Irgendjemand muss immer sterben
Er war noch keine fünf Minuten unterwegs, da rief Nicole an. Er gab den Anruf frei und sie sagte ohne Gruß: „Mein Gott, Christian, was hast du getan?“
Ruhig antwortete er: „Nichts, dass irgendwelche Auswirkungen auf dich haben sollte.“
„Da irrst du dich. Sigrid hat mich vorhin angerufen. Sie ist von einer Sylvie Skagen zusammen mit zwei Typen von NordicSF so ausgequetscht worden, dass sie reif für die Klapse ist!“
„Was wollten sie wissen?“
„Sie haben nur nach dir gefragt. Sigrid musste jedes Wort wiederholen, dass sie mit dir gewechselt hat und vor allem waren sie interessiert daran, worüber du mit der schwarzhaarigen Frau gesprochen hast, doch davon hatte Sigrid kaum etwas mitbekommen. Wer war das, Christian?“
„Unwichtig.“
Nicole wurde lauter. „Unwichtig? Sie haben Sigrid gesagt, dass sie ihren Job verlieren wird. Die Arme weiß nicht einmal warum, aber das hat die Leute gar nicht interessiert. Ich hatte gerade das Telefon aufgelegt, da waren sie bei mir und haben mich genauso wie Sigrid über dich ausgequetscht. Die Skagen wollte alles hören, was ich von dir weiß; deine Gewohnheiten, deine Freunde, sogar, wie du es mit mir im Bett getrieben hast. Die Frau hat überhaupt keine Hemmungen. Ich soll dir von ihr ausrichten, dass ich auch meinen Job verliere, wenn du ihr nicht gibst, was sie haben will. Und wenn du dann immer noch zickig wärst, würden mich die beiden Männer wieder besuchen kommen. Alleine.“
Jetzt schrie sie: „Du hast gerade zwei Leben zerstört, dass von Sigrid und meines. Und ich dämliche Kuh hatte gedacht, dass du mich vielleicht ...“
Sie schluchzte einmal auf und sagte dann leise, mit etwas Endgültigem in der Stimme: “Ich wünschte, du wärst mir nie begegnet. Ruf mich nie wieder an, komm nie wieder in mein Bistro - falls ich da morgen noch arbeite - und scher dich aus meinem Leben raus. Ich hasse dich!“
Sie legte auf und er warf einen Blick in den Rückspiegel - der Wagen hinter ihm war noch da. Vor Nicoles Anruf hatte Christian noch geplant, durch die Stadt zu fahren und ihn abzuhängen. Der Plan hatte sich gerade geändert.
Er nahm seinen gewohnten Weg nach Wittenförden über die Umgehungsstraße. Als er den Ortseingang erreichte, blieb der Wagen hinter ihm zurück und kurz darauf bog Christian in die kleine Seitenstraße zu seinem Haus ein. Licht schimmerte durch die Gardinen seines Wohnzimmers, ein weißer Smart parkte auf seinem Stellplatz und eine Frau stand in seiner geöffneten Haustür.
Weich ließ er den Wagen ausrollen, parkte ihn hinter dem Smart und stieg aus. Seine Haustür bestand aus stahlverstärktem, massivem Holz, die Zahlenkombination für sein elektronisches Schloss kannte nicht einmal Nicole und die Kombination wechselte er mindestens einmal im Monat. Es gab nicht viele Möglichkeiten, eine Tür mit einem solchen Schloss zu knacken, genau genommen nur drei: die richtige Zahlenkombination zusammen mit seinen Fingerabdrücken, eine Ramme oder einen Arkotkey.
„Sie sind spät dran“, sagte Sylvie Skagen und es klang, als würde eine Ehefrau ihren Mann fragen, wo er so lange gewesen war.
„Was lässt Sie glauben, dass ich nicht die Polizei rufe?“
„Die Intelligenz, die ich bei Ihnen vermute. Ich will mit Ihnen reden. Allein.“
Sie ging hinein, ließ die Haustür aber offen. Er warf einen Blick in ihren Zweisitzer. Niemand saß darin und das sollte dann wohl bedeuten, dass Wielanders Assistentin alleine hier war. Das Kribbeln in seinem Nacken sagte etwas anderes.
Er ging zum Briefkasten, klappte ihn auf und nahm wie jeder andere beim Nachhausekommen auch die Werbung heraus. Dass er dabei mit einem schnellen Handgriff den Speicherchip aus der kleinen Kamera im Inneren herauszog, konnte nur jemand bemerken, der von dem Versteck wusste. Gesteuert von einem Bewegungssensor nahm sie durch ein winziges Loch im Briefkasten alles auf, was sich nach Einbruch der Dunkelheit vor seiner Haustür abspielte und zweigte den Strom dazu tagsüber von der Klingelleitung ab.
Er tippte auf dem Kombinationsschloss neben der Tür seinen Zahlencode ein und legte den Daumen auf den Fingerabdruckscanner. Die grüne LED blinkte dreimal kurz auf - das System war in Ordnung. Er gab den Code für den Systemstatus ein und das Ergebnis fiel aus, wie er vermutet hatte. Vor zehn Minuten war die Tür geöffnet worden - mit seinem Code und mit seinem Daumenabdruck. Er gab einen weiteren Code ein. Wenn er jetzt die Tür von innen schloss, schaltete sich das System aus und dann war sein Haus eine Festung, die nur noch rein mechanisch von innen geöffnet werden konnte. Dann brauchten sie tatsächlich Sprengstoff oder eine Ramme, um hineinzukommen und er war sich sicher, dass sie beides nicht einsetzen würden. Nicht in dieser Nacht und nicht in dieser Wohnsiedlung. Die Presse wäre in spätestens zehn Minuten hier, die Polizei nicht viel später und beides konnte Wielander nicht gebrauchen.
Irgendwo jaulte eine Katze in der Dunkelheit und er blickte noch einmal die Straße entlang. Kein Wagen, der nicht hierher gehörte, parkte hier außer dem von Sylvie Skagen. Fast alle Häuser waren dunkel, nur aus ein paar wenigen Schlafzimmerfenstern schimmerte noch Licht. Eine friedliche Nacht, wie es schien.
Er ging hinein. Mit einem satten Geräusch fiel die Tür ins Schloss und mit leisem Summen fuhren die fünf drei Zentimeter dicken Edelstahlbolzen in ihrem Innern in die Verriegelungsposition.
Der helle Mantel, den die Skagen getragen hatte, hing an seiner Flurgarderobe. Er hängte seine Lederjacke daneben, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank.
„Wollen Sie auch ein Bier?“, rief er durch die offene Tür und steckte den Speicherchip der Kamera in sein Smartphone. Im Schnelldurchlauf verfolgte er, was sie in den letzten dreißig Minuten aufgenommen hatte. Als der große Mann mit den blonden Haaren aus dem Wagen ausstieg und sich an das Chassis lehnte, stoppte Christian die Wiedergabe und betrachte ihn einen Moment. Dann sah er sich den Rest der Aufnahme an, nahm sein Bier, ging durch den Flur zur Wohnstube und lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen.
Wielanders Assistentin hatte nur die Stehlampe in seiner Sitzecke angemacht. Sie selbst stand vor einem seiner deckenhohen, bis zum letzten Platz gefüllten Regale und musterte die Aufschriften auf den Buchrücken. Ihre Kostümjacke hatte sie leger über die Seitenlehne der Couch fallen lassen. Perfekt setzte das nicht allzu helle Licht ihre Beine unter dem safrangelben Rock und das, was sich unter ihrer roten Seidenbluse verbarg, in Szene.
Er sagte: „Sie haben eine Freundin von mir bedroht und sind in mein Haus eingebrochen.“
„Ach kommen Sie. Das muss Ihnen doch klar gewesen sein. Auch, dass es erst der Anfang ist.“
Mit der Hand strich sie an den Buchrücken entlang und nahm hier und da eines heraus. „Interessante Sammlung. Kein Fernseher, kein Radio. Natürlich. Was Sie sehen und hören, wann Sie es tun - Sie wissen, dass alles gespeichert wird. Aber auch das Sie es nicht tun, wird gespeichert. Sie können sich nicht dagegen wehren. Schon die Tatsache, dass Sie es überhaupt versuchen, sagt etwas über Sie aus.“
Sie stellte das Buch, das sie in der Hand hatte, wieder zurück ins Regal und griff nach einem anderen. Mit schlanken, sehr gepflegten Fingern blätterte sie durch die Seiten. „Wir wissen alles über Sie, Svensson. PPSA. Schon mal gehört davon?“
Er nahm einen Schluck Bier. Die Prognostische Persöhnlichkeitsstrukturanalyse war eine Weiterentwicklung von Freuds Psychoanalyse. Michael Kosinski hatte sie zweitausenddreizehn aufgebohrt und auf das Nutzerverhalten in sozialen Netzwerken angewendet. Zehn Klicks und ein Computerprogramm konnte menschliches Verhalten besser voraussagen als die eigene Ehefrau. Cambridge Analytica hatte das für Trumps Wahlkampf eingesetzt, Millionen Nutzerprofile ausgespäht und mit den Ergebnissen dessen Leute Klinken bei amerikanischen Wählern putzen lassen. Anschließend hatten sie Nebelkerzen geworfen, es den Russen in die Schuhe geschoben und die Presse war freudig draufgesprungen. Es war der größte Wahlbetrug gewesen, den es je gegeben hatte. Heute war es Standardausrüstung jeder Personalabteilung, jedes Geheimdienstes und der Polizei. Es sprach nur keiner drüber. Täte er es, würde es in seiner PPSA erscheinen und er würde nie wieder einen Job bekommen. Nirgendwo auf der Welt.
Nur vergaßen diese Computerfetischisten, dass es nicht nur darauf ankam, was die Menschen taten, sondern auch, wie sie es machten und vor allem warum. Schnell, langsam, zögerlich, entschlossen - wenn es hart auf hart kam, waren diese Informationen unbezahlbar und nur Intuition und Erfahrung brachten sie ans Licht - etwas, was kein Computerprogramm der Welt besaß. Es dürfte der Grund sein, weswegen Wielanders Assistentin hier war. Sie wollte etwas wissen. Es war auch der Grund, warum er sie nicht hinauswarf. Er musste auch etwas wissen. Über sie.
Er fragte: „Wie sind sie hereingekommen?“
„Das war einfach. Arkot-Schlüssel, falls Ihnen das etwas sagt.“
„Scannt die Fettspuren auf den Sensorfeldern und errechnet über Wahrscheinlichkeiten die Kombination. Die Papillarmuster auf dem Fingerabdrucksensor werden analysiert, kopiert und nachgebildet. Schon der Besitz bringt sie ins Gefängnis. Ich kannte das Computergenie, das ihn entwickelt hat. Borg hieß er. Er hat es dann an beide Seiten verkauft.“
Ihr Gesicht lag im Schatten der Stehlampe und so sah er ihre Reaktion nicht. Aber das sie das Buch in ihrer Hand mit einem Knall zuklappte, war eine Information und er war nicht der Mann, sie zu übersehen.
Sie stellte den dicken Wälzer ins Regal zurück und kam zu ihm herüber. Einen halben Schritt vor ihm blieb sie stehen, nah genug, dass er ihren schweren Duft roch. Veilchen oder irgend so etwas. „Sie wirken ein wenig gestresst, mein Lieber. Kommen Sie herunter davon. Ich will Ihnen nichts tun. Oder vielleicht doch - kommt darauf an.“
„Worauf?“
„Wie gerne Sie spielen.“
Lächelnd fuhr sie ihm mit einem rotlackierten Fingernagel über die Wange, fest genug, dass er eine feurige Spur auf seiner Haut hinterlassen musste. Er griff nach ihrem Handgelenk und drückte es weg. „Falls es auf das hinausläuft was ich denke - kein Interesse. Das war alles schon einmal da. Schöne schlechte Frau verführt den Helden, er wird weich und gibt ihr, was der große Boss will.“
„Dann gibt es kein Happyend? Ich bin enttäuscht.“
„Nein. Irgendjemand muss immer sterben. Die Schöne oder die Hoffnung. Meistens beide.“
„Also kein Lichtblick?“
„Nicht in dieser Welt.“
Er zögerte, dann setzte er hinzu: „Vielleicht in der Nächsten. Wenn Sie an ein Leben nach dem Tod glauben.“
„Tue ich nicht. Was zu erledigen ist, müssen wir in diesem Leben machen. Deswegen bin ich hier.“
„Sie wollen den Chip.“
„Der ist nur Nebensache. Ich will dich.“
Lachend fuhr sie ihm wieder mit dem Finger über die Wange. „Ich bin es gewohnt, das Männer anfangen, zu sabbern, wenn sie mich sehen. Du tust so, als würde ich dich kalt lassen und das reizt mich. Du kneifst vor Wielander nicht den Schwanz ein und was dabei herauskommt, will ich mir von einem Logenplatz aus ansehen.“
Sie drehte sich um und ging zur Couch. „Dieser hier wäre gar nicht schlecht dafür.“
„Was ist mit der Kavallerie da draußen?“
„Ich bin alleine. Nicht einmal Wielander weiß, dass ich hier bin. Der Wagen hinter dir war nur dazu da, mich zu informieren, wo du bist. Er ist wieder weg. Ich bin also ganz in deiner Hand.“
Sie ließ ihr Handy auf das kleine Tischchen vor der Couch poltern, klappte die Rückwand auf und nahm den Akku heraus. „Damit du mir glaubst. Möchtest du mich noch durchsuchen und herausfinden, ob ich verwanzt bin?“
„Möchten Sie?“
„Vielleicht später. Erst müssen wir reden über Dinge, die dir wahrscheinlich nicht klar sind. Das Video nutzt Wielander gar nichts. Er weiß genug über den Dreck, den Mikkelsen am Stecken hat. Dir nutzt es auch nichts, weil du es nirgendwo veröffentlichen kannst. Es sieht also aus wie eine Pattsituation, doch lass dich davon nicht täuschen. Das, was Wielander mit dir gemacht hat, war nur ein Test, um dich einschätzen zu können. Du musst dir darüber im Klaren sein, dass er ein Problem hat, so lange noch zwei Menschen leben, die wissen, was auf dem Flughafen wirklich passiert ist und die er nicht kontrollieren kann - du und die Mettler. Er wäre der falsche Mann auf seinem Stuhl, wenn er das so einfach hinnehmen würde. Sie liegt im Moment in der Psychiatrie am Schweriner See, es gibt da einen wunderschönen Park rundherum und malerische Wege, die direkt am Wasser entlang führen. Sie wird hineinfallen und nicht wieder auftauchen. Keine Untersuchungen, denn schließlich war sie ja nicht umsonst in der Nervenklinik. Was er sich für dich ausdenkt, weiß ich nicht. Nur, dass er es tun wird und du es nicht kommen sehen wirst. Doch er wird es mit mir vorher besprechen und vielleicht werde ich es sogar sein, die dich dann ein zweites Mal besucht.“
Sie schlug die Beine übereinander. Nicht provozierend langsam, aber deutlich genug, dass er es nicht übersehen konnte.
„Du würdest zwischen meinen Beinen sterben, in dem Moment, in dem du deinen Orgasmus hinausschreist. Es würde dir bestimmt gefallen. Sie schreien alle bei mir.“
Mit den Händen prüfte sie den Sitz eines Strumpfes an einem endlos langen Bein. Dann zog sie einen Schuh aus, stellte den Fuß auf den Rand der Couch, schlang die Arme um das Knie und sagte mit viel Rauch in der Stimme: „Brauchst du den Türrahmen eigentlich zum Festhalten oder musst du dir Mut antrinken? Setzt dich zu mir.“
„Der Preis?“
Ihr Lächeln vertiefte sich. „Das Video, damit ich Wielander beruhigen kann und vielleicht noch die eine oder andere kleine Gefälligkeit. Du kannst so gut mit bösen Jungs umgehen und mir klebt gerade einer an den Hacken, den ich gerne loswerden würde.“
Er schüttelte die Flasche. Sie war leer. „Sie sind in mein Haus eingebrochen, haben einen Menschen bedroht, der mir etwas bedeutet, und reden so locker über Mord wie ich über das Essen von gestern in der Flughafenkantine. Sie können nicht glauben, dass ich mich auf Sie einlasse.“
„Warum hast du dann in zwei Schlucken dein Bier ausgetrunken? Deine Blicke brennen mir Löcher in die Strümpfe und deine Zunge ist ständig auf deinen Lippen unterwegs. Es sind deine Hormone und ich bin es, die sie in dir zum Kochen bringen. Wehr dich nicht dagegen, komm lieber zu mir.“
Sie klopfte leicht mit der flachen Hand auf den Bezug seiner Couch und es war ein so übles Klischee, das sie selbst es wissen musste. Nicht nur das, sie spielte es auch noch so miserabel, dass es eine Beleidigung für die Intelligenz jedes Kleinstadtganoven gewesen wäre.
Sie schaute ihn an, den Mund halb geöffnet und fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Dann richtete sie ihren Blick auf etwas neben seiner linken Schulter, dann wieder auf ihn und noch einmal an ihm vorbei. Da, wo sie hinschaute, war nur ein Stück schmucklose Wand und das Fenster …
Plötzlich begriff er. Wenn Wielander so gut war - und davon war auszugehen nach allem, was Christian bis jetzt wusste - dann wusste er auch über die Vergangenheit des Hause Bescheid. Vor Christian hatte es einem hohen Beamten aus dem Betrugsdezernat gehört. Der Mann hatte sich mit Korruption in den eigenen Reihen herumgeschlagen und eine Festung daraus gemacht. Mit der Hand tastete Christian hinter sich nach dem Schalter, drückte ihn und die Stahllamellenjalousien ratterten herab. Ab jetzt war sein Haus ein überwachungstechnisches schwarzes Loch.
Das schmetternden Krachen ließ Sylvie zusammenzucken. Doch sie fing sich schnell wieder und sagte: „Ich hatte fast befürchtet, dass ich deine Intelligenz doch überschätzt habe. Was hier gesprochen wird, kann man mit einem guten Richtmikrophon über mehr als einhundert Meter hören. Deswegen konnte ich es dir nicht sagen, du musstest schon selbst darauf kommen.“
Sie blickte nach unten auf ihre Füße, und als sie wieder aufschaute, war der Ausdruck kühler Überlegenheit aus ihren Gesicht verschwunden. Es war jetzt weich, fast verlegen.
„Ich hatte so gehofft, dass du es verstehst. Wenn so ein Alphatier wie du auf Wielander trifft, muss ich hinterher immer das Blut aufwischen. Es ist nie seines und ich will nicht, dass auch deins dazukommt.“
Sie stützte ihren Kopf in die Hände, verbarg ihr Gesicht vor ihm und sagte durch die Finger so leise, dass er es fast nicht verstand: „Ich möchte nur eine Frau sein. Eine Mutter mit lachenden Kindern und einem Mann, an den ich mich anlehnen kann. Der für mich da ist und mich nicht als Werkzeug benutzt. Ist das so schwer zu verstehen?“
Sie hob wieder den Kopf und sah ihn an. Etwas Bittendes war in ihrem Blick und sie sprach schnell, fast Stakkato. „Ich bin müde, unglaublich müde. Ich will nicht mehr sein Spielzeug sein. Mein Kontrakt bei NordicSF gilt auf Lebenszeit. Wie bei jedem anderen. Eine Kündigungsfrist ist nicht vorgesehen. Es gibt nicht mal Vordrucke im Office dafür. Du kannst es schaffen. Du kannst mit ihm fertig werden. Du bist der Erste, dem ich das zutraue. Aber du brauchst mich dafür. Das alles ist nur der Anfang. Er vergisst niemals, egal wie gut du bist, irgendwann wird er dich kriegen, wenn ich dir nicht helfe und das werde ich tun. Du hast ihm gegenübergestanden und ich habe es gefühlt. Du bist meine Fahrkarte in ein normales Leben. In die Freiheit. Bitte. Ich mache alles, was du willst dafür. Stoß mich nicht weg.“
Heftig hoben und senkten sich ihre Brüste unter der roten Seidenbluse. Sie senkte den Kopf. „Bitte setz dich wenigstens zu mir. Ich bin ein fühlender Mensch, kein Stück Holz.“
Er stieß sich mit den Schultern vom Türrahmen ab und ließ sich in den Sessel neben sie fallen.
Sie griff nach seiner Hand. „Du glaubst mir nicht.“
„Nein.“
Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, blickte ihm einen Moment ins Gesicht, dann schloss sie die Augen und küsste ihn fest auf den Mund. Ihre Zunge strich zart über seine zusammengepressten Lippen und schob sich, als sein Widerstand erlahmte, zwischen sie. Mit einer Hand in seinem Nacken presste sie ihn an sich, zog sich daran von der Couch hoch und ließ sich in seinen Schoss fallen.
Erst jetzt gab sie seinen Mund frei und sagte: „Wielander benutzt mich, um Verträge abzuschließen, wenn er es mit Druck und Geld nicht schafft. Ich mache jetzt einen Vertrag mit dir. Ohne Druck, ohne Geld. Nur ich. Küss mich und dann sag mir, dass du es nicht willst.“
Tief schaute sie ihm in die Augen und als er nicht antwortete, küsste sie ihn wieder voller Leidenschaft. Schließlich musste sie Luft holen, er nutzte den Moment und fragte: „Warum ich?“
Sie kuschelte sich an seine Brust und ihre Haare kitzelten sein Kinn. Frisch wie ein Frühlingsmorgen am Meer rochen sie und so war auch ihre Stimme - jedes Wort eine Welle, die sanft an den Strand lief. „Ich habe mir das Video von der Schlägerei in der Straßenbahn angesehen. Du hattest Mitleid mit der Kleinen. Du wolltest ihr helfen, obwohl du es nicht hättest tun müssen und du hättest die beiden getötet, wenn das Mädchen dich nicht im letzten Moment aufgehalten hätte. Das ist der Grund. Weil du ein wirklicher Mann bist. Weil du so stark bist, dass ich mich bei dir geborgen fühlen kann. Weil du ein Killer bist, der voll mit Gefühlen ist und die will ich haben. Für mich.“
So leise, dass er es fast nicht verstand, flüsterte sie an seinem Ohr: „Ich würde alles tun dafür. Und für dich.“
Er räusperte sich. „Du hast Nicole gedroht, sie vergewaltigen zu lassen.“
Sie knabberte zärtlich an seinem Ohr. „Du Dummerchen, ich bin Wielanders bestes Pferd im Stall. Seine Leute waren dabei und ich durfte mich nicht verraten. Ich habe dir gesagt, dass ich auf dich aufpassen werde. Ihr wird nichts geschehen. Nicht, wenn ich es verhindern kann, das verspreche ich dir.“
Sanft sagte er: „Aber du brauchst das Video dafür.“
„Später. Jetzt brauche ich deine Arme. Halt mich fest. Einfach nur fest.“
Ihr Atem strich über seine Haut und ihre Finger streichelten seinen Nacken. Sein Tag war hart gewesen, er war angeschossen und bedroht worden. Nichts mehr wünschte er sich, als sich fallen lassen zu können; nicht mehr denken zu müssen; nicht mehr hinter jeder Ecke einen Feind zu sehen. In seinen Armen lagen gut sechzig Kilogramm pure Weiblichkeit, warm, anschmiegsam und schutzlos. Mit einer einzigen Muskelkontraktion seiner Arme hätte er sie töten können und sie musste das wissen. Trotzdem schmiegte sie sich an ihn und es machte, dass etwas in ihm ihr glauben wollte. Doch der Feind des Glaubens ist Wissen und deshalb war genau jetzt einer der Momente, in denen er das Leben zum Kotzen fand.
Er strich ihr sanft über das Haar, dann löste er sie von seinem Hals und schaute ihr ganz nah in die Augen. Groß und blau waren sie und eigentlich wunderschön und voller Wärme für ihn.
„Hey, was ist?“, fragte sie.
Vorsichtig schob er eine Hand unter ihren Po, mit dem anderen stützte er ihren Rücken und stand mit ihr in den Armen auf. Lächelnd flüsterte sie: „Ich hatte es dir versprochen.“
Er setzte sie auf der Couch ab und schüttelte den Kopf. „Ich hole erst den Speicherchip. Ich will nicht, dass irgendetwas zwischen uns steht. Wie viel Zeit haben wir?“
Es war die letzte Chance, die er ihr gab und wenn er sich etwas wünschte, dann, dass sie sie ergriff.
Doch sie zog ihn nur noch fester an sich heran. „Wir haben alle Zeit der Welt. Niemand wartet irgendwo auf mich. Niemand weiß, dass ich hier bin. Mach schnell, ich will dich spüren.“
Er machte sich los und ging viel ruhiger, als es in ihm aussah, in die Küche. Irgendjemand muss immer sterben, dachte er. Entweder die Schöne oder die Hoffnung.