Das Weingut
Guiseppe und Francesca wollten sich in diesem Jahr etwas Besonderes zum Urlaub gönnen. Sie wollten weg aus dem ganzen Trubel Rom's, wollten Entspannung, Natur und einfach mal abschalten. Guiseppe hatte zwar einen recht geruhsamen Berufsalltag als Vatikans-Bibliothekar, jedoch schwirrte ihm immer mehr der Kopf von den vielen unglaublichen Dingen, die er da zu lesen und zu sehen bekam, aber niemandem erzählen durfte. Immer mehr quälte ihn sein Gewissen. Er hatte Schriften gelesen, die alles verändern würden. Jeglicher Glaube würde in Frage gestellt werden. Die einzige Person, bei der er seinen Verschwiegenheitsschwur brach, war seine Frau Francesca. Mit ihr redete er oft bis tief in die Nacht über diese Dinge, bis sie beide nur noch fassungslos schweigen konnten. Sie wussten, sie alleine konnten nichts verändern.
Francesca arbeitete als Hausmädchen im Vatikan. Sie war zuständig für die Gästezimmer und in ganz seltenen Fällen hatte sie auch mal das Schlafgemach des Papstes zu reinigen, wenn bei dessen persönlichem Personal jemand ausgefallen war. Sie mochte ihn nicht. Sie war eine sehr gläubige Frau, aber dieser Papst - sie konnte nicht sagen, warum, aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart sehr unwohl.
Für diesen Urlaub hatten sie sich für ein Weingut etwas außerhalb der Stadt entschieden. Es war ein seltsamer Zufall, wie sie darauf stießen. Sie kamen gerade mit verschiedenen Katalogen aus dem Reisebüro nach Hause, da lag im Briefkasten ein Prospekt eben dieses Weingutes. Es sah sehr ansprechend aus. Mitten in einem Meer von Weinreben, auf einem kleinen Hügel. Das Weingut direkt war umgeben von einem großen Garten mit Olivenbäumen. Das rote Dach des Hauses wirkte warm und einladend und an der linken Seite des Hauses war ein kleines Weinlokal untergebracht, mit einer gemütlichen Terrasse zum Garten, auf der man den Abend bei Kerzenschein und einem köstlichen hauseigenen Wein verbringen konnte.
Ja, das sollte es sein. Sie waren sich beide sofort einig und buchten ihren Urlaub.
Dort angekommen hielt das Weingut, was der Prospekt versprochen hatte. Es war eine Augenweide und hatte eine so warme und entspannende Atmosphäre, dass sie sofort abschalten konnten und sich wie zuhause angekommen fühlten. Den Abend genossen sie nach einem hervorragenden Essen bei köstlichem tiefdunkelrotem Wein auf der Terrasse des Lokals. Es war eine romantische Stimmung. Sie unterhielten sich noch eine Weile angeregt über seine neuesten Entdeckungen in der Bibliothek, bis der Wein doch seine Wirkung tat und Guiseppe in den Blicken von Francesca versank. "Lass uns gehen", sagte er leise zu ihr, worauf sie lächelnd nickte.
Sie verbrachten eine zärtliche, wie auch leidenschaftliche Liebesnacht, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatten und fielen eng umschlungen in einen tiefen Schlaf.
"Hey! Aufwachen!" Eine kratzige tiefe Stimme drang in den Schlaf der Beiden. "Wacht auf, es wird Zeit!", vernahmen sie die Stimme lauter und eindringlicher. Sie schlugen beide die Augen auf und sahen einen Zwerg vor ihrem Bett stehen. "Was...", stammelte der verschlafene Guiseppe, während er seine Augen rieb, als wolle er einen Traum herauswischen. Francesca war nun auch aufgewacht und klammerte sich erschrocken an Guiseppe. "Keine Angst, es wird euch nichts geschehen. Es ist nur an der Zeit, dass ich euch mitnehme und euch etwas zeige." Die beiden konnten es nicht fassen und dachten, sie befänden sich noch in einem Traum. Da schnippte der Zwerg schon mit den Fingern, es blitzte und rauchte und plötzlich standen alle drei an einem Eingang zu irgendwelchen dunklen Katakomben. Guiseppe und Francesca, gerade eben noch nackt, hatten nun beide lange dunkelrote Gewänder an und Sandalen an den Füßen. "Wer bist Du?", frage Guiseppe den Zwerg. "Ich? Ach ja, ich sollte mich ja vielleicht noch vorstellen. Ich bin euer Gewissen, eure dunkelsten Phantasien, eure schönsten Träume, eure Wünsche, eure Ängste, euer Schmerz, euer Glück, eure Zweifel und eure Hoffnung. Nennt mich einfach Cornelio, das passt schon." Guiseppe und Francesca schauten sich an und waren sich wortlos einig, dies musste ein Traum sein.
Sie folgten Cornelio durch die schwere Eichenholztür, die knarrend hinter ihnen zufiel. Ein langer düsterer Gang lag vor ihnen, nur wenig beleuchtet durch große Fackeln, die alle paar Meter an der Wand befestigt waren. Nach und nach waren Geräusche zu hören, als kämen sie in einen Nachtclub. Seltsame Musik, lachen, aber auch Schreie und Schläge konnten sie vernehmen, je weiter sie den Gang entlang schritten. Francesca's Hand grub sich fest in Guiseppe's, so langsam bekam sie es doch mit der Angst zu tun.
"Wir holen immer mal wieder jemanden von euch zu uns für eine Nacht," sprach der Zwerg, während er zielstrebig zu einer der vielen Türen ging. "Wenn wir feststellen, es bewegt sich etwas in euch. Wenn sich eine 'Türe' in eurem Verstand öffnet und ihr bereit seid, mehr zu erfahren. Dann ist die Zeit gekommen, euch mehr zu geben und wir holen euch zu uns. Dies ist unser Weg, etwas zu verändern."
Sie kamen an vor einer dunklen Eichenholztüre, auf der mit goldenen Lettern "Züchtigung" stand. Cornelio öffnete die Türe und ein grausames, wie auch irgendwie erheiterndes Szenario zeigte sich ihnen. In einem nicht allzugroßen Raum mit feuchten Felswänden stand in der Mitte ein Strafbock, auf den ein Mann festgekettet war. Er hatte eine weiße Kutte an, die jedoch über seinen Kopf gezogen war, so dass sein nacktes, schlaffes Hinterteil freigelegt war. Hinter ihm stand ein muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper und einem ledernen Lendenschurz bekleidet, der mit einem Rohrstock das nackte Hinterteil dieses Mannes heftig bearbeitete. Der Mann schrie und stöhnte und diese Stimme kam den beiden sehr bekannt vor. Die ihnen gegenüberliegende Wand bestand aus durchsichtigem Glas. Dahinter sahen sie eine Art Tribüne, voll besetzt mit lachenden und jubelnden Zwergen.
"Jaja... unsere Papstzüchtigung ist sehr beliebt. Er kommt immer in seinen Träumen hier herab und lässt sich züchtigen. Er redet sich ein, dabei als Märtyrer zu leiden, für das viele Unheil auf der Welt. Aber wir wissen, dass er nur seiner von ihm selbst als Sünde verbotenen Geilheit nachkommt. Wir haben immer viel Spaß mit ihm!" Cornelio lachte ein hämisches, dreckiges Lachen.
"Aber wie kann er dies alles predigen, wenn er selbst nicht überzeugt ist davon?", fragte Guiseppe, als sie den Raum wieder verließen. "Nun," sagte der Zwerg, "genau darum geht es. Du hast bereits einige dieser Lügen erkannt in deiner Bibliothek. Deine Zweifel wachsen immer weiter. Du erkennst, dass es hier nur um Macht geht. Die Kirche strebte schon immer nach Macht, mit allen Mitteln. Und so ist es auch heute noch."
Sie gingen weiter bis zu einer weiteren Türe. "Sternwarte" war darauf zu lesen und der Zwerg öffnete sie. Darin war ein alter, grauhaariger Mann in einer braunen Kutte. Er hatte eine kleine Brille auf der Nase und sprang immer hektisch von seinem mit Papierrollen übersähten Schreibtisch zu einem großen Fernrohr, das durch ein Loch in der Decke nach oben ging.
Guiseppe wunderte sich kurz, wohin dieses Fernrohr wohl gehen mag, hier so tief unter der Erde. Aber er verwarf es sogleich wieder. Worüber sollte er sich hier in diesem seltsamen Traum noch wundern?
"Hey Nostri, wie geht’s? Was gibt’s Neues?", fragte Cornelio in den Raum.
"Oooh... es wird kommen eine große Dunkelheit über die Welt. Sehr bald schon. Denkt an mich, ich prophezeie es euch!" Der Mann hatte irgendwie einen irren Blick und sprach diese Worte mit einer weit ausholenden, theatralischen Bewegung der Arme aus.
"Jaja, ich weiß, für morgen ist auf der nördlichen Halbkugel eine Sonnenfinsternis angesetzt.", antwortete der Zwerg grinsend, bevor er sich wieder umdrehte und den Raum verließ.
"Nostri?", fragte Guiseppe den Zwerg, als dieser die Türe der Sternwarte wieder schloss und schaute ihn ungläubig und erstaunt an. "Ach ja, unser Nostradamus. Er neigt zu Übertreibungen, ist etwas durchgeknallt der Gute. Er hat in seiner Jugend zuviel mit Kräutern experimentiert."
Sie kamen noch durch viele Räume in dieser Nacht, erlebten noch einige seltsam anmutende Dinge und Cornelio erklärte ihnen viel. Am Ende verabschiedete er sich, schnippte wieder mit den Fingern und die beiden erwachten plötzlich in ihrem Bett im Weingut. Sie schauten sich beide an und sagten gleichzeitig, "Ich hatte einen total komischen Traum!" Beim Frühstück erzählten sie sich gegenseitig ihren Traum und beschlossen dann, es sei wohl so, dass sie so sehr miteinander verbunden seien, dass sie sogar schon die gleichen Träume hatten.
Sie verbrachten die restliche Woche ihres Urlaubs entspannt und fühlten sich sehr wohl auf dem Weingut und redeten nicht mehr über diesen Traum.
Am Tag der Abreise ließen sie ein Taxi kommen, das sie zum Bahnhof fahren sollte. Als sie einstiegen und dem Fahrer das Ziel nannten, drehte dieser sich um und fragte breit grinsend, ob sie denn einen schönen Urlaub hatten. Sie erschraken beide. Der Fahrer war Cornelio*.
*Von einem altrömischen Familiennamen, dem vielleicht das Wort "cornu" (Horn) zugrundeliegt.
... doch noch geschafft
Aber ich musste nun doch alles sehr abkürzen am Ende, sonst wäre es ja eine "never ending Story" geworden