Die Acht Worte des Terrors

»…Verstehen Sie? Es waren keine 24 Stunden! Nicht einmal 24 Stunden, Doktor Leid!«
»Sie werden wieder kursiv, Herr Maerschmied. Immer wenn sie sich aufregen, werden Sie kursiv. Ist Ihnen das bewusst?«, fragte der Doktor mit sanfter Stimme und strich über seinen grauen Bart.
»Wundert Sie das? Wochenlang ernähre ich mich von Buchstabensuppe und ›russisch Brot‹, Sie wissen schon, das mit den Buchstaben – ich habe sogar schon überlegt, mir Microsoft Office zu leisten! Wegen Word. Word – Wort, Sie verstehen, aber wenn man mit Word längere Texte schreiben könnte, müßte es ›Phrase‹ oder ›Text‹ heißen…«
»Softwareprobleme sollten Sie mit jemand anderem besprechen. Ich geb' Ihnen mal die Nummer meines Schwagers…«
»Schon gut, schon gut. Aber stellen Sie sich das doch mal vor – Buchstabensuppe, jeden Tag, ich schlafe mit einem Wörterbuch statt einem Kopfkissen – ich mein', ich schlafe nicht mit dem Wörterbuch, also eigentlich schon, aber halt nur wie mit einem Kopfkissen… Is' ja auch egal. Jedenfalls am Montag, noch vor dem Frühstück, werfe ich den Computer an, logge mich ein – und dann sind da schon zwei Geschichten! Zwei Geschichten! Von der mit dem Matrix-Nick und der Tanzmaus! Brillant geschrieben, dabei jedesmal kürzer…!,«
»Sie werden wieder kursiv, Herr Maerschmied.«
»Entschuldigung…«
»Und was genau stört Sie daran?«
»Was genau mich daran stört?«
»Kursiv.«
»Sehen Sie's denn nicht? Schnelle, kleine Entladungen, die große Wirkung haben – sagt Ihnen das nichts?«
»Nun, ich kann da leider…«
»Das ist männliches Terrain, was die da okkupieren! Männliches Terrain!«
»Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter, Herr Maerschmied?«
»Lassen Sie meine Mutter da 'raus. Merken Sie es denn nicht? Sie nehmen uns immer mehr weg! Immer mehr! Ich sag' nur Bundeskanzlerin.«
»Sie müssen sich beruhigen, Herr Maerschmied. Denken Sie an das, was ich Ihnen in der letzten Sitzung beigebracht habe. Wenn Sie möchten, sagen wir es gemeinsam…«
»Neinnein, geht schon. Also: ›Ich bin ein großer, starker Autor. Ich muss keine Angst vor nichts haben. Worte sind meine Freunde. Meine Freunde mögen mich und ich mag meine Freunde.‹«
»So ist Recht, Herr Maerschmied. Sehr schön.«
»Finden Sie nicht, dass dieses »keine Angst vor nichts« eine doppelte Negation ist und dass ich dann vor allem Angst haben muss?«
»Wir können das gerne zusammen umformulieren. Machen Sie dafür beim 'rausgehen mit Sylvia einen Termin.«
Dr. Leid schraubte seinen Füllfederhalter zu, schloss seinen Notizblock.
»So, Herr Maerschmied, die Zeit ist mal wieder um. Ich habe das Gefühl, wir sind ein Stück weiter gekommen. Sie nicht auch?«
»Ich sehe die Dinge jetzt etwas entspannter, das stimmt schon. Und irgendwie glaube ich dass heute der Tag ist – heute fällt mir etwas zu diesen acht Worten ein.«
»Das freut mich, Herr Maerschmied. Und nächstes Mal reden wir darüber, dass Sie alles so schnell auf das Sexuelle beziehen. Ich glaube, da haben Sie einiges aufzuarbeiten. Auf Wiedersehen. Sie finden allein 'raus?«
»Natürlich. Auf Wiedersehen, Doktor Leid.«

Dr. Leid ließ sich in den Sessel sinken, sah nachdenklich durch das Fenster. Dann drückte er einen Knopf an der Sprechanlage auf dem Tisch und fragte: »Sylvia? Sind noch Patienten da?«
»Nein, Dr. Leid, das Wartezimmer ist leer« kam die Antwort aus dem Lautsprecher.
»Was ist mit den armen Würs–, mit den beiden, die sich gestern angemeldet haben?«
»Die haben angerufen und gesagt, ihnen wäre doch noch was eingefallen und haben die Termine gecancelt.«
»Gut. Sie können dann Feierabend machen, Sylvia. Und schließen Sie hinter sich ab.«
»Danke, Dr. Leid. Einen schönen Feierabend wünsche ich.«

Dr Leid hörte, wie die Tür zur Praxis ins Schloss fiel und das Schloss klackte.
Er hob das Kinn, nestelte unter dem grauen Vollbart am Kragen seines Hemdes. Das reißende Geräusch eines Klettverschlusses war zu hören. Dr. Leid zog die dunkelblaue Weste samt Hemdbrust von sich. Darunter kam ein schwarzes, korsettartiges Kleidungsstück mit Schnappverschlüssen aus Plastik zum Vorschein. Er öffnete einen der Verschlüsse nach dem anderen.
Zwei üppige Brüste in einem engen T-Shirt sprangen hervor und fanden schnell zu ihrer natürlichen Form zurück.
Dr. Leid nahm den Bart vom Gesicht, die Perücke vom Kopf und schüttelte eine lange, schwarze Mähne frei.
Sie räusperte sich.
»Ich muss damit aufhören. Nein, Moment…« sie räusperte sich noch einmal, »jetzt ist meine Stimme wieder die alte. Ich muss diese Patienten echt abgeben, das wird mir langsam zu viel«, murmelte sie.
Nachdenklich wog sie ihren ausladenden Busen in den Händen.
»Ich könnte mit der Zungenspitze meine Nippelchen ein bischen… ihr wart wieder solange eingesperrt, ihr armen…«, gurrte sie.
Sie hielt inne.
»Nein, ich glaube, das wäre noch ein bischen viel für den armen Schreiberling. Das machen wir, wenn wir seine erotische Obsession besprochen haben.«
Sie stellte ihren Laptop vor sich auf den Tisch, richtete ihn sorgfältig, fast schon liebevoll auf der Schreibunterlage aus.
»Aber jetzt zum Vergnügen.«
Der Browser war natürlich im Autostart-Ordner.
Sie tippte: http, doppelpunkt, doppelslash, kurzgeschichten.joyclub.de/…