Die Eisblumen-Prinzessin (5)
Gleichmäßigen Schrittes folgten die Freunde der engen Rinne, die ihnen steil und eindeutig den Weg nach oben wies. Die Wände waren glatt, das war deutlich zu spüren, denn sie waren gezwungen, sich ihren Weg so zu ertasten. Schritt für Schritt und unaufhaltsam, so wie Astra'Lun es ihnen geraten hatte, stiegen sie schweigend empor zum Kamp der tanzenden Sonnenblumen. Ein unsichtbares Grollen lag in der Luft. Kat'Ar spürte eine Beklemmung, die nichts mit Angst zu tun hatte. Unaufhörlich eilte er vorwärts. Tem'Bak blieb dicht hinter ihm. Nur ein gelegentliches Röcheln zeigte, dass dem Alten der steile Weg schwer fiel. Kat'Ar hörte es wohl, doch er gedachte der Mahnung der Herrin.
„Warum wohl wird der Weg bald nicht mehr existieren?“
Kat'Ar erschrak, denn er hatte die Frage laut ausgesprochen. Nun stand sie im Raum, ohne dass er eine Antwort finden konnte. „Weißt Du es, Tem'Bak?“, fragte er darum weiter.
Der Alte räusperte sich, unentschlossen, ob er offen reden sollte oder nicht. Dann aber siegte die Wahrhaftigkeit über die Angst. Während er weiter rasch ausschritt, berichtete er:
„Du hast die Jungfrau und die Schwiegermutter erahnen können, bevor wir diesen Weg betraten. Die Legende besagt, dass die Jungfrau nur den heiraten wollte, der ihr einen goldenen Granatapfel bringt, dessen Kerne aus Perlen bestehen sollten. Viele Jünglinge wagten sich an die Suche, doch lange war keiner erfolgreich. Schließlich kam Usamb'Ala, der sich gewandet hatte als Prinz von Mähn'Eta, dem Lande der Karfunkeljäger. Er wurde begleitet von Blu'Esra, der blauhäutigen Hexe von Pann'Ika. Diese hatte ihre verräterische Farbe verborgen durch geheime Künste und sprach, sie wäre die Mutter des Prinzen, gekommen die Jungfrau zu schützen, während ihr Sohn unterwegs sei, den Granatapfel zu holen.“
Ein rauer Husten unterbrach seine Rede und schüttelte seinen gebeugten Körper durch.
„Schone Dich, alter Freund“, entgegnete Kat'Ar. „So wichtig können die alten Legenden nicht sein, dass Dir über ihnen die Luft wegbleibt.“
„Wenig genug Zeit bleibt mir, Dir das alles zu berichten. Aber es ist nun einmal so, dass ich es sagen muss“, antwortete Tem'Bak.
„Oben auf dem Kamp werden wir rasten, dann magst Du erzählen, was damals geschah.“
„Es ist schnell genug erzählt. Die Jungfrau lebte oben auf dem Kamp, umgeben von den Blumen und die Alte bewachte sie. Usamb'Ala brachte den Apfel, doch statt mit Perlen war mit giftigen Kugeln gefüllt, die das tugendhafte Mädchen betäuben sollten. Er wollte sie in seinen Palast bringen, damit sie seinen Sohn gebäre. Er kam also mit dem giftigen Apfel und reichte ihn ihr. Im gleichen Moment aber betrat Trap'Per den Kamp von der anderen Seite und rief ihr eine Warnung zu. Sie ließ den Apfel fallen und floh die Rinne hinab. Die Alte folgte ihr. Was die Steingeister taten, das weiß ich nicht, aber seit jenem Tag stehen die Jungfrau und Blu'Esra rechts und links des Eingangs zur Rinne. Es entbrannte ein Kampf zwischen den beiden Männern, der geführt wurde mit aller Macht, derer sie habhaft waren. Dein Vater war damals noch ein junger Mann und noch nicht im Besitz aller Geheimnisse. Trotzdem gelang es ihm Usamb'Ala zurück zu drängen und ihm den Weg hinab zu versperren. Der jedoch ließ seine Armee der Schlangen hervortreten und Trap'Per musste weichen. Zuvor aber bemühte er einen Zauber, der den Granatapfel anschwellen ließ. Seitdem liegt er am oberen Eingang zur Rinne und man sagt, er würde zur rechten Zeit, seine Kugeln den Weg herab rollen lassen, um die Alte an der Rückkehr zu hindern.“
„Woher weißt Du das alles?“ fragte Kat'Ar, der unwillkürlich seine Schritte weiter beschleunigte.
„Weil ich damals der Reitknecht Deines Vaters war. Doch statt ihm zur Seite zu stehen gegen den Herrscher der Unterwelt, floh ich feige in die Wälder. Dort wurde ich Kautschuk-Sammler im Dienste der Eisblumen-Prinzessin, sang das Hohelied auf ihre Schönheit, schwor ihr ewige Gefolgschaft und verriet sie doch.“
„Deine Selbstanklage ist voller Bitterkeit, mein Freund. Niemand weiß, wie der Kampf ausgegangen wäre, hättest Du damals mit meinem Vater gefochten. Vielleicht wäret Ihr beide tot und ich niemals geboren. Wer sollte dann diesen Kampf hier führen?“
Obwohl die Zeit drängte, blieb er doch einen Augenblick stehen und ergriff Tem'Baks Hand. „Hast Du wirklich geglaubt, ich würde Dir zürnen, weil Du vor langer Zeit einmal eventuell einen Fehler begangen hast?“
Ein lautes Klackern unterbrach seine Worte. Unaufhaltsam kollerten die ersten Kugeln die Rinne hinab. Ra'Ab krächzte erschrocken auf und flatterte über dem Kopf seines Herrn. Mauza'Ga bemühte sich vergebens, ihren Platz auf der Schulter zu behalten, denn Kat'Ar war geistesgegenwärtig über die erste Kugel hinweg gesprungen. Er raffte seine kleine Freundin wieder auf und hielt sie mit beiden Armen fest. So stieg, kletterte und krabbelte er über die kullernden Kugeln, geleitet vom Krächzen des Vogels, dessen Flügelschlag ihn weiter leitete. Schließlich stolperte er mehr als er stieg an dem geöffneten Apfel vorbei, aus dessen Inneren sich die Kugeln ergossen. Erschöpft ließ er sich auf den Boden sinken und holte ringend nur Luft. Tem'bak plumpste neben ihn.
„Das hätten wir gerade noch geschafft“, japste er, während er sich die schmerzenden Knöchel rieb. Kat'Ars Antwort ging im Getöse der Steinlawine unter, die sich mit lautem Poltern in die Rinne ergoss, bis diese vollständig gefüllt war. Der sich senkende Staub machte sie alle husten und schnauben.
Schließlich ließen Staub und Lärm nach, machten Platz für ganz andere Geräusche. Ein unverständliches Raunen erfüllte den Platz, schwoll an zu etwas, das weder Gesang noch Gespräch war, und sorgte mit hohem Pfeifen für Unbehagen bei den Freunden.
„Was ist das?“ fragte Kat'Ar.
„Das,“ antwortete der Alte, „ist die Sprache der Elfen, die in den Sonnenblumen wohnen und sie zum Tanzen bringen.“
„Wir sollten mit ihnen reden. Vielleicht können sie uns sagen, was mit der Prinzessin geschah.“
„Das hat noch keiner geschafft. So weit die Erde reicht, gibt es niemanden, der ihre Sprache spricht.“
„Vielleicht,“ entgegnete Kat'Ar, „verstehen sie die unsere. Einen Versuch ist es wert.“
Er stand auf, wandte sich dem Raunen entgegen und verbeugte sich mehrfach in alle Richtungen.
„Guten Tag, verehrte Elfen auf dem Kamp der tanzenden Sonnenblumen. Mein Name ist Kat'Ar, Sohn des Trap'Per und ich bin mit meinen Freunden hierher gekommen, um die Eisblumen-Prinzessin zu finden. Wir müssen in dieser Dunkelheit den Kamp queren, um zur unsichtbaren Brücke zu gelangen. Da wir nun besorgt sind, die Sonnenblumen aus Versehen zu zertreten, wären wir sehr dankbar, wenn wir Hilfe von Euch bekämen auf unserem Weg.“
Das Raunen verstummte und machte einem leisen Surren Platz. Tausende von aus Nebel gewebten Flügelchen flatterten und Tausende von winzigen Lichtpunkten bildeten zwei Ränder eines vielfach geschlungenen Pfades. Kat'Ar nahm seine Freunde auf die Schultern, der Alte hielt sich dicht hinter ihm und behutsam schritten sie zwischen den wogenden Blumen dem Abgrund entgegen.
© sylvie2day, 22.11.2009