Verwirrte Zeiten
Diese verfluchten Lianen machen mich wahnsinnig. Hier ist kaum ein Durchkommen. Warum müssen wir diese veralteten Werkzeuge benutzen?“
„Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir beobachtet werden. Die Scans waren nicht eindeutig. Und nun Schluss mit dem Gemaule und weiter!“
Energisch wischte Ruth sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und machte sich erneut an die Arbeit. Schritt für Schritt legten sie den zugewucherten Weg frei und kämpften sich in die Richtung auf die Lichtung vor. Nach ermüdenden drei Stunden kamen sie endlich an. Die vom Urwald überwucherte Maschine wirkte wie eine bizarre Freiplastik. Die dicke, grüne Matte hatte sich mit den rostenden Überresten, Stofffetzen und brüchigen Kunststoffteilen zu einem eigenartigen Gesamtkunstwerk verbunden.
„Ist es das?“ fragte Phil mit heiserer Stimme. Fast zögerlich machte er einen ersten Schritt auf das Ungetüm zu. „Ist das der Motorspatz?“
Ruth griff zu seiner Schulter und zog ihn zurück. „Vorsicht. Denk an die Checkliste. Erst die Dokumentation der Fundsituation. Dann geht es Schritt für Schritt weiter.“
„Die müssen Sesselfurzer am grünen Tisch ausgeheckt haben. Wir stehen hier und sollten die Sache möglichst rasch klären.“
Ruth seufzte. Natürlich hatte Phil nicht Unrecht. Die Umweltbedingungen waren grausig, der See durchwuchert von giftigen Algen, und der nahe Fluss führte Hochwasser. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Wassermassen sie erreichten. Andererseits war dies eine einmalige Chance für die lückenlose Aufklärung der Ereignisse vom 17. Februar 1957. Und die Dokumentationskontrollstation würde mit buchhalterischer Genauigkeit jeden ihrer Schritte überprüfen.
„Wir halten uns an die Checkliste“, erklärte sie lapidar. „Stell die Drei-D-Kamera auf und los. Ich mache inzwischen den Raumzeitcheck.“
Phil fügte sich. Konzentriert arbeiteten sie ihre Schritte ab. Dann näherten sie sich dem Objekt. Die Nase hatte sich in den weichen Boden gerammt, die Propellerblätter waren abgebrochen, der eine Tragflügel lag geknickt am Boden, der andere streckte sich mahnend gen Himmel. Das Heck stand hinten in die Höhe. Offensichtlich hatten die Heckruder den Aufprall überlebt. Nachdem sie sich durch einen wiederholten Umgebungsscan davon überzeugt hatten, dass sie allein waren, griff Ruth in ihren Rucksack und holte den Materiedisruptor hervor und programmierte ihn auf Zellulose mit Chlorophyl. Mit leisem Zischen löste sich die grüne Matte auf und gab den Blick auf den Motorsegler frei.
„Das ist er,“ flüsterte Ruth, „das ist der Prototyp des Scheibe SF 24 mit seinem 18 PS-Wankelmotor. Wir dokumentieren ihn erneut, bevor wir ihn durchsuchen. Vielleicht finden wir eine Spur von ihm.“
„Sieh nur!“, flüsterte Phil zurück. „Er hat zwei Sitze.“
„Den zweiten hat man für das Serienmodell abgeschafft. Es gab Probleme mit der Gewichtsverteilung. Dieses Modell hier hat offiziell nie existiert.“
Routiniert setzte Ruth ihre Scans fort. „DNA von zwei Personen, männlich. Die Person auf dem Vordersitz, aller Wahrscheinlichkeit nach der Pilot, war blond. Es gibt Anzeichen, dass er später an Zungenkrebs gestorben wäre, wäre das hier nicht passiert. Die Person auf dem Rücksitz war definitiv schwarzhaarig. Es gibt Hinweise auf massiven Alkoholmissbrauch.“
„Blond? Das könnte Meier sein“, murmelte Phil und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. „Verfluchte Hitze. Aber wer verflucht ist der andere? Er ist doch allein gestartet.“
„45 Grad Celsius bei 98 Prozent Luftfeuchtigkeit. Es ist kein Wunder, dass wir schwitzen. Wir sind Außenaufenthalte einfach nicht gewohnt. Ich schlage vor, wir markieren die Maschine und leiten den Transport ein. Sollen die Archäologen sich damit beschäftigen. Dann versuchen wir, die DNA-Spuren zu verfolgen.“
Phil setzte die Markierungsbojen und aktivierte den Materie-Antimaterie-Transmitter. Sie traten an den Rand der Lichtung zurück. Ein Flirren, ein Surren und die Maschine war verschwunden. Lediglich die Abdrücke im Moos wiesen darauf hin, dass sie hier gestanden hatte.
„Es ist wirklich kaum zu glauben, dass die Maschine in nur zwei Jahren so zugewuchert werden konnte,“ grübelte Phil.
„Es ist eben so. Und nun lass uns die Messgeräte mit Ausnahme des DNA-Sequenzers und des Raumzeitcontrollers verstauen. Wir wollen doch keine Unruhe“, entgegnete Ruth.
Jeder mit seinem Gerät in der Hand, machten sie sich auf, der Spur zu folgen. Sie führte eindeutig nach Norden, weg vom See und vom Fluss. Plötzlich piepte ein Alarm. Irritiert tippte Ruth auf dem Controller herum.
„Es wird immer ominöser,“ sagte sie. „Ich bekomme die Anzeigen 1886 und 1957 gleichzeitig.“
„Wie ist das möglich?“ fragte Phil, dem es plötzlich eiskalt den Rücken herunter lief.
Ruth tippte weiter auf dem Controller herum. „Die Anzeige ist eindeutig. Es muss sich um eine bipolare Zeitblase handeln.“
Während sie darüber diskutierten, ob dieses bisher nur theoretisch beschriebene Phänomen tatsächlich existieren könnte, erreichten sie einen massiven Torbogen aus Holz, der einfach mitten im Urwald stand und den schmalen Weg überspannte. Daran befestigt war eine Schiefertafel, auf der in Sütterlin und mit Kreide die Worte „Chiemgau-Kolonie“ geschrieben waren. Entgeistert sahen sich die beiden an. Doch fast gleichzeitig nickten sie entschlossen und gingen durch das Tor.
„Wir sind durch,“ sagte Ruth. Die temporale Anomalie ist vorbei. Das hier ist eindeutig und ohne Zweifel das Jahr 2210.“
„Lass und die Nummer vergessen,“ krächzte Phil. Wenn wir die erzählen, werden wir weggesperrt!“
„Ich fürchte, dafür ist es zu spät,“ antwortete Ruth und wies auf eine kleine Hütte, die zwischen zwei Palmen stand. Auf einem aus Bambusrohr geflochtenen Stuhl saß ein Mann mit schulterlangem, schwarzen Haar, der eine blaue Uniform trug. Vor ihm stand ein in brüchiges Leder gekleideter, blonder Hüne und rezitierte das Nibelungenlied.
© sylvie2day, 10.03.2010