Das dritte Türchen
Die Sonntagsfrau
Prolog
Er erwachte mit einem dumpfen Schmerz in der Brust. Bevor ihm schwarz vor den Augen wurde, erkannte er eine Frau, die - gleich einem Todesengel - vor seinem Bett stand. In der Hand hielt sie ein blutendes Herz. Sie lächelte ihn verliebt an und er hörte noch das Wort: „Mein“.
Panik durchflutete seinen Körper wie ein elektrischer Schlag und er schnalzte im Bett hoch, das Laken klebte nassgeschwitzt und kalt an seinem Körper.
„Verfluchte Engel“, stöhnte er, „ich hasse Weihnachten!“
Montag
Constanze liebte er für ihr goldenes, glockenhelles Lachen. Sie war nicht die Frau, die unter dem Label Schönheit durch die Gassen ging. Ihr Körperbau war klein und gedrungen, keine besonderen, erotischen Merkmale, die durchschnittliche Männer aus der Reserve locken könnten. Etwas zu eng stehende Augen, eine zu lange Nase und das breite, schmale Lächeln gaben ihr eher etwas lausbübisches, verstärkt durch die kurz geschorenen Haare, die wie Stroh kreuz und quer auf ihrem Kopf lagerten. Doch wenn man sich nur zwei Minuten mit ihr unterhielt, strebten ihr wegen ihrer Stimme, dem kokett schiefen Lächeln und diesem explosiven Lachen alle Sympathien zu. Constanze wurde Arthurs Montagsfrau. Sie trafen sich regelmäßig im „Solaris“, wo immer zum Wochenanfang eine Prosecco-Party stattfand. Arthur hasste es, dass so viele Clubs und Kneipen montags der Meinung waren, einen Ruhetag einführen zu müssen. Er wollte jeden Tag ausgehen. Zum in den eigenen vier Wänden versauern würde in seinem späteren Leben sicher noch genug Zeit sein. Mit Constanze hatte er die passende Partnerin dafür gefunden. Meist endete der Montag bei ihr oder in einem Hotel, seine eigene Behausung war nicht dafür geeignet, Gäste zu empfangen. Wozu auch? Er war sowieso ständig auf Achse, beruflich wie privat.
Der Sex mit ihr war erstaunlich leidenschaftlich und eher von harter Gangart anstatt Blümchen. In diesem kleinen, knuffigen Wesen brodelte ein Vulkan, der Arthurs fester Erektion einiges abverlangte. Ansonsten zeigte sich Constanze als unkomplizierter und unabhängiger Mensch. Mehr als einen gemeinsamen Kaffee am nächsten Morgen verlangte sie nicht von ihm. Keine ausschweifenden Telefonate unter der Woche, keine Seriennachrichten über Whatsapp.
Arthur liebte die Unabhängigkeit. Schon immer. Bereits als Kind hatte er sich in der Familie mit drei Geschwistern gerne von allen zurückgezogen. Nach dem Abitur suchte er sich eine Wohnung in der Innenstadt, um endlich aus der sozialen Kontrolle des Dorflebens flüchten zu können. Über ein Praktikum landete er bei einem Verlag für diverse Fachzeitschriften. Als Heranwachsender in der Familie und seinem damaligen, ländlichen Umfeld zeigte er sich als stummer Fisch ohne tiefgehende Beziehungen, in seiner Arbeit jedoch stellte sich schnell heraus, welche Begabung er dafür hatte, sich selbst – und damit auch jedes x-beliebige Produkt – zu verkaufen. Er wurde zum besten Medienberater der Werbeabteilung und verkaufte bald deutschlandweit Werbeverträge an potentielle Anzeigenkunden.
Dienstag
Am Dienstag traf Arthur, wie fast jede Woche, gegen Mittag im Rheinland ein. Er pflegte den Kontakt zu Stammkunden oder besuchte frisch akquirierte Unternehmen, für die seine Sekretärin bereits Termine vereinbart hatte.
Er mochte die offene, lockere Art der rheinländischen Frauen. Ganz besonders die von Mathilda. Wenn er an ihre Figur und ihre knackigen, wohlgeformten Brüste dachte, lief im bereits das Wasser im Munde zusammen und er rutschte unruhig auf dem harten Stuhl im Konferenzzimmer einer landwirtschaftlichen Besamungsfirma hin und her. Hier winkte ein langfristiger Werbevertrag für „elitär“, dem Magazin für Milcherzeuger. Beinahe hätte er den Auftrag vermasselt, weil er in Gedanken an Mathilda die Kontrolle über allerlei Phantasien verloren hatte, die durchaus etwas mit Besamung zu tun hatten. Mathilda liebte es feucht und klebrig. Sie nahm nicht nur gerne seine Körpersäfte, sondern auch sein Geld. Aber das war Arthur egal, sie hatte es nicht leicht, seit ihrer Scheidung über die Runden zu kommen, wobei er sie gerne finanziell unterstützte, wenn sie nur jeden Dienstagabend an seine Hotelzimmertür klopfte und ihm schon beim Öffnen ihres Mantels den Atem rauben würde. Sie war deutlich älter als er, hatte aber die Figur einer Frau Mitte Zwanzig – jedenfalls im schummrigen Licht seines Hotelzimmers. Gelegentlich hielt sie seinen Appetit auf die Dienstagsfrau aufrecht, indem sie ihm beauty-gefilterte Bildnachrichten auf sein Handy schickte. Mathilda nackt unter der Dusche, Mathilda in reizenden Dessous auf dem Bett ihrer überteuerten Einzimmerwohnung, Mathilda ohne Höschen breitbeinig auf einem Barhocker. Er hatte einen ganzen Ordner voll mit ihren erregenden Selbstdarstellungen.
Man sah Arthur seine Jugendlichkeit nicht auf Anhieb an. Schlechte Gene hatten sein helles Haar früh ausgedünnt und die selbstgefällige Ruhe, die er ausstrahlte, ließ ihn älter und reifer wirken, als er es mit seinen gerade mal siebenundzwanzig Lenzen sein konnte. Das war ein Teil des Erfolgs seiner stetigen Geschäftsreisen. In feine Anzügen gekleidet, ohne mit pseudoseriösen Krawatten die Ernsthaftigkeit zu übertreiben, kam er mit seinem Erscheinungsbild nicht nur auf der Karriereleiter schnell nach oben, sondern auch bei Frauen jeder Altersgruppe gut an. Ihm gefiel das stetige Reisen, alleine und unabhängig unterwegs zu sein und täglich genug Zeit zu haben, in wechselnden Städten durch die Straßen zu bummeln, um das abendliche Leben in Kneipen, Clubs und Bars zu erkunden.
Mittwoch
So hatte er auf einer Tanzfläche in irgendeinem Schuppen im Ruhrpott seine Mittwochsfrau kennengelernt. Nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss mit einem großen Orthopädie-Unternehmen für die „Hals & Beinbruch“ wollte er es mal so richtig krachen lassen. Zur Einstimmung genoss er heimlich am Ufer des Dortmund-Ems-Kanals einen kleinen Joint, um sich anschließend gezielt zu betrinken. Die groovy Elektrobeats lockten ihn auf die winzige Tanzfläche eines kleinen, düsteren Clubs. Lange tanzte er mit geschlossenen Augen seinen Freistil und lebte den Rhythmus in vollen Zügen. Etwas streifte kitzelnd seine Wange, worauf er überrascht die Augen öffnete. Vor ihm tanzte eine zierliche Diva mit einer flammend roten Explosion aus Haaren, aus deren Mitte ihn strahlend blaue Augen listig anblitzten. „Wie Merida“, dachte er, in Erinnerung an einen dieser süßlichen Animationsfilme, in den ihn seine kleine Cousine vor einigen Jahren ins Kino geschleppt hatte, „die wilde Heldin der Highlands!“
Arthur ging auf ihre Bewegungen ein, beide forderten sich auf der Tanzfläche gegenseitig heraus und tanzten sich in einen wilden Rausch aus Beats, Melodien, Reibung und Schnaps. Die Ekstase endete in Arthurs Hotelzimmer, wo sich Schweiß, Sekt und Sekrete zwischen Haut und Haaren wild vermischten.
Seine Merida stellte sich als Simone heraus, die eigentlich aus Holland kam und dort das Leben einer ganz normalen Ehefrau und Mutter führte. Mittwochs hatte sie ihren fest vereinbarten, freien Tag, da ihr Mann sich auch am Donnerstag um die Kinder kümmerte. Arthur interessierten keine weiteren Hintergründe, Eifersucht war ihm fremd. Wie es Simones Ehemann damit ging, war ein Gedanke, für dessen Erfassung sich weder Arthurs Gewissen, noch sein Verstand zuständig fühlten.
Gefühle spielten in Arthurs Leben keine besonders große Rolle. Geschäftsabschlüsse erfreuten ihn, der Stand seines Bankkontos machte ihn zufrieden. Dekadent genoss er den Geschäftswagen der Oberklasse und den Luxus guter Hotels in den größeren, deutschen Städten. Seine Wohnung war nicht mehr als Meldeadresse, Homeoffice und Platz zum Ausschlafen an den Sonntagen. Einen Hauch von Heimat verspürte er bei den wenigen Besuchen im Elternhaus, wo ihm aber schnell die Luft zu dünn und die Räume zu eng wurden. Nicht nur im Winter wurde es Arthur in der Heimat schnell eiskalt.
Donnerstag
Eiskalt war auch Tamara. Das blutjunge Punkmädchen gabelte er an einem Rastplatz auf der A1 Richtung Oldenburg auf. Dort wartete ein Termin bei einem großen Autohändler auf ihn, dem er eine langfristige Anzeigenreihe für die monatlich erscheinende „Breite Schlappen – dicke Rohre“ verkaufen wollte. Tamara quatschte ihn direkt an der Zapfsäule an und fragte ihn nach einem Lift Richtung Bremen. Arthur hatte viel Zeit und überlegte sich, den Umweg zu machen. In ihren staubigen, abgewetzten und löchrigen Klamotten wirkte sie wenig vertrauenerweckend, aber das kindliche Gesicht unter der dicken Schicht aus grobem Make-up, gepaart mit Piercings und Plugs in Ohren, Nase und Lippen, faszinierte ihn augenblicklich.
Während der Fahrt führten sie ein überraschend tiefgründiges Gespräch, welches er so einer Göre nicht zugetraut hätte. Sie provozierte ihn ständig mit seinem Status und dem offensichtlichen, finanziellen Erfolg, repräsentiert durch den luxuriösen Wagen und sein gepflegtes Outfit. Tamara erinnerte Arthur an seine Jugend, in der ihm bewusst wurde, dass er niemals massenkompatibel sein könnte und einige Jahre mit Punk und Dark Wave liebäugelte, während gleichaltrige Jugendliche aus der Provinz lieber zu Schlagerpartys und Dorfbesäufnissen gingen. Tamara freute sich darüber, von seinem Gras während der Fahrt Joints drehen zu dürfen, während sie Arthurs alte CDs von den „Misfits“ bis „Dead Kennedys“ hörten.
In Bremen setzte er sie vor einem abgefuckten Haus in der Nähe des Weserstations ab. Sie verschwand im offensichtlich besetzten Haus und Arthur beschäftige sich im Auto mit Laptop und Mobiltelefon, um einige Termine zu klären und Nachrichten zu beantworten. Im Moment zwischen Kupplung kommen lassen und Gas geben, hörte er ein Klopfen und blickte nach vorne. Tamara stand vor seinem Wagen und schlug mit der blanken, rechten Faust auf die Motorhaube ein.
„Warte, das Arschloch hat mich verarscht, kannst du mich mitnehmen?“
Arthur meinte, Blut an ihren Händen zu erkennen, welches sie verlegen an ihrem viel zu kurzen Lederrock abwischte, bevor sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
„Nimm mich einfach mit, ohne Fragen … bitte!“
Arthur gab Gas. Im Rückspiegel erkannte er einen Augenblick später einen dicken Rocker, der mit einer Bierdose nach seinem Wagen warf. Schweigend fuhren Punkmädchen und Ex-Punk nach Oldenburg. Tamara blieb im Wagen, bis Arthur sein Geschäft abgewickelt hatte und Arthur freute sich danach darüber, dass der Wagen nicht geklaut wurde und alle Wertgegenstände im Wagen noch an ihrem Platz waren. Er lud Tamara zum Essen ein und nahm sie mit ins Hotel, misstrauisch beäugt von Rezeptionistin und Liftboy.
Nach ein paar gemeinsamen Bierchen an der Bar folgte sie ihm auf sein Zimmer, legte ihre Kleidung ab, ging unter die Dusche und kroch wortlos zu ihm unter die Decke. Ihr Körper, sonst verborgen unter einer Rüstung aus Schmutz und Provokation, entpuppte sich als kühles Paradies der pädophilen Lüste. Noch an vielen weiteren Donnerstagen traf sich Arthur mit Tamara und spielte gerne den Sugardaddy.
In seinem sonstigen Leben gehörten väterliche Gefühle oder gar der Wunsch nach einer eigenen Familie nicht zu seiner Zukunftsplanung. Arthur war viel zu sehr berauscht von den vielen Möglichkeiten, die ihm das Leben bot. Er wusste instinktiv, das würde alles vorbei sein mit dem Beginn einer festen Bindung oder gar der ständigen Sorge um die eigenen Kinder. Arthur war ein wurzelloser Trabant, der die Ehrlichkeit liebte. Seine verheirateten Kollegen, die ihre Abschlüsse heimlich in Bordellen und Nachtclubs feierten, ekelten ihn an.
Arthur fragte sich oft, wie viel Ehrlichkeit eine Ehe, ein Leben mit Frau und Kindern, in Wirklichkeit vertragen könnte. Wie viel Lebenslüge, Lustlosigkeit und Lethargie hausten unter den Dächern der wahr gewordenen Träume vom hochverschuldeten Eigenheim zwischen Betongarten, Blumenbeet und Buchenhecke?
Freitag
Am Freitag ging es meist zurück auf der A7 über Hannover und Kassel. Stopp bei einer Brauerei, um den Werbevertrag für die „Hopfen und Malz“ zu verlängern, leicht beschwipst zu einem Termin beim Stützstrumpfhersteller für die „Arterie und Kalk“ und danach rein nach Kassel, um sich mit Meike zum Abendessen zu treffen.
Arthur lernte sie einst kennen, als er für die Metzgerei-Fachzeitschrift „Schnitzelmann“ in einer großen Wurstfabrik vorsprach. Bei der Frage nach der Werbeabteilung meinte ein Mitarbeiter nur lapidar: „Meike macht das Würstchen“. Das augenzwinkernde Grinsen des Mannes in weißen Gummistiefeln und weißer Kittelschürze, beides übersät mit Blutflecken und Klumpen unbestimmter Herkunft, versprach einen spannenden Termin.
„Da lang und dann die Treppe hoch“, sagte er freundlich. Arthur konnte sich nur deshalb die kurze Szene für immer merken, weil ihm der Mitarbeiter den Weg mit einem nicht mehr vorhandenen Zeigefinger wies.
Meike war eine Frau von ausladenden Proportionen. Ein voller Busen, der kaum in einer Bluse zu bändigen war, das Dekolleté mehr als verheißungsvoll. Ihre Hüften waren rund, die Taille dagegen schmal und der volle Hintern stand in einem fast schon grotesken Verhältnis zu ihrem Hohlkreuz. Kein Model für Mode aus Paris, aber eine Sanduhr der gestandenen Art. Arthur atmete kurz tief durch, als sie ihn zum ersten Mal mit einem festen Handschlag begrüßte und mit ihren rehbraunen Augen zwischen dichten, dunkelbraunen Haaren anblickte:
„Möchten Sie eine unserer Würste probieren, bevor wir zum geschäftlichen Teil kommen?“
„Wurst? Ja, gerne!“ stotterte Arthur.
Der geschäftliche Teil verlief glatt und Arthur fragte Meike, wo man in der Stadt noch ein gutes Abendessen bekäme.
„Ich lade Sie ein, ich kenne da einen sehr guten Inder in der Stadt – Geheimtipp!“
Sie speisten, sie tranken, gingen danach noch in eine Bar und schließlich in ein Hotel. Von da ab wusste Arthur, wie gut Meike das Würstchen machte. Schnell verwandelte sie seine kleine Nudel zur größten Bockwurst Hessens.
Arthurs Vorlieben waren keine Grenzen gesetzt. Dicke, dünne, junge, alte, große und kleine Frauen, sowie deren Frisuren und Haarfarben, das alles war im egal. Hauptsache eine Frau wollte Spaß und keinen Ehemann, der für ein trautes Eigenheim und ein gut gefülltes Bankkonto zu sorgen hätte. Sollten von einer Frau Fragen kommen wie: „Arthur, wie stellst du dir das jetzt eigentlich vor mit unserer Beziehung?“, war er schneller weg als die Feuerwehr aus ihrer Wache im brenzligen Notfall. Dabei fühlte er sich nicht auf der Flucht, ihm war klar, dass seine Liebschaften eine begrenzte Halbwertszeit hatten. Schmerz empfand er nach einem endgültigen Abschied nie.
Samstag
Meike war schwer zu sättigen und Arthur hatte nie etwas dagegen, sich nochmals am Samstagmorgen in diese Fülle von Frau zu wühlen. Sie war die pure Wärme, weiche Weiblichkeit und Wollust in einer Person. Danach gingen sie getrennte Wege. Er auf der Autobahn zurück ins Rhein-Main-Gebiet, sie mit dem Zug nach Hamburg, wo sie die Villa ihres verstorbenen Mannes bewohnte und sich auf die Besuche der bereits erwachsenen Kinder freute.
Fast beneidete Arthur Meike um ihre Familie. Jetzt begann für ihn das Wochenende eines eingefleischten Singles. Er freute sich auf den Samstag, den er meist mit gepflegtem Kulturprogramm verbrachte oder einfach zuhause die Füße hochlegte.
Er liebte alle seine Frauen, doch er ließ sich nicht lieben. Es machte ihm nichts aus, ihnen Freude zu bereiten mit kleinen Geschenken oder sogar finanzieller Unterstützung. Tief in sein Leben und damit in Herz und Seele wollte er keine der Damen lassen. Sein unabhängiges Leben wollte er sich nicht durch tiefe Emotion einschränken lassen. Selbstverpflichtung, Schuldgefühl oder Sehnsucht waren für ihn die Steine zu einer Gefängnismauer, die nach Jahren der Abhängigkeit nie wieder zu überwinden sein würden.
Sonntag
Der Sonntag wurde regelmäßig zum Tiefpunkt seiner Woche. Es war schön, ausschlafen zu dürfen und den Tag im Schneckentempo zu beginnen. Kaffee genießen, die Zeitung lesen, duschen. Aber dann?
Ging er im Frühling durch die Stadt, begegneten ihm pausenlos diese Paare und Familien. Menschen, die sich an ihrem grundlosen Glück erfreuten oder strahlend ihren lärmend rennenden Kindern hinterher sahen. Im Sommer wurde es geradezu zum Zwang, nach draußen zu gehen, schließlich bleibt man nicht bei strahlendem Sonnenschein in der abgedunkelten Bude. Ihm wurde nie klar, warum er ein schlechtes Gewissen hatte, wenn er einen sonnigen Sonntag lieber in den eigenen vier Wänden vor der Glotze verbrachte, anstatt sich in dieses Gewimmel einzureihen oder die Stadt zu verlassen, um die Natur in den umliegenden, schattigen Wäldern zu genießen. Manchmal spürte er schon, dass Luft und Licht seinem Gemüt gut taten, aber er wollte sich nicht gezwungen sehen, an der Open-Air-Saison teilzunehmen.
Nun war auch noch Adventszeit. Für Arthur: Winter, Weihnachtsmärkte, Widerwille. Egal, er würde sich ein paar Glühwein schmecken lassen, den einen oder anderen Plausch halten mit Zufallsbegegnungen zwischen den Marktbuden und zum „Tatort“ satt und zufrieden wieder auf dem Sofa liegen.
Der erste Adventssonntag war ein klirrend kalter, aber sonnig trockener Tag. Der Weihnachtsmarkt, nicht weit entfernt von seiner kleinen Stadtwohnung, war bereits gegen Mittag gut gefüllt mit Menschen. Arthur probierte die eine oder andere Leckerei, gerne herzhaft und fettig. An einem Glühweinstand orderte er sich eine große Tasse und führte lächelnd den einen oder anderen Smalltalk mit den Wartenden.
„Strahlend schöner Tag heute, was?“
„Eiskalt, wie gemacht für dieses heiße Gebräu!“
„Einkaufen? Wozu? Es gibt doch Amazon ...“
„... aber denken sie doch mal an den Einzelhandel.“
„Na, der kleine bekommt aber nur den Kinderpunsch, oder?“
„Punkte? Ich sammle keine Punkte, ich nehm' nur Kommas!“
Gekicher, Gelächter, Generosität.
Arthur drehte sich mit seinem heißen Becher in der Hand um und wollte weitere Attraktionen erkunden, als er unvermittelt in ein wildes Rauschen aus Weiß und Weichheit blickte. Es kitzelte ihn in Gesicht und Augen, die er reflexartig schloss, während ihm eine unsichtbare Kraft seine Tasse an die Brust drückte. Erschrocken öffnete sich seine abwehrende Hand, er spürte feuchte Wärme, die seinen Mantel durchdrang und hörte den harten Aufschlag von Porzellan auf Kopfsteinpflaster.
Arthur öffnete erstarrt die Augen und blickte auf eine weiße Wand aus Federn.
„Herrje, das tut mir jetzt aber leider, wie ungeschickt von mir. Haben sie sich verbrannt?“
Federn und Feuer? Vor Arthurs geistigem Auge blitzt kurz das Bild von Ikarus auf, der mit seinen gewachsten Flügeln der Sonne zu nahe kam und dafür einen tiefen Absturz in Kauf nehmen musste. Verdattert folgte er dem Muster aus Daunen- und Gänsefedern zu einer Erscheinung, die dem Schreck die Krone aufsetzte. Arthur stockte der Atem.
Umrahmt von zwei großen Engelsflügeln, die im Gegenlicht einer Marktbeleuchtung strahlten wie gebleichte Wäsche auf der Leine, erblickte Arthur ein weibliches Antlitz, welches faszinierend flatterhaft wechselte zwischen Schreck, Trost, Peinlichkeit, Freude und einer unbestimmbaren Melancholie.
„Das tut mir so leid. Kann ich Ihnen eine frische Tasse spendieren?“
Sie zeigte eine kleine Sorgenfalte auf der Nase zwischen ihren hellblauen Augen, dabei fiel eine Locke ihrer undefinierbaren, rotblonden Haare über das linke Auge. Kindlich pustete sie die Strähne mit vorgeschobenem Unterkiefer zurück an ihren Platz.
„Danke, geht schon“, antworte Arthur, „so gut war der gar nicht“. Er deutete auf den Becher, der ungebrochenen am Boden lag.
„Stimmt. Weiß ich. Ich kenne da einen viel besseren Glühwein-Anbieter. Genau genommen: Apfelwein-Anbieter.“
„Okay“, bemühte sich Arthur betont lässig. „Wenn Sie mir noch Ihren Namen verraten, lasse ich mich gerne zum Apfelwein verleiten. Ich bin übrigens Arthur.“
„Cora“, schlug das beflügelte Märchenwesen in die ausgestreckte Hand ein, „folgen sie mir!“
Das heiße Gebräu schmeckte vorzüglich. Irgendwie hatte es der Wirt geschafft, dem Apfelwein seine saure Note zu nehmen und mit allerlei Zugaben aus Früchten und Gewürzen dem Heißgetränk eine fruchtige Note zu geben, ohne den aufregend beißenden Alkoholgehalt zu löschen.
Cora hatte ihre Engelsflügel abgelegt und beim Budenbetreiber dankbar hinter der Theke abgestellt. Arthur unterhielt sich mit Cora, als gäbe es kein Morgen. Sein Leben passierte bereitwillig Revue, im Gegenzug erfuhr er vieles von Cora, in deren Gesicht er sich immer wieder mit seinen Blicken verlor wie ein Ertrinkender im weiten Ozean.
Sie war als Studentin der Sozialwissenschaften in die Stadt gekommen. Auf dem Weihnachtsmarkt verdiente sie sich etwas dazu, in dem sie, als Engel verkleidet, Werbung für eine soziale Stiftung betrieb und Spenden sammelte. Sie berührte Arthur beim Reden, nicht nur mit Stimme und Mimik, sondern auch mit kleinen Berührungen, die wie beiläufige Freundlichkeiten wirkten, aber bei Arthur ein ums andere Mal kleine Schocks verursachten. Diese Berührungen waren nicht anzüglich, sie waren einfach nur nett. Das war er nicht gewohnt. Die kleinen Streicheleinheiten schmeichelten ihm und erwärmten seinen gehassten Sonntag.
Arthur wollte sie haben. Die zierliche Figur, die sich unter ihrem Kostüm abzeichnete, reizte seine Sinne. Grazil und gleichzeitig schwungvoll bewegte sie sich zwischen den vielen Menschen. Dabei wirkte sie brav und ungefährlich, beinahe schüchtern. Sie erweckte keine sexuellen Phantasien in seinem testosteronverseuchten Lymphsystem, er wollte einfach nur ihre Nähe. Ganz nah wollte er diese Frau bei sich haben, Arthur dachte eher an zärtliches Kuscheln als an wilden Bettsport. Routinierte bildete sich in seinem Hinterkopf ein Schlachtplan:
Ein Hotelzimmer würde er in der überfüllten Stadt heute nicht mehr bekommen. Sollte er ihr anbieten, sie nach Hause zu begleiten, um für sie die Flügel zu tragen? Schließlich hatte er noch nie eine Frau mit in seine Bude genommen, die wirklich kein einladendes Nest der Behaglichkeit war.
„Arthur“, unterbrach Cora seine Gedanken, „ich sollte mich bald auf den Weg machen, um meinen Zug zu erreichen. Leider habe ich keine Wohnung in der Stadt und wohne weit draußen. Ein Hotelzimmer war nicht mehr zu bekommen, sonst würde ich gerne noch eine Weile mit dir hier bleiben.“
Sie hatten sich bereits das „Du“ angeboten.
„Du könntest hier bei mir bleiben, auch wenn meine Bude nicht gerade einladend ist“, überraschte sich Arthur selbst, „ich habe auch ein Schlafsofa für dich. Oder für mich - und du bekommst mein Bett. Natürlich frisch bezogen.“
„Das ist süß, vielen Dank für das Angebot, ich überlege es mir.“
Sie überlegte nicht lange. Nach einem Rundgang auf dem Weihnachtsmarkt, der wiederholt am Apfelweinstand endete, nahm Cora Arthurs Angebot an. Arthur fühlte sich wie der Cäsar unter den Frauenhelden: „Veni, vidi, vici!“, dachte er sich klammheimlich.
Noch während er Cora die Tür öffnete und ihr mit einem kleinen Knicks und galanter Handbewegung den Weg in seine Junggesellenhöhle wies, entschuldigte er sich für die bescheidene Größe und Ausstattung der Behausung. Cora versicherte, es würde ihr nichts bedeuten. Sie ließ sich auf das Sofa fallen und schnurrte: „Hier bleibe ich, keinen Schritt mehr heute“. Arthur hängte Jacken und ihre Engelsflügel an die Garderobe und zeigte sich als guter Gastgeber. Eine Flasche Wein, feine Gläser und Knabbereien tischte er ihr freudestrahlend auf.
Die Flasche leerte sich und danach kam, was kommen musste, aber ganz anders, als es Arthur dem schüchternen, braven Engel zugetraut hätte. Cora entpuppte sich als kleines Teufelchen der sexuellen Sünden und während sie seine fast schon schmerzhafte Erektion erneut bestieg, seufzte sie mit laszivem Unterton:
„Ich bin dein Geschenk!“
Sonntagsfrau
Cora wurde Arthurs Sonntagsfrau. Jeden Adventssonntag traf er sich mit ihr wieder an diesem Stand mit dem heißen Apfelwein. Sie amüsierten sich, futterten sich durch das kulinarische Angebot, lachten und scherzten mit Besuchern und gingen dann für die Nacht zu ihm nach Hause. Trotz aller Intimität pflegte Arthur seine Ehrlichkeit. Schon bald wusste sie davon, was er unter der Woche auf seinen Reisen trieb.
„Ich glaube, ich kann das nicht für immer ...“ startete sie ein Gespräch nach ihrem Liebesakt am vierten Advent.
„Was meinst du?“, fragte Arthur bange: „Kannst du ohne Weihnachtsmarkt nicht mehr zu mir kommen?“
„Nein, das meine ich nicht“, setzte sie an: „Ich weiß nicht, ob ich dich ewig mit diesen vielen Frauen teilen will. Ich gebe mich dir hin wie sonst keinem anderen vor dir. Reicht dir das nicht?“
„Aber was fehlt dir, wenn ich noch andere Frauen habe?“
„Ich glaube, ich verliebe mich. Ich bin bereit, dir mein Herz zu schenken.“
Cora sah ihn mit großen Augen an, ihre Hand ruhte auf seinem nackten Bauch. Sie hatte wieder diese süßen Falten auf der Nase.
„Vielleicht liebe ich dich auch?“, fragte Arthur mehr sich selbst als Cora. „Aber womit soll ich dann meine Sehnsucht füllen, wenn ich die ganze Woche unterwegs bin?“
„Fülle sie doch einfach mit Gedanken an mich, deine Cora. Ich mache die ganze Woche nichts anderes. Ich denke an dich. Dafür brauche ich keine anderen Männer. Die interessieren mich nicht.“
Arthur staunte: „Vielleicht würde mir das sogar weh tun, dich im Bett eines anderen zu wissen.“
„Siehst du“, antwortete Cora, „ich habe diesen Schmerz. Willst du ihn nicht für mich genauso tragen?“
„Nein, ich will keinen Schmerz. Warum soll Liebe wehtun?“ Arthur hatte dabei die Stimme leicht erhoben.
„Weil es keine Sonne ohne Mond gibt, kein Licht ohne Schatten, kein Feuer ohne Eis“, philosophierte Cora.
„Ich will aber Sonne, ich will Licht und mich im Winter am Feuer wärmen“, gab Arthur fast trotzig zurück.
„Ich will dich aber ganz. Ich will dein ganzes Herz. Nicht nur eine kleine Kammer davon …“
Cora steigerte sich wütend in ihre bitteren Gefühle.
Arthur spürte Panik. Verlässlichkeit, Vertrauen und Verbindung waren sein Leben lang keine echten Größen in seinem Beziehungshaushalt. Noch nie, weder in seiner Familie noch in seinem späteren Singledasein, hatte jemand sein Herz berührt – oder wenigstens versucht, es zu berühren. Er wusste nicht mehr, ob er damit angefangen hatte, sich abzusondern oder ob ihn einfach nie jemand für längere Zeit in der Nähe haben wollte. Er sah sich als Kind in der Wiege liegen, schreiend nach Wärme und Liebe, aber alle waren beschäftigt und weit außerhalb seiner Antennen. Er hörte das Rauschen von Stimmen, aber keine sprach zu ihm. Er fiel vom Apfelbaum, aber niemand fing ihn auf. Aufstehen musste er alleine. Er knallte mit dem Fahrrad beim ersten Versuch an die Wand, doch es gab nur Gelächter statt Trost. Aus purer Verlegenheit lachte er mit. Er blieb in der neunten Klasse sitzen, aber das schien für niemanden ein Drama zu sein. Mit der Enttäuschung über sich selbst musste er alleine klar kommen. Er tanzte auf dem Abiball mit der Lehrerin und betrank sich mit seinem Deutschlehrer. Seine Mutter hatte keine Lust zu tanzen, der Vater war früher nach Hause gegangen und seine Geschwister hatten keine Zeit für die Feier. Nina, seine erste große Liebe, stellte sich nach sechs Monaten als dummer Fehler heraus. Sie hatte nur ein Sprungbrett gebraucht, um aus ihrer vorherigen, katastrophalen Beziehung heraus zu kommen, nur um sich wieder einem Typen an den Hals zu werfen, der die gleiche Katastrophe sein würde wie ihr vorheriger Partner.
Wieso rauschte eigentlich gerade sein Leben an ihm vorbei?
Arthur konnte nicht unterdrücken, dass ihm die Augen feucht wurden.
„Ich mag dich sehr, Cora. Aber ich kann dir nichts versprechen.“ Er wühlte seinen Kopf in die Nische zwischen ihrem Arm und ihrer nackten Brust, „Gar nichts!“
Cora stricht ihm mit den Fingern über die Haare, ein warmer Tropfen klatschte ihm auf die Wange.
„Ich kann auch nichts versprechen. Gar nichts!“
Irgendwann schliefen die Liebenden ein.
Montag - Weihnachten
Arthur erwachte mit einem dumpfen Schmerz in der Brust. Bevor ihm schwarz vor den Augen wurde, erkannte er eine Frau, die - gleich einem Liebesengel - vor seinem Bett stand. In der Hand hielt sie ein blutendes Herz. Sie lächelte ihn verliebt an und er hörte noch das Wort: „Mein“.
Panik durchflutete seinen Körper wie ein elektrischer Schlag und er schnalzte im Bett hoch. Das Laken klebte nassgeschwitzt und kalt an seinem Körper.
Wieder dieser Traum – aber so real?