Vincent II
Lisa funktionierte in den darauf folgenden Wochen wie ferngesteuert. In erster Linie brauchte sie einen neuen Job, sie musste nun ja wieder für ihren Lebensunterhalt sorgen. Vorbei waren die schönen unbedarften Reisen durch die Welt. Ihr voriger Chef, durch den sie Vincent begegnet war, hätte sie mit Handkuss zurückgenommen. Er machte ihr auch einige Angebote, die sie dankend ablehnte. Es wäre eine Zumutung für sie, wieder für ihn zu arbeiten. Sie konnte nicht wieder andauernd auf diese dekadenten Veranstaltungen gehen. Es würde sie zu sehr an ihn erinnern. Sie würde ihn suchen, so wie sie ihn auch noch immer in ihren nächtlichen Träumen suchte. Nacht für Nacht besuchte er sie in der Anderswelt der Schlafenden. Es waren betörende Träume, erfüllt von Nähe, Tiefe und Leidenschaft. Und am Ende eines jeden Traumes tauchte immer wieder das selbe Zeichen auf. Ein verschnörkelt geschwungenes "V", umrahmt von einer runden, zierlichen Arabeske. Es sah aus wie ein Familienwappen und wenn sie schweißgebadet aufwachte, überlegte sie immer mehr, doch mal danach zu forschen. Jedoch tief in ihrem Innersten fühlte sie auch ehrfürchtige Angst davor.
Sie hatte nun wieder eine Anstellung gefunden. Wieder eine Assistentinnen-Stelle bei einem angesehenen Unternehmen. Der Job war ok, sie funktionierte hervorragend. Im Alltag konnte sie vergessen.
Eines Abends kam sie nach Hause, machte es sich auf der Couch mit einem Glas Wein bequem und hörte ihren Anrufbeantworter ab. Eine Freundin, die mal wieder mit ihr etwas unternehmen wollte und ein Verehrer, den sie immer und immer wieder enttäuschte. Sie war noch längst nicht frei für neue Abenteuer. Beim dritten gespeicherten Anruf schreckte sie plötzlich auf. Eine blechern klingende Stimme sprach: "Hallo, hier ist Nikolai Brezel. Wir kennen uns aus Russland. Sie waren vor ein paar Wochen bei mir. Ingwer... sie erinnern sich? Ich muss dringend mit ihnen reden, bitte rufen sie mich schnellstens zurück."
"Brezel. Wie kann einer aus Russland nur Brezel heißen", murmelte sie kurz und trank erstmal einen großen Schluck ihres Weines. Sie zitterte am ganzen Körper. Warum wollte dieser Gnom, dass sie ihn anruft? Was würde da auf sie zukommen?
Eine halbe Stunde verging, in der sie in ihrem Wohnzimmer auf und ab lief und nachdachte, was sie tun sollte. Sie dachte, sie könnte dies alles mit der Zeit hinter sich lassen. Irgendwann alles vergessen. Sie beschloss dann aber doch, ihn anzurufen. Es musste wichtig sein, also Augen zu und durch.
"Hallo, hier ist Lisa. Ich sollte sie zurückrufen...", sprach sie zaghaft ins Telefon, nachdem Nikolai Brezel sich gemeldet hatte.
"Gottseidank rufen sie an! Es ist äußerst wichtig für sie und ihr Leben. Ich habe weiter nachgeforscht und etwas entdeckt, das ihnen nicht gefallen wird."
Lisa schluckte und goss sich sofort ein erneutes Glas Wein ein.
"Diese Ingwerwurzel... ja, wie soll ich sagen... sie wirkt schon. Allerdings gibt es da eine Einschränkung. Wenn das Geschöpf der Nacht im Moment der Pfählung von tiefer Liebe erfüllt ist, dann wirkt sie nicht endgültig vernichtend. Er existiert dann noch in einer anderen Dimension, einer anderen Welt, bis er eine Möglichkeit findet, sich wieder zu verkörpern. In diesem Fall bin ich aber noch nicht am Ende mit meinen Nachforschungen."
Lisa war inzwischen kreidebleich. Noch ein Glas Wein war nötig. Sie stand auf, verschloss den Sicherheitsriegel ihrer Wohnungstüre bis zum Anschlag, schloss alle Fenster. Bis sie merkte, wie lächerlich dies doch war.
"Nun", fuhr der Gnom fort, "da ich ihren damaligen Schilderungen entnommen habe, dass er sie wohl zu einer der seinen verwandeln wollte, gehe ich von tiefer Liebe seinerseits aus. Was das heißt, können sie sich ja wohl denken."
"Mein Gott!", rief Lisa schrill ins Telefon, "wollen sie damit sagen, er lebt noch? Oder was auch immer das ist, wie er existiert. Heißt das, er kann mich noch immer jederzeit zu sich holen?"
"Da kann ich momentan nur Vermutungen anstellen. Fakt ist, dass sie sehr vorsichtig sein sollten. Sie sind für die Geschöpfe der Nacht nun vogelfrei. Sie haben einen der ihren angegriffen und es abgelehnt, die seine zu werden. Das ist sehr gefährlich..."
Lisa brachte kein Wort hervor, ein Kloß steckte in ihrem Hals.
"Es sei denn..."
"Was?!!"
"Naja, es gibt da etwas... wenn er sie noch rechtzeitig vor seiner Vernichtung gekennzeichnet hat, dann berührt sie kein anderes dieser üblen Geschöpfe."
"Wie gekennzeichnet? Ein Brandzeichen auf der Stirn oder was meinen sie?", erwiderte Lisa nun schon von Panik ergriffen.
"Nein, natürlich nicht. Es muss ein kleines Zeichen seitlich am Hals sein, kaum sichtbar. Wie ein Wasserzeichen in der Haut."
"So etwas ist mir noch nicht aufgefallen, aber ich werde gleich danach suchen. Danke."
"Nun, andererseits bedeutet dieses Zeichen dann aber auch, dass sie noch sehr tief mit ihm verbunden sind und er sehr wahrscheinlich zurückkehren wird. Ich möchte ihnen keine unnötige Angst machen, aber möglich wäre es."
Lisa verließ jegliche Kraft. Zusammengesackt saß sie auf ihrer Couch, ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum ihr Weinglas halten konnte. Gleichzeitig entflammte eine tiefe Sehnsucht in ihr. Vincent...
"Was kann ich tun? Kann ich mich irgendwie schützen?"
"Das weiß ich leider noch nicht. Momentan ist er noch nicht wieder verkörpert, das wüsste ich. Also sind sie von daher noch in Sicherheit. Aber suchen sie nach diesem Zeichen an ihrem Hals. Ich habe hier noch ein paar Möglichkeiten, ein paar dunkle Kontakte, von denen ich noch mehr erfahren werde. Ich melde mich wieder, sobald ich mehr weiß. Passen sie auf sich auf."
"Ja, ich danke ihnen. Bis bald."
Lisa legte auf und schleppte sich in ihr Badezimmer. Sie drehte ihren Hals vor dem Spiegel, nahm noch einen Handspiegel zur Hilfe, bis sie es tatsächlich sah. Da war es. Seitlich am Hals, normalerweise nicht sichtbar, wenn man nicht gezielt danach suchte. Ein kleines, verschnörkelt geschwungenes "V", umrahmt von einer runden, zierlichen Arabeske. Es war das Zeichen aus ihren Träumen. Dünn wie ein Wasserzeichen, es sah von Weitem betrachtet wie eine gewöhnliche Hautunreinheit aus.
Lisas Beine sackten zusammen und sie setzte sich auf den Toilettendeckel, in sich zweierlei Stürme an Gefühlen. Sicherheit vor den Geschöpfen der Nacht und Verbundenheit mit Vincent, der sehr wahrscheinlich irgendwann zurückkehren wird...
... to be continued...