Das zweite Türchen
Dunkelland
Alana saß in einer geschützten Ecke ihres Balkons und starrte in die Flammen vor sich. Feuerzungen in blau über rosa bis tiefrot leckten verzehrend über die Holzscheite in der Schale, nagten erbarmungslos an deren Rinde, welche sich bereits in Asche verwandelte. Es war bitterkalt und sternenklar an diesem Dezemberabend. Heiligabend, um genau zu sein. Sie benötigte nach der anstrengenden Familienfeier bei ihrer Schwester und deren nerviger Sippe dringend noch einen nervenberuhigenden Ausklang vor dem Schlafengehen. Krieg endlich dein verpfuschtes Leben in den Griff, du Schlampe, sonst…! Diese mit Verachtung ausgespuckten Worte ihrer Schwester bei der Verabschiedung hämmerten in einer Endlosschleife durch ihren Kopf. Sonst was?
Sie hasste ihre perfekt angepasste Schwester, die sie nur einlud, weil es sich so gehörte und man zu Weihnachten eine harmonische Familie zu sein hatte. Was würden denn sonst die Leute sagen? Und sie – das schwarze Schaf der Familie - ging nur dorthin, weil sie sonst allein in ihre schlimmen Grübeleien verfallen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes – lebensgefährlich, an einem derart gefühlsduseligen Abend. Noch nie, nicht einmal als Kind, war Weihnachten und das unsägliche Gedöns darum ihr Fest gewesen. Für sie war es, seit sie erstmals darüber gelesen hatte, immer das Wintersonnenfest der alten heidnischen Religionen gewesen, dem sie sich zugehörig fühlte, und zukünftig würde sie sich jedweder kommerziell-christlichen Weihnachtstradition widersetzen. Ich hasse dich! Schrie sie in den aufkommenden Sturm, Tränen liefen ihr dabei über die Wangen und natürlich meinte sie sich selbst damit. Weil sie die Kontrolle über ihr Leben verloren und ihre Schwester völlig Recht mit allem hatte.
Das Gebrüll des peitschenden Nordwindes vermischte sich mit dem prasselnden Zischen des Holzes als letztes Aufbäumen vor dem sicheren Feuertod. Feine Asche stob im Windstoß wie schmutzige Schneeflocken auf, wirbelte um Alana herum und bedeckte sie mit einem feinen gräulichen Schleier. Grau, grau, grau sind alle meine Kleider. Grau, grau, grau ist alles, was ich hab. Darum lieb ich, alles was so grau ist, weil in meinem Leben alles scheiße ist… Die Melodie des alten und von ihr abgewandelten Kinderliedes kam ihr leicht über die Lippen, jedoch weniger die Worte, die wie ein zähes Mus zwischen ihren Zähnen klebten. So schwerflüssig wie der eiskalte Dalwhinnie im Glas. Alles Schwenken in Feuernähe nutzte nichts, die Flüssigkeit wollte sich in ihrer Hand einfach nicht erwärmen, so als wäre ihr Körper bereits ohne Leben. Sehnsüchtig begannen ihre Lippen stattdessen an der Cohiba zu saugen, die wenigstens ihrer Mundhöhle ein bisschen Wärme spendete.
Die ringförmigen Rauchwölkchen hatten keine Chance nach oben aufzusteigen, sie lösten sich im starken Windzug einfach auf. Ach könnte ich mich selbst doch auch nur in Luft auflösen! Ein falscher Mann nach dem anderen und die Kontakte beschränkt auf den puren Konsum des Körperlichen. Doch ihr fehlte schon seit langem die Zärtlichkeit in ihrem Leben. Es war gefühlte Ewigkeiten her, dass sie einer ohne sexuelle Hintergedanken einfach nur einmal so in den Arm genommen oder über ihr Haar gestreichelt hatte. Geschweige denn, die drei magischen Worte – ehrlich gemeint – ausgesprochen hätte. Ihre Seele hungerte sich zu Tode und war bereits zu einem Schatten ihrer selbst abgemagert. Emotionen auf Eis, um nicht weiter verletzt zu werden. Stillstand in allem. Ein Leben ohne Nutzen, wertlos. Wozu taugte sie denn? Keiner von diesen Männern, die sie in ihr Leben einlud, wollte sich wirklich auf sie einlassen und allzu viel Gefühl in eine eher flüchtig gehaltene Beziehung investieren. Sie trieb dahin, auf einen Strudel zu, der sie mit Haut und Haar verschlingen würde. So konnte das nicht weitergehen! Mit diesem Verhalten reduzierte sie ihre Person nur mehr auf ihre Körpermitte. Was blieb, war die Verachtung auf sich selbst.
Es war Zeit für eine innerliche Reinigung. Ihr Bedürfnis danach war übermächtig, da traf es sich gut, dass gerade die Zeit der Rauhnächte begonnen hatte. Sie warf einige getrocknete Beifuß-Bündel in die Glut während sie ausdrücklich eine Göttin um Hilfe und Führung anrief und nicht etwa einen der männlichen Götterkollegen. Auch nur Kerle, die mit ihr spielen und sie spinnengleich aussaugen würden!
Würziger, leicht bitterer Kräuterduft erfüllte nun die Luft, überlagerte den Geruch der brennenden Holzscheite, auch den der Zigarre und stieg - von einer ihren Gedanken nachhängenden Alana unbemerkt - in reinen, weißen Schwaden fast senkrecht gen Himmel auf. Eine merkwürdige Stille herrschte mit einem Mal und die Zeit schien stehenzubleiben. Plötzliche und unerwartete Geräusche rissen sie aus ihrer Apathie. Sie schrak hoch.
Lautes Gänsegeschnatter hallte durch die Nacht, welches selbst das Brausen des Sturms übertönte. Ein Gänsezug zu dieser fortgeschrittenen Zeit und bei diesem Wetter? Das war doch nicht möglich! Dachte Alana ungläubig. Doch noch seltsamer waren die geflüsterten archaischen Wortfetzen, die ihr Ohr klar und deutlich trotz der lautstarken Böen erreichten. Deren Bedeutung erschloss sich ihr nicht, aber ihre Magie fühlte sie. Ein Prickeln erfasste ihren Körper von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln und wohltuende Wärme durchdrang sie. Es schien als kehrten Leben und Energie in ihren Leib zurück. Irritiert schaute sie in die Nacht und tatsächlich waren dort einige surreal erscheinende fliegende Schatten im Gegenlicht der Sterne zu sehen. Sie versuchte ihren Blick zu fokussieren. Suchend, was das denn nun genau sein könnte, blieb ihr Blick an der Formation des Gürtels des Orion hängen und diese drei fernen Sonnen zogen sie in Bann. Noch standen sie vertikal, doch im Laufe der Nacht würden sie in die horizontale wandern. Na toll – schon wieder ein Kerl und Sex im Kopf! Alana schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Nein, nicht schon wieder diese Gedanken und Gelüste!
Eine Rauchwolke, wohl aus dem Kamin des gegenüberliegenden Hauses, wanderte in ihr Blickfeld und nun war Alana erst recht verwirrt und zugleich von diesem, sich ihr bietenden Schauspiel fasziniert, denn diese leuchtete von innen heraus und wirkte wie der Umriss einer üppigen Frau mit wild zerzaustem langem Haar. Dieser Schemen trotzte allen physikalischen Gesetzen in Bezug auf Strömungen und schwebte direkt auf sie zu. Er schien auf seinem Weg zu ihr immer mehr Gestalt anzunehmen und auch das Leuchten verstärkte sich. Unfähig sich zu rühren saß Alana wie hypnotisiert. Dass ihr sowohl Glas als auch Zigarre aus den Händen entglitten, bemerkte sie nicht. Dafür erkannte sie immer mehr Details dieser Lichtgestalt. Der kurvige Körper war umflossen von einem samtigen Grün, dazu ungebändigte, kupferfarbene Locken, welche das Gesicht der schwebenden Frau umrahmten, sowie eisblaue Augen, deren Blick bis tief in Alanas Seele zu dringen schien. Auf Augenhöhe direkt vor Alana stoppte der Flug dieser Erscheinung und sanfte Worte formten sich in ihrem Kopf.
Du hast mich gerufen, Menschenkind? Hier bin ich, die Göttin des Lebens, was begehrst du von mir?
Alana stockte der Atem, ihr Herz raste und sie hatte Probleme, einen klaren Gedanken zu fassen. Schwebte da tatsächlich eine leibhafte Göttin vor ihr oder schlief und träumte sie? Sie gab sich einen Ruck, fiel ehrfürchtig auf ihre Knie und rang mit Worten:
Ich habe mich schrecklich verlaufen, große Göttin, und finde den Weg nicht mehr zurück in ein normales Leben. Bitte hilf mir, weise Lebensspenderin, irgendwie! Oder - falls das Göttinnen-technisch nicht geht, dann bitte, sammle meine Seele ein und nimm sie mit dir. In diesem Zustand kann sie nicht mehr bleiben.
Die Göttin lächelte sanft, strich sich nachdenklich über ihr Haar. Kleine Sonnenstrahlen sprühten daraus hervor und erhellten die Nacht. Sie fragte:
Kennst du meinen Namen, Tochter?
Alana brauchte nicht zu überlegen und sprudelte heraus.
Du bist Holda, die weise Frau Ellhorn. Die Schutzgöttin des Lebens, Herrscherin über die Elemente und der Jahreszeiten. Du fliegst jetzt zur Percht auf deinem Gänserich mit der Schar der wilden Hulden über das Land und sammelst die Seelen deiner getreuen Verstorbenen ein. Bitte nimm mich mit, meine Göttin, lass mich nicht hier, bitte. Die Verzweiflung war Alana deutlich anzumerken und ihren letzten Satz hatte sie nunmehr gehaucht.
Du bist von Traurigkeit umweht, Alana, wie alle Menschen mit großen Obsessionen. Doch deine Zeit ist noch nicht gekommen. Mit ein wenig Führung wirst du deine Leidenschaften in die richtigen Bahnen lenken und deinen Weg unter den vielen Möglichen erkennen. Ich habe ein Geschenk für dich, zum Wintersonnenfest.
Frau Ellhorn, mit einem Kranz aus kleinen Sonnen im Haar, strahlte die junge Frau zuversichtlich an und ein langer roter Faden materialisierte sich wie aus dem Nichts in Alanas Händen. Ungläubig starrte die junge Frau das Göttinnen-Geschenk an. Ein Stück Wolle sollte ihre massiven Probleme lösen?
Ich höre deine Gedanken, Alana, und es ist keineswegs ein gewöhnlicher Faden. Ich selbst habe ihn eigenhändig aus der Wolle meiner Himmelsschafe gesponnen, vertrau ihm und damit auch dir. Wir werden uns wiedersehen, doch dies wird in deiner Zeitrechnung noch eine Ewigkeit dauern. Lebe wohl Alana.
Die Gestalt der Göttin begann zu verschwimmen und löste sich auf, nochmals ertönte zusammen mit einem stark aufbrausenden Windstoß das laute Geschnatter der Gänse. Der Sturm schien vor Freude und Lebenslust zu jauchzen. Schließlich herrschte Stille. Das Feuer war niedergebrannt, die Asche bereits erkaltet. Gen Osten verfärbte sich der Himmel bereits in einem zarten Rot. Wie lange war sie mit Frau Ellhorn im Gespräch gewesen?
Alana fror, starrte auf das Stück Faden in ihrer Hand. Sein Gewicht spürte sie nicht. Sie wollte sich vergewissern, dass da wirklich etwas auf ihrem Handteller lag und sie nicht doch träumte. Vorsichtig strich sie mit einem Finger darüber. Seine Haptik war verwirrend, zugleich kratzig und anschmiegsam, fettig und trocken. Auch schien er ein magisches Eigenleben zu entwickeln, denn leuchtende Wärme breitete sich von ihren Händen aus und drang mit ihrer Lebensenergie erneut in jede Faser ihres Körpers. Das Dunkelland in ihr wurde plötzlich hell. Und da erkannte sie ihren eigenen Weg, klar und deutlich. Sie musste ihm nur noch folgen.