus dem gelben Metall gefertigt und somit immun gegen jegliche Magie waren.

Plötzlich erschienen weitere Soldaten auf der Plattform, stiegen die Treppe hinab und bauten sich davor auf. Die Höflinge oben auf den Mauern strafften sich und Xiomara erschien. Sie war eine schöne Frau, groß, von schlanker Gestalt. Ihr langes schwarzes Haar war kunstvoll geflochten und schimmerte bläulich. Auf dem Kopf trug sie eine Krone aus Tränen der Sonne und leuchtend bunten Vogelfedern. Sie war reich geschmückt mit kunstvollen Halsketten, Armreifen und Ohrringen und gekleidet in ein dunkelblaues Gewand.
Stumm schaute sie hinab auf Tika, musterte sie eingehend.
»Wie alle Layqa des Tahuantinsuyo wirst auch du gegen Guacane, meinen machtvollsten Magier bestehen müssen,« begann Xiomara ohne Umschweife und ihre Stimme hallte von den Wänden, »Weil du dich noch nicht zu mir oder gegen mich bekannt hast, wird dieser Kampf nicht nur dazu dienen, deine Stärke und deine Fähigkeiten zu erkennen, sondern er wird auf Leben und Tod ausgetragen. Es sei denn, du schwörst mir Gefolgschaft. Eine Lüge werde ich bemerken und dich ohne Zögern vernichten.«

Ein großer Stein schob sich knirschend hinter den Soldaten zur Seite und gab eine Öffnung frei. Ein Mann erschien. Er war reich geschmückt, trug ein weißes, einfaches Gewand mit farbenfrohen Ornamenten. Guacane. Tika nahm seine Kraft und die selbstsichere Aura deutlich wahr, als er ohne Eile den Platz betrat und die Grausamkeit in seinen Augen wurde nur von der Grausamkeit im Blick der Königin übertroffen.
Sogleich spürte sie, wie sie abgetastet wurde, Guacanes Augen wanderten an ihr hinab, routiniert, fast beiläufig, wie ein Schlachter ein Lama abtastet, um die besten Stücke Fleisch zu finden. Leicht streifte sie diese Blicke ab. Dann stieß sie ihn zurück. Er schwankte ein wenig und hob überrascht die Brauen. Er hob die Hand, schien etwas zu greifen und Tika spürte eine Hand um ihr Herz, sie erschrak – dieser Mann war wirklich sehr mächtig. Sie kreuzte die Unterarme vor der Brust und murmelte etwas. Der Griff um ihr Herz verschwand. Guacane lächelte, dann stieß er mit den Fingern beider Hände nach vorne. So etwas hatte Tika nach dem Griff an ihr Herz erwartet und ließ ihren Körper brennen. Es waren keine sichtbaren Flammen, doch Guacane schrie überrascht auf und zuckte zurück. Seine Augen blitzten wütend und er warf ihr all seine Kraft wie einen Sturmwind entgegen. Sie rang nach Luft, spürte ein unerträgliches Ziehen und Biegen an ihren Knochen, an ihrem ganzen Körper, dass sie Mühe hatte, standzuhalten. Sie schrie auf und noch während sie die Macht Guacanes Stück um Stück zurückdrängte, begann sie einen lautlosen Gesang, stampfte rhythmisch mit den Füßen in einem Tanz, den man für das Ringen um Gleichgewicht unter dem Ansturm von Guacanes Angriffen halten konnte. Sie rief Pachamama, die Erdmutter.

Es war nicht abzusehen, wer stärker war, kaum dass sie sich seinem schmerzhaften Biegen an ihrem Rückgrat entwunden hatte, fühlte sie einen schmerzhaften Druck auf ihren Augen, sie sprengte diesen Druck und presste ihrerseits seine Lungen zusammen. Lange würde sie sich nicht mehr halten können doch da, endlich fühlte sie, dass Pachamama ihr Bitten gehört hatte. Sie fühlte den Zorn der Erdmutter über die Ungerechtigkeit und Grausamkeit von Xiomaras Herrschaft in sich aufsteigen. Sie zitterte unter dem Ansturm der Macht, der sie auszufüllen begann. Keiner der Angriffe Guacanes konnte ihr nun noch etwas anhaben, obwohl sie unkontrolliert zitternd dastand und sich nicht wehrte. Die ungeheure Kraft der Erde füllte jede Faser des Körpers der jungen Frau und ließ Guacanes Angriffe an diesem zerbrechlichen Gefäß abprallen. Sie fiel in einen Taumel aus Ganzheit und Einklang mit der Welt, aber auch von vernichtendem Zorn und es drohte sie jeden Augenblick zu zerreißen. Im letzten Moment, als sie es nicht mehr aushielt, warf sie beide Arme ihrem Widersacher entgegen und ließ all diese Kraft über ihn hereinbrechen. Der Zorn der Erde entlud sich wie so oft in diesen Bergen in einem verheerenden Erdrutsch, einem Huayco. Diesmal waren es nicht leblose Steine, die sie gegen die Menschenkinder schleuderte, sondern allein ihre für menschliche Augen nicht sichtbare Kraft, gelenkt von Tika, der Magierin. Guacane wurde von den Füßen gerissen und zu Boden geschleudert. Die Erde bebte, die steinernen Bodenplatten krachten, unsichtbare Felsen polterten über seinen Körper hinweg und zermalmten ihn. Der Ansatz eines Schreies kam von seinen Lippen, ging aber in einem blutigem Gurgeln unter. Seine Knochen brachen mit schaurigen Geräuschen, Blut schoss aus seiner Nase, seinen Augen. Xiomara war aufgesprungen und sah hinab.

Erschöpft sank Tika auf Hände und Knie. Sie schloss die Augen, atmete schwer, während sie fühlte, wie Pachamama zu ihr sprach. Schließlich kniete sie aufrecht und hob den Blick. An der niedrigen Mauer lag der zermalmte Leib Guacanes mit gebrochenen und grotesk verrenkten Gliedern. Blut lief aus zahlreichen Wunden und wurde vom Boden aufgesogen, noch bevor es einen roten See um den Körper bilden konnte. Pachamama nahm es als geringe Wiedergutmachung vom Handlanger der grausamen Königin. Doch sie war noch nicht zufrieden …

Xiomara war an die Treppe getreten. Die goldenen Verzierungen am Kleid der Herrscherin glänzten im Sonnenlicht, als sie Tika zu sich befahl.
»Komm herauf, Kind der Berge«, sprach sie, »Komm herauf zu mir, sage mir woher du kommst und nenne mir deinen Namen. Du hast Guacane besiegt, den mächtigsten Magier des Reiches. Nun musst du seine Stelle einnehmen und mir Gefolgschaft leisten. Verschwende deine Kraft nicht an die niedrigen Bedürfnisse des einfachen Volkes!«

Tika erhob sich und ging mit noch immer unsicheren Schritten zu der Treppe, die zu Xiomaras Thron hinaufführte. Die Reihe der jungen Krieger öffnete sich und ließ sie passieren. Mit jeder Stufe erlangte sie etwas von ihrer Kraft wieder, ihr Geist wurde klarer. Nun stand ihr die letzte Aufgabe bevor und sie fühlte die gespannte Erwartung der Erdmutter unter ihren Füßen. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Plattform, auf der Xiomara sie erwartete. Sie holte tief Luft und griff in ihr Gewand. Mit einem glänzenden, kupfernen Hirtenmesser kam ihre Hand wieder zum Vorschein, sie beschleunigte ihre Schritte.
»Närrin! Weißt du nicht, dass mir eure Waffen nichts anhaben können?« rief Xiomara ärgerlich und ihre schwarzen Augen funkelten. Sie machte eine Handbewegung, so als wollte sie eine lästige Fliege verjagen, ihre Armreifen klirrten dabei. Das Messer wurde aus Tikas Hand gerissen und wirbelte davon, in den Nebel jenseits der Mauern.

Doch Tika hielt nicht inne. Wollte sie die mächtige Magierin tatsächlich mit bloßen Händen angreifen?
Als Tika sich weiter näherte und sie nur noch zwei Stufen von der Herrscherin trennten, gab diese den Soldaten ein Zeichen. Tika zuckte zusammen, ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und sie schwankte. Nun zeigte der Trank seine Wirkung. Der Wurfspieß des Soldaten hatte sie in die Seite getroffen und ihr Gewand färbte sich rot – Tika starb, aber die Tränke hielten ihren Körper am Leben und bannten ihren unbändigen Willen in das sterbende Fleisch. Ein weiterer Spieß traf sie, doch sie war bereits bei der Herrscherin. Die Soldaten stürmten die Treppe herauf. Tikas Hände packten den Spieß in ihrer Seite, rissen ihn heraus. Xiomara versuchte ihrer Angreiferin mit einem Zauber die Waffe aus den Händen zu reißen, wie sie es schon mit dem Messer getan hatte, doch es gelang ihr nicht. Tika durchbohrte die ungläubig starrende Herrscherin. Die goldenen Waffen waren immun gegen jegliche Magie – auch gegen ihre eigene.

Xiomara hatte die Hände abwehrend ausgestreckt, versuchte Tika, die nun nicht mehr lebendig aber auch nicht tot war, zurückzustoßen. Sie strauchelte und fiel rücklings auf den Opferblock. Tika hatte einen weiteren Wurfspieß aus ihrem Körper gerissen und war nun über ihr.
»Wer bist du, dass du die Schwester der Sonne tötest?« brachte Xiomara mit letzter Kraft hervor.
»Ich komme aus Huancarupac, einem Dorf, das Ihr vor 200 Jahren vernichtet habt. Mein Name ist Tika.«
Sie trieb den zweiten Spieß durch die Brust der Herrscherin. Xiomara schrie und endlich, nach über dreihundert Jahren begann das Sterben der grausamen Tyrannin.
Der erste Soldat erreichte den Thron und durchbohrte Tikas Herz. Es schlug bereits nicht mehr, doch sie erkannte, dass ihre Aufgabe nun erfüllt war – Xiomara starb, ihre Herrschaft war zu Ende und nun konnte auch sie diese Welt verlassen. Sie sank leblos auf die sterbende Herrscherin.
Xiomara riss ein letztes Mal die Augen auf.
»Eine Blume von einem vergessenen Ort …« hauchte sie – denn in der Sprache jenes Reiches, in dem sie selbst vor vielen Generationen aufgewachsen war, das sie eigenhändig unterworfen hatte, bedeutete Tika nichts anderes als Blume.
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Themenersteller 
Weil euch der schwarze Amor anscheinend gefallen hat, habe ich diese schon vor längerer Zeit angefangene Geschichte heute nacht zu Ende geschrieben.

Auch Hertas Historik-Trip hat mir da einen Anstoß gegeben, Danke *g*

»Eine Blume …« war eine der drei Ideen für den Wettbewerb mit dem Thema »Wettkampf der Magier«, für den ich auch »Wie man in den Wald hineinruft …« geschrieben habe.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
*bravo* und jetzt ist mir beim Lesen der Kaffee kalt geworden, so hat mich diese Blume in ihren Bann gezogen.


Es freut mich, wenn mein Historik-Ausflug dazu beigetragen hat, dass du die Geschichte fertigstellst.


*kaffee* Herta
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Themenersteller 
Schläfst du eigentlich auch mal? Jetzt kriege ich wirklich Angst vor dir

*angsthab*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Doch, ich habe sechs Stunden geschlafen und nun bin ich wieder fit. Und was ist mir dir? Wann schläfst du? *ggg*

Magst du Kaffee? Ich habe eine große Kanne hier vor mir stehen *smile*

*kaffee* Herta
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Themenersteller 
Ich geh jetzt erst mal schlafen *g* Bis später
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
Große Klasse!

Mir gefällt diese Geschichte ausnehmend gut ...

(Der Antaghar)
*******ose Frau
793 Beiträge
Schließe mich an, deine Geschichte hat auch mich total in ihren Bann gezogen. Sulpayki!

Magic_Rose
So wird Geschichte lebendig!

Ich bin total begeistert!!!!! *spitze* *top2* *bravo*
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Themenersteller 
Danke euch!

*freu2*

"Sulpayki"? Da muss ich doch glatt nochmal das Wörtebuch rausholen ...
*******an_m Mann
3.834 Beiträge
Themenersteller 
Imamanta, magic_rose *zwinker*
WOW!
Ich bin schwer beeindruckt und begeistert!
Du schreibst absolut fesselnd!
*******ose Frau
793 Beiträge
@christian_m
... und damit hören meine Kenntnisse dieser Sprache leider auch schon wieder auf...

Diese alten Hochkulturen, von denen wir ja leider immer noch viel zu wenig wissen (vielleicht weil sie höher waren als unsere heute?), die starke Verbindung der Menschen damals zur Erde, ihre Spiritualität, ihre Weisheit... All das finde ich einfach beeindruckend und magisch...

Lieben Gruß
magic_rose
*****har Paar
41.021 Beiträge
JOY-Team Gruppen-Mod 
@ magic_rose
vielleicht weil sie höher waren als unsere heute?

Höher waren die Kulturen damals vielleicht nicht (wir können es nicht wirklich wissen, aber sie hatten sicher weit mehr drauf, als wir ahnen).

Aber sie waren (wie manche auch heute noch lebenden Naturvölker) auf jeden Fall näher an Mutter Erde - und durch ihre Naturverbundenheit, durch ihre innere Verbundenheit mit allem, in vielen Bereichen sicher wesentlich herzvoller und weiser als wir.

*roseschenk*

(Der Antaghar)
gut, dass du das zu einem so gekonnten Ende gebracht hast! *zwinker*
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