Koi
Gestern mittag hatte Rebekka Bächerlaub bei Nieselregen in Frankfurt eingecheckt.
Umsteigen für Anschlussflüge in Amsterdam und Houston; sie war bereits mehr als 30 Stunden unterwegs.
Ihr dunkelblaues Business-Kostüm, das ihre Kurven perfekt unterstrich, war verschwitzt und zerknittert.
Ihre halblangen blonden Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt, ihr Make up kurz vor der Aufforderung zum Anschnallen aufgefrischt.
Beim Landeanflug auf Corpus Christi schimmerte unter ihr der Golf von Mexico in der Nachmittagssonne.
Ihr berufliches Spezialgebiet hatte sie in diese
Gestade verschlagen, ein lukrativer Auftrag, dessen Verlockung sie, trotz der damit verbundenen Umstände, nicht widerstehen konnte.
Es sprang ein ordentliches Tagesfixum dabei heraus sowie eine Erfolgsprämie.
Auch die Kosten für den Flug hatte ihr Auftraggeber übernommen; Unterbringung und Verpflegung waren inklusive; außerdem sollte eine Limousine mit Chauffeur zu ihrer freien Verfügung stehen.
Beim Verlassen der Maschine schlug ihr die Hitze entgegen. Sie entledigte sich ihrer Kostümjacke, die weiße, transparente Bluse war schnell durchgeschwitzt. Die Gepäckausgabe erfolgte erfreulicher Weise erstaunlich zügig.
Der Rolls Royce von Paul Huchinson erwartete sie bereits vor dem International Airport.
Als sie sich dem Fahrzeug näherte, stieg der Chauffeur aus, ein hochgewachsener Schwarzer in schmucker weißer Livree.
Er begrüßte sie und öffnete ihr in perfekter Gentleman-Manier die hintere Tür.
Welcome Ma'am!
Sie bedankte sich und stieg in das vollklimatisierte Fahrzeug, während er ihren Koffer verstaute.
Der Rolls schnurrte durch die City von Corpus Christi, ein Stück parallel zur Nueces Bay, dann den Nueces River entlang über den Highway 37.
Nach einigen Meilen bogen sie auf die Route 77 ab.
Die Farm der Familie lag etwa 25 Meilen von Corpus Christi entfernt, außerhalb der Kleinstadt
Odem /Texas, einer 2500-Seelen-Gemeinde.
In den 30-er Jahren waren die Bewohner des San Patricio County durch die reichhaltigen Ölvorkommen des Spartan - und des Odem - Oilfield zu Reichtum gelangt.
Davon hatte auch die Familie Huchinson profitiert.
Seit Generationen konnten sie sich ausgefallene Hobbies leisten, die sich allerdings gelegentlich auch als gewinnbringend erwiesen:
Zunächst begannen sie damit, Pferde zu züchten. Sie spezialisierten sich auf wertvolle Araberpferde mit hochklassigem Stammbaum in der ganzen Welt. Ein Zweig der Familie züchtete Rhodesian Ridgebacks, deren Name ebenfalls Weltruf genoss.
Rebekka hatte sich nach einigen Semestern Tiermedizin auf die homöopathische Behandlung von Tieren spezialisiert.
In einer Praxisgemeinschaft mit einer Tierärztin praktizierte sie recht erfolgreich.
Sie wandte Akupunktur bei Hunden an und konnte erstaunliche Erfolge bei der Heilung von Entzündungen und Arthrosen bei Pferden durch die Verwendung von
Ingwer verzeichnen.
Der Grund für ihr Engagement bei Paul Huchinson lag jedoch in einer ganz anderen Spezialisierung:
Ihr Vater hatte ihr eine
Zuchtanlage mit unermesslich wertvollen Koi-Karpfen hinterlassen, inklusive seiner geheimen Behandlungsmethoden hinsichtlich dieser edlen Tiere. Er war einer weltweit verbreiteten Hauterkrankung der Tiere auf die Spur gekommen. Dabei hatte er ein geschmacks- und ge
ruchloses Mittel gefunden, mit dem er diese schleichende Seuche in den Zuchtbecken und Zierteichen bekämpfte.
Nach seinem Tod hatte Rebekka das Rezept der Zusammensetzung dieser Mixtur in den Aufzeichnungen ihres Vaters gefunden und deren Verwendung perfektioniert.
Aufgrund ihrer Erfolge wurde sie weltweit, gelgentlich auch bis ins ferne Japan von reichen Koi-Besitzern angefordert.
Sie durchquerten nun Odem entlang der Route 77, ließen die Ortschaft hinter sich. Nach einigen Meilen in Richtung Sinton bogen sie in einen gut ausgebauten Feldweg ein.
Nach wenigen Minuten näherten sie sich der Farm.
„Hazienda“ oder „Parkanlage“ wäre als Bezeichnung für das Anwesen der Huchinsons wohl treffender gewesen.
Hohe Bäume säumten die Zufahrt, versperrten zunächst den Blick auf das Wohnhaus; Eichen, Buchen, Zypressen, uralte Gingko-Bäume.
Nachdem sie die automatische, schmiedeeiserne Toranlage passiert hatten, erblickte sie das Gebäude, in strahlendem Weiß, eingerahmt von mächtigen Palmen, in mexikanischer Flachbauweise.
Paul Huchinson trat aus dem Haupteingang, gekleidet in ein weißes kurzärmeliges Hemd und eine dreiviertellange, helle Leinenhose.
Er näherte sich dem Rolls Royce und öffnete ihr die Fahrzeugtür, reichte ihr seine Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
Der Chauffeur kümmerte sich um ihr Gepäck.
Sie kannte Paul Huchinson bislang nur von ihren zahlreichen Emails.
Als sie nur vor ihm stand, stockte ihr kurz der Atem, weil er so komplett dem Idealbild ihres „Beuteschemas“ entsprach.
Er überragte sie um mindestens einen Kopf und sie musste zu ihm aufblicken.
Mit dem Gefühl, in seinen braunen Augen zu versinken, senkte sie ihren Blick.
Mit einem jungenhaften Lächeln auf seinem sympathischen, gebräunten Gesicht, bei dem sie seine blendend weißen Zähne bewundern konnte, begrüßte er sie und strich dabei eine Strähne seines widerspenstigen dunklen Haarschopfes aus der Stirn.
Welcome to Huchins’ Farm, Mrs. Bächerlaub, or may I call you Rebekka?
(wie er ihren Familiennamen aussprach, klang irgendwie niedlich, wie „Bachelor“)
Seine Physio
gnomie verriet, dass er intensiv Sport trieb und seine Bräune zeugte davon, dass er sich häufig an der frischen Luft aufhielt.
Breite Schultern, kräftige Arme und Beine, gepflegte Hände, seine Nase ein wenig zu groß, seine Lippen etwas zu voll, sinnlich...
Sein Erscheinungsbild vereinte in Perfektion den texanischen Naturburschen und den vollendeten Gentlemen.
Sein Englisch klang eher britisch und gänzlich ohne den breiten texanischen Einschlag.
Sie antwortete in einem gepflegten Schulenglisch.
Thank you very much. Yes, please, call me Rebekka, Mister Huchinson..., äähh, I ment, Paul...
Sie fühlte Röte und Hitze in ihre Wangen steigen und ärgerte sich darüber.
Er bat sie hinein. Die Eingangshalle war kühl, mit Steinfliesen und weißem Verputz an den Wänden, wenig möbliert.
Ein mexikanisches Mädchen vom Hauspersonal führte sie in ihr Zimmer, geräumig, hell, mit Schränken aus gewachster Pinie und einem französischen Bett mit hellblauer Tagesdecke. Sie trat hinaus auf die Veranda und atmete tief die klare Luft.
Das gesamte Haus war geschmackvoll eingerichtet, überhaupt nicht protzig.
Beim feurig-mexikanisch geprägten Abendessen, zu dem sie das rote ärmellose Etuikleid angezogen hatte, erfuhr sie eine Menge über Paul Huchinson und seine Familie.
Als jüngster Spross des Clans war er in erster Linie mit der Verwaltung des nicht unerheblichen Vermögens betraut.
Geschieden von einer herzlosen, gierigen Ehefrau. Aus der Ehe waren keine Kinder hervorgegangen.
Seine Schwester führte die Zucht der Araberpferde fort, sein Bruder beschäftigte sich mit der Leitung des Zwingers, aus dem weltberühmte, wesensstarke Rhodesian Ridgeback Hunde hervorgingen.
Seine Eltern genossen ihren wohlverdienten Ruhestand in ihrem Altersruhesitz in Florida.
Nach dem Abendessen führte er Rebekka in sein Refugium:
Sie durchwanderten eine oberhalb des Wohnhauses terrassenförmig angelegte, traumhafte Teichanlage im Stil eines japanischen Gartens mit befestigten Steineinfassungen, kaskadenförmige Wasserfälle, Brückenkonstruktionen aus Bambus, pagodenförmigen Pavillons. Eingerahmt von Palmen, geschmückt mit asiatischen Laubbäumen und bezaubernd in Figuren geschnittenen Koniferen.
Im klaren Wasser tummelten sich die wunderbarsten Exemplaren der farbenprächtigen Spezies Nishikigoi, Brokatkarpfen oder kurz Koi.
Goldfarbene Ogon, blau-schimmernde Asagi, schwarz-rote Koromo, dreifarbige Showa und weitere faszinierd schillernde Farbvariaten.
Rebekka wusste von seiner Homepage, dass er wertvolle Zuchtexamplare besitzt, die mit mehr als 30.000 Euro gehandelt wurden.
Er strahlte, als er ihr die Anlage präsentierte.
Das Rauschen des Wassers und des Windes in den Bäumen, der
Rhythmus melodischer Vogelgesänge verzauberte sie.
Ein atemberaubender Sonnenuntergang mit einem imposanten Farbspiel in den unterschiedlichen Wolkenschichten perfektionierte die Kulisse.
Das Wolkengrau- und weiß wurde verziert von rosa bis cyclamfarbenen Schattierungen; die untergehende Sonne zauberte feurige Orange- und Rottöne in den flammenden Abendhimmel.
Flammend, wie ihr Herz. Das ganze kam ihr vor, wie ein schöner Traum.
Als Paul Huchinson sanft den Arm um ihre Schultern legte, glaubte sie zu schmelzen.
Sie freute sich unglaublich auf ihre Arbeit und die nächsten Tage.
Die lukrative finanzielle Entlohnung, die ihr winkte, war dabei zur Nebensächlichkeit geraten.
Die Existenz ihres anderen Lebens, ihres Mannes, ihrer Kinder, für eine Weile verdrängen...