“Gedächtnisernte, Einsamer der Zeit”
Untertitel „Gardien du mal“ Teil 3
Das kleine, unscheinbare Vogesendörfchen im Osten Frankreichs liegt unter geheimnisvoll wirkenden, Angst erzeugenden Nachtnebeln versteckt. Furchterfüllt scheinen sich die kleinen Häuschen an den Boden zu drücken. Wie begraben wirkt die Örtlichkeit und deren Umgebung. Hoch oben auf einer Bergkuppe liegt eine alte, verfallene Ferme. Hier haust Pasternak, ein Tscheche mit russischen Wurzeln, welchen es vor vielen Jahrzehnten an diesen Ort verschlagen hat. Wie genau er hierher kam, niemand weiß es so richtig. Keiner der Einwohner aus der Zeit als Pasternak hier auftauchte lebt noch. Auch Marie-Claire, seine einstige Freundin ist schon lange Jahre tot. Aus seinem Leben trat sie allerdings schon viel früher. Gerüchte, Vermutungen, böse Ahnungen und Angst bestimmen das Bild, welches der wuchtige und massig gebaute Mann in den Bewohner erweckt. Seine äußere Erscheinung trägt dazu bei. Ungepflegtes Haar, ein urwüchsiger Bart, schmuddelige Kleidung. Der Ruf eines bösen Menschen, eines der schwarzen Künste Mächtigen, haftet ihm an. Verbindung mit dem Gehörnten wird ihm nachgesagt. Die Dörfler schätzen sein Alter zwischen sechzig und siebzig Jahren. Sie ahnen nichts über die wahre Geschichte des im Dorf verachteten und gefürchteten Mannes. Immer trägt der verfemte Unheimliche eine gut gepflegte doppelläufige Schrotflinte bei sich. Nie sah ihn jemand unbewaffnet. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er auf eine nur ihm bekannte Weise, weitere Nahrung für böse Gerüchte. Seine Ferme ist von wildem Gestrüpp, Steinwällen und Felsbrocken umgeben. Ginsterbüsche und wilde Hecken schirmen jeden Einblick ab. Ein fester Holzzaun schließt die wenigen Lücken. Ein unheiliges Refugium, ein Heim des Bösen. Die Höhle des „Gardien du mal“ wie Pasternak hinter vorgehaltener Hand seit Jahrzehnten genannt wird. Pasternak genießt seinen schlechten Ruf und die damit verbundene Abgeschiedenheit. An irgendwelchen Kontakten ist er schon lange nicht mehr interessiert. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, eher das Gegenteil. Jedermann tut gut daran, ihm aus dem Weg zu gehen.
Wir schreiben das Jahr 1990. Ein weiteres Dutzend Jahre ist vergangen seit ich zuletzt über Pasternak und sein Leben berichtete. Nicht viel hat sich seitdem geändert, quasi nichts. Pasternak pflegt seinen schlechten Leumund und die Dorfbewohner ihre Borniertheit. Ein Zustand, welcher zumindest Pasternak mehr als recht ist. Er lebt hier als Einsamer der Zeit, im stillen Gedächtnis grausiger Erinnerungen. Abgekapselt in sein früheres Leben als Soldat der französischen Armee. In seiner zweiten Existenz als furchtbarer Rächer, gnadenloser Mörder und unbarmherziger Richter an den überlebenden deutschen Soldaten. Nach langen Jahren der Suche fand er auch den letzten, den deutschen Hauptmann. Den Befehlshaber der Sturmtruppen, welche seine Kompanie dahin meuchelten. Das Massaker, welches das Leben des jungen hoffnungsfreudigen und lebenslustigen Pasternak veränderte.
17.09.1915, der Tag seines 27ten Geburtstags. Ein Tag, den Pasternak nie vergessen wird.
In der Nacht überfallen deutsche Sturmtruppen des Regiments „Graf Bose“ die geschwächte französische Kompanie des Caporals Pasternak. Ein furchtbarer Grabenkampf tobt. Schüsse belfern, Todesschreie gellen, blanke Klingen dringen in warmes Fleisch. Das Bild von Benoit, vom Säbel des deutschen Hauptmanns zerfleischt. Zerschmetterte Köpfe, grausam entstellte Gesichter, gespalten von brutalen Spatenhieben. Blutüberströmte Leichen in den Laufgräben und Unterständen. Fanatische deutsche Soldaten, sterbende Kameraden. MG-Schüsse
knatterndurch die Nacht. Heftige Schläge in seine Brust. Ein Hieb an den Kopf und dann lange Monate in endloser Dunkelheit. Seine schweren Verletzungen, die er wie durch ein Wunder überlebte. Zaghaftes Erwachen im Militärhospital. Der Bruch mit Marie-Claire, im Winter 1916, die den innerlich veränderten Pasternak nicht mehr lieben kann. Die ehrenvolle Beförderung zum Leutnant, eine Geste die seine Qual nicht mindern konnte. Den Pfad der Rache, den der Tscheche dann beschritt. Wieder Blut und Leid, diesmal auf deutscher Seite. Die lange Jagd auf den deutschen Hauptmann, welche an dessen hundertstem Geburtstag begann und viele Jahre dauerte. Den
bangen Ausdruck in dessen brechenden Augen, als er die Wahrheit erkannte. Den jungen französischen Unteroffizier als furchtbaren Rächer erlebte, als Wanderer zwischen den Zeiten. Dann die Zeit der Ruhe, des Nichtstuns, die den alten Kämpen mit einer Schicht trügerischen Selbstmitleides
überzogen hat. Pasternak ist nun gut über hundert Jahre alt. Eine letzte Aufgabe wartet noch auf ihn, dann ist es Zeit zu gehen.
Es ist die Zeit des Frühsommers, die Ginsterbüsche an den Hängen
blühen in den verschiedensten Gelbtönen. Es ist nichts los im ärmlichen Dörfchen, nur ein paar Hunde jagen hinter herrenlosen Katzen her. In der alten Dorfbäckerei brennt Licht. Antoine backt derbes Bauernbrot. Eine Handvoll Dörfler ist unterwegs zur benachbarten, 25 Kilometer entfernten Kreisstadt. Dort findet heute eine Demonstration statt und da Freitag ist, war der Begriff
Freitagsdemo schnell vergeben. Ein fahrender Barbier hatte Anfang der Woche die Neuigkeit ins Dorf getragen, wusste von wundersamen Menschen zu berichten. Feine Herren und Damen, einer großen Baugesellschaft. Man munkelte sogar von einem Staatssekretär. Von Investitionen und großen Vorhaben. Jedenfalls alles Angehörige der
Smobie und
ChipGeneration, vornehme Visionsträger, Ideenschmiede. Die Neugierde der simplen Dorfbewohner war geweckt. Das kleine Dörfchen und die knapp zweihundert Seelen, die es bewohnen ahnen noch nicht, dass heute auch für Pasternak ein wichtiger Tag ist, dass ihr Dorf eine einschneidende Veränderung erleben wird, welche die billige Zurschaustellung in der Kreisstadt zur Nichtigkeit degradieren wird.
Ein schrecklicher
Katarrhquält den alten „Gardien du mal“. Das Atmen fällt ihm schwer und Hustenanfälle suchen ihn seit geraumer Zeit heim. Aber er hat noch einen Dienst zu erfüllen. Ein letzter wichtiger Tag, der heute seinen Jahrestag findet. Der Tag an dem seine Kompanie in dieses Tal kam. Hin befohlen zur Bewachung einer Nachschub Trasse. Ein Weg in den Tod. Müde schüttelt Pasternak seinen Kopf. Die Erinnerungen, die Ernte einer bösen Saat peinigen ihn sehr.
Sorgfältig rasiert er sich, frische Wäsche und ein frisches Uniformhemd. Seine alte Paradeuniform liegt auf der Lagerstatt bereit. Davor stehen seine frisch gewachsten Offiziersstiefel. Der Degen glänzt blankpoliert in seiner Lederscheide. Sorgsam kleidet sich Pasternak an, setzt zum Schluss seine Offiziersmütze auf sein, in der Nacht kurgeschnittenes, Haar. Seine rechte Hand liegt auf dem Degengriff. Forschen Schrittes, aufrecht und gerade verlässt er sein Blockhaus und überquert den Hof seiner Ferme. Festen Schrittes schreitet er zu den, im ersten Morgenlicht liegenden, ehemaligen Stellungen. Für Fremde ist hier nicht mehr viel zu sehen. Vor Pasternaks Augen erscheint das Gelände allerdings wie im September 1915. Auf einer kleinen Anhöhe bleibt er stehen und überblickt das Terrain, vermeint Bewegungen zu erkennen, die Anwesenheit seiner Kompanie zu spüren. Aber auch das von Toten übersäte, von Kampfspuren zerstörte, Gelände sieht er. Pasternak nimmt Haltung an, seine Hand fährt grüßend zum Mützenschirm. Schneidig schlägt er die Hacken zusammen. Ein letzter, ehrerbietiger Gruß an Benoit und all die anderen Kameraden. Mit kräftiger Stimme singt er die Marseillaise, die Chant de guerre pour l‘armée du Rhin. Das Kriegslied für die Rheinarmee.
Ein allerletzter Blick fällt auf das große Holzkreuz, welches Pasternak vor vielen Jahren an dem Kampfplatz errichtet hat. Dann wendet er sich ab, schreitet voran, passiert seine Ferme und verschwindet in den Wäldern des nächsten Tales. Nie wieder ward er gesehen und niemand weiß, wohin der geheimnisvolle „Gardien du mal“ gegangen ist. Ob er immer noch lebt. Die Geheimnisse um die Person des Pasternak werden den Dörflern auf immer verschlossen bleiben. Nur wir haben dank dieser Geschichte einen kleinen Einblick in seine zerrissene Seele gewonnen. Aber die Geschichten um Pasternak erzählt man sich noch heute in dem kleinen Vogesendörfchen und immer noch hinter vorgehaltener Hand. Man weiß ja nie!
Kamasutra 19.03.2019