Vincent III
Die Tage nach dem beunruhigenden Anruf von Nikolai Brezel verbrache Lisa fast wie in Trance. Sie ging zwar täglich ins Büro, hatte aber große Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ständig sah sie Vincent vor sich, hörte seine Stimme. Ja, sie konnte ihn sogar fühlen. Dann zwang sie sich wieder, sich abzulenken. Sie fürchtete, die Verbindung zu ihm würde noch stärker werden, wenn sie ihren Gefühlen zu sehr nachgab. Fürchtete, sie würde ihn damit noch mehr zu sich rufen. Und genau das war auch der Zwiespalt in ihr. Sie sehnte sich nach ihm, wusste aber um den Preis dieser Liebe. Und der war ihr eindeutig zu hoch.
Eines Abends war Lisa gerade zuhause auf ihrer Couch mal wieder völlig in ihre Gedanken an Vincent versunken, als ihr Telefon läutete. Es war ihre Freundin Manuela. Sie war die einzige, die alles wusste. Nur ihr hatte sie die ganze Geschichte erzählt, da sie ihr blind vertrauen konnte. "Sitzt Du? Hast Du Alkohol in der Nähe?", sprudelte es aufgeregt aus Manuelas Mund.
"Ähm, ja", antwortete Lisa zögernd, "was ist denn los? Du bist ja voll aufgedreht. Ist etwas passiert?"
"Ich war doch gestern Abend mit Eric mal wieder in diesem Club. Du weißt schon..."
Lisa seufzte, "Ach ja, klar. Und?" Lisa wusste um Manuelas Neigung, wusste, dass sie Eric "ihren Herrn" nannte. Sie konnte nicht sehr viel damit anfangen. Für Lisa käme so etwas niemals in Frage, sie stand ihre Frau im Leben, ließ sich nichts vorschreiben, geschweige denn würde sie sich jemandem freiwillig unterwerfen - niemals! Aber sie sah, dass ihre Freundin glücklich war damit. Sie war in dieser Welt voll und ganz in ihrem Element. Auch wenn sie es nicht so ganz nachvollziehen konnte, so gönnte sie ihr doch dieses Glück.
"Nun stell dir vor", plauderte Manuela aufgeregt weiter, "da hängt so ein Portrait an der Wand, mir fiel das zuvor niemals auf. Ein Portrait von einem Vincent III. von Transsylvanien. Man redet dort davon, er sei ein dunkler Fürst gewesen, ein mächtiger Herrscher. Sogar von Vampirismus reden da manche. Der sieht genau so aus, wie dein Vincent. Du hattest doch mal ein Bild von ihm gezeichnet und mir gezeigt. Der sieht wirklich genau so aus!"
Lisa stockte der Atem. Eine Kaskade an Gefühlen überrollte sie. Angst, Schrecken, Sehnsucht, Verzweiflung und Hoffnung.
"Lisa?"
"Ja... ich bin noch da. Bist du da wirklich sicher? Das kann doch auch nur eine Ähnlichkeit sein. Das wäre doch wirklich ein seltsamer Zufall, oder nicht?"
"Du musst es dir selbst anschauen. Komm mit uns heute Abend in den Club, schau es dir an."
Lisa zögerte. Sie wollte eigentlich nicht in einen solchen Club gehen. Sie war dort ja völlig fehl am Platz. Sollte sie mit ansehen, wie Menschen andere Menschen auspeitschen und quälen? Ein eiskalter Schauer durchfuhr ihren Körper.
"Lisa! Das ist dort gar nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst. Du musst mitgehen. Willst du denn weiter nur ängstlich warten, bis er womöglich plötzlich wieder vor dir steht? Oder willst du nach vorne gehen und selbst herausfinden, wer und was er ist und vielleicht eine Lösung finden!"
"Ok." Manuela hatte sie überzeugt. Widerwillig sagte sie zu. Manuela gab ihr noch ein paar Tipps, was sie anziehen könnte und sie verabredeten sich für 20 Uhr vor dem Eingang des Clubs.
Als sie den Club betraten, umfing die Atmosphäre Lisa wie eine plötzliche Nebelwand, durch die man hindurchgeht. Nur fühlte sie anstatt des sanften Wassernebels auf der Haut ein unbekanntes Kribbeln in ihrem ganzen Körper. Die schwere, wabernde Musik schlich sich in ihre Seele, wie auch die schwarzen Ledersofas, die Ketten, ein Andreaskreuz und noch andere, für ihr Empfinden irgendwie dunkle Gerätschaften. Es war noch relativ leer so früh am Abend. Manuela hatte absichtlich diese frühe Zeit gewählt, damit die Eindrücke Lisa nicht zu sehr verschreckten. Sie hatte auch mit Eric abgesprochen, dass sie an diesem Abend eher auf "gleicher Augenhöhe" unterwegs sind und nicht spielen werden. Sie war unsicher, wie sonst Lisa damit umgehen könnte.
Manuela und Eric führten Lisa direkt zu dem Tisch im hinteren Teil, an dem sie gestern saßen. Und da hing das Portrait an der Wand. Lisa hatte sich kaum hingesetzt, da starrte sie es schon mit weit geöffneten Augen an. Ihr wurde heiß und kalt. Er war es. Daran bestand kein Zweifel.
"Lisa?", fragte Manuela vorsichtig.
"Ja, er ist es.", war alles, was sie in diesem Moment sagen konnte.
Er war also eine in bestimmten Kreisen sehr bekannte und berühmte Persönlichkeit. Meine Güte, worauf hatte sie sich da eingelassen? Ihr Atem ging heftig, sie zitterte am ganzen Leib. Bis ihr Manuela einen Whiskey in die Hand drückte. Sie wusste, das war in diesem Moment genau das Richtige für ihre Freundin.
Den Rest des Abends saß Lisa fast wortlos am Tisch. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Die Eindrücke und Bilder, die sie dazu noch vermittelt bekam, taten noch das Übrige dazu. Da waren Männer und Frauen in Lack, Leder, Strapsen, kurzen Röcken, Korsetts mit langen Röcken, die an der Hinterseite geöffnet waren. Frauen knieten demütig vor ihren Herrn, wie auch Männer vor ihren Dominas. Lisa hatte solcherlei Dinge noch niemals live und in Farbe gesehen. Und sie stellte verwundert fest, es schreckte sie nicht ab. Es berührte etwas in ihr. Etwas tief in ihr Verborgenes.
Als sie zu später Stunde mit Manuela auf dem Weg zur Toilette war - sie getraute sich alleine nicht -, kamen sie am Spielraum vorbei. Bereits von weitem hörte sie stöhnende Schreie einer Frau, unterbrochen von dem Zischen und peitschenden Auftreffen einer Gerte auf heißer Haut. Jedoch klangen diese Schreie nicht schrecklich schmerzvoll. Sie klangen lustvoll, erlösend. Ihre Neugier war so groß, dass sie im Vorbeigehen einen Blick in den Raum warf. Da sah sie eine nackte Frau, vornübergebeugt an einen Bock gekettet und hinter ihr stand ein Mann, der ihr Hinterteil mit roten Striemen versah. Die Frau hob kurz den Kopf und Lisas und ihre Blicke trafen sich. Sie sah Tränen wie auch unendliches Glück in ihren Augen.
Lisa hatte nun noch mehr, das sie nachdenklich werden ließ. Diese Szene hatte sie sehr berührt. Und als sie spät in der Nacht nach Hause kam, bemerkte sie erschreckt und verwundert eine weiche und warme Nässe zwischen ihren Beinen. Sie beschloss, mit ihrer Freundin nun doch nochmal ein längeres Gespräch über ihre Leidenschaft zu führen. Sie wollte mehr wissen. Und sie verspürte eine leise Ahnung, dass auch Vincent etwas mit dieser Welt zu tun haben müsste.
Als sie im Bett lag, dachte sie noch lange über Vincent nach. Sie musste mehr über ihn in Erfahrung bringen. Es war sicher ein Risiko, da noch tiefer zu graben. Aber es war für sie die einzige Möglichkeit, irgendeinen Ausweg zu finden. Sie konnte sich nicht nur alleine auf diesen russischen Gnom verlassen.
Irgendwann fiel sie in einen tiefen Schlaf, angefüllt mit wirren Träumen. Sie befand sich wieder in diesem Club und war plötzlich an das Kreuz gekettet. Vincent stand vor ihr mit einem so tiefen und dunklen Blick, der ihr durch sämtliche Glieder fuhr. Er sprach zu ihr: "Ich liebe Dich, du gehörst mir für alle Ewigkeiten, ich habe dich ausgewählt. Ich werde zurückkommen und dich holen. Sei dir dessen gewiss. Wir gehören zusammen." Da tauchte hinter ihm der Gnom auf mit einer Fackel und einem Ingwerpfahl in den Händen. Er stach Vincent den Pfahl ins Herz und zündete diesen mit der Fackel an. Vincent brannte sofort lichterloh, die Flammen schossen glutrot in die Höhe. Sie schrie, "Vincent! Nein!"
"Das ist die Lösung, nur so kann man ihn vernichten!", hörte sie noch den Gnom rufen, dann wachte sie schweißgebadet und völlig durcheinander auf. Was für ein schrecklicher Traum das doch war.
Das kleine Zeichen mit dem "V" an ihrem Hals schmerzte.
An diesem Tag nahm sich Lisa kurzfristig einen Tag frei und machte sich auf den Weg in die Stadtbibliothek. Es war eine riesengroße und sehr alte Bibliothek. Sie wusste, dort werden uralte Schätze aufbewahrt und sie hatte große Hoffnung, dort Informationen über den dunklen Fürsten zu finden.
--- to be continued ---
© GefallenerEngel