Geschwister Leben und Tod
Welch ein schöner Tag es war. Der Himmel strahelndblau, kein Künstler könnte diese Farbe beschreiben, geschweige denn auf Leinwand bannen. Sie konnte sich kaum sattsehen an diesem Schauspiel, wenn wieder ein paar vorwitzige Vögel hintereinander durch die Lüfte jagten. Unendliche Freiheit dort am Himmel.Die warme, schillernde Luft, die voller Naturdüfte schwanger in ihre Nase drang, bis zu ihrem Gehirn kroch und sie in euphorische Stimmung versetzte. Sie lag im hohen Gras, vollkommen umgeben von diesen saftig grünen Halmen, leise Geräusche schwangen gedämpft durch diesen natürlichen Vorhang. Das Summen der Bienen, das die Hitze noch flirrender erscheinen ließ, hie und da ein schwaches Zwitschern eines Vogels, Zirpen der Grillen und ab und zu ein sanftes Wort ihres geliebten Mannes.
Sie drehte leicht den Kopf, hob ihn aus ihrer Rückenlage ein wenig an, um ihn zu betrachten. Ganz leise, um ihn nicht zu wecken, stützte sie ihren Kopf auf ihre Hand, den Ellbogen fest in die kuschelige Decke gedrückt. Ihre Augen glitten an seinem Profil entlang, selten war sein Gesicht so entspannt. Seine Nasenflügel öffneten sich bei jedem Atemzug ein wenig, seine sinnlichen Lippen zogen ihren Blick magisch an, sie musste das Verlangen unterdrücken ihm einen Kuß zu geben.
Ganz vorsichtig glitt sie über die Decke näher an ihn heran. Noch immer schlief er tief und fest. Jetzt war sie ihm so nahe, sie konnte seinen schwachen Duft einatmen, seinen Brustkorb leicht heben und senken sehen. ‚Dieses Glück, kann es wirklich sein, daß ich dieses unbändige Glück verdient habe?’ schoß ihr mit einem heißen Gefühl durch den ganzen Körper. Dieser Gedanke raubte ihr für kurze Zeit den Atem, während ihr Blick weiter über den von ihr über alles geliebten Mann glitt.
Als sie ihre Hand hob, um der Versuchung nachzugeben, seine warme Haut zu berühren, drang ein freies, ungestümes Lachen durch das hohe Gras. Der leichtschwingende Klang der Stimme ihrer Tochter näherte sich. Vorsichtig richtete sie sich auf, sah den kleinen dunklen Wuschelkopf ihres Sonnenscheins durch die grüne Wand einen Weg auf sie zu bahnen. Die Büschel teilten und schlossen sich um dieses kleine Wesen, das die Natur mit allen Sinnen erfasste und sich eins mit ihr fühlte.
‚Mama, Papa, schaut was ich gefunden habe….’ Erklang das hohe Stimmchen immer näher kommend, bis zwei große blaue, kugelrunde Augen aus einem roten, erhitzten Gesichtchen von oben auf sie herabblickten. Das Fäustchen umschloß einen kleinen zerdrückten Bund Gänseblümchen.
Sie breitete wortlos ihre Arme aus, ihre Tochter ließ sich an ihren Körper fallen, schmiegte sich an ihre Schulter, vergrub den warmen Kopf in ihre Achseln.
Nur ein wenig beugte sie ihren Kopf nach unten, um ihre Nase in die zerzauste Mähne ihrer Tochter zu drücken, diesen unverkennbaren, zarten, unverbrauchten Geruch einzuatmen und diese Innigkeit mit diesem Wesen zu spüren. Ihre Augen versanken in denen ihres Mannes, der sich eben aufrichtete und begann sie anzulächeln, mit einer Sanftheit, die ihr Herz zum Explodieren brachte.
Hart zischend riß sie ein Geräusch aus dieser Erinnerung. Sie brauchte ein paar Minuten um sich zu orientieren, bis die brutale Realität sie einholte. Das Beatmungsgerät presste den Sauerstoff in ihre Lunge, sie sah die Schläuche von ihrem Körper in unzähligen Maschinen verschwinden. Nichts, kein bisschen mehr, spürte sie von ihrem Körper. Nur die heißen Tränen auf ihren Wangen und diesen zerfleischenden Schmerz, den ihr niemand nehmen wird, wenn das letzte Bild ihrer Familie durch den Kopf rast, als sie auf dem Heimweg von einem vollbeladenen LKW gerammt wurden.
Seine nicht gesicherte Ladung rutschte bedrohlich als sie hinter ihm fuhren während er begann zu schlingern und die letzte Sekunde, die sie von diesem letzten schönen Tag mitnahm, war der Stahlträger der das Dach der Fahrerseite ihres Wagens plattdrückte unter dem ihr Mann verschwand und die scharfe Metallplatte, die sich wie in Zeitlupe in Halshöhe ihrer Tochter näherte…..