der Mensch
Ich liege im weichen Moos und schau durch die Fichten in den Himmel hinein. Irgendwo ruft ein Kuckuck seinen Namen. Es riecht nach Baumharz und Walderdbeeren, ab und an brummt ein Käfer im Tiefflug an mir vorbei, und das kleine Bächlein gluckst leise vor sich hin, in diesem stillen, friedlichem Wald.
Wie schön es hier doch ist, und wie schön man hier in dieser Ruhe mit den Gedanken spazieren gehen kann, keine 3 Minuten vom nächsten Städtelchen entfernt, ist es, als wär man aus der Zeit gefallen.
„Wusstest du, dass diese Krater hier im Wald, alle von Bombenabwürfen sind?“
Etwas erstaunt drehe ich mich auf den Bauch, seh vor mir zwei nackte Füße und Beine in grauen Hosen.
„Nein das wusste ich nicht“ entgegne ich, blinzle gegen die Sonne und versuche den Menschen zu erkennen, der vor der Sonne steht, und die ihm eine goldene Korona ums Haupt flicht.
Als ich aufstehen will, heißt mich der Unbekannte mit bestimmter Stimme:
„Liegen bleiben“ und fast entschuldigend schickt er ein „bitte“ hinterher.
„Es war ein schönes Bild als du da lagst, so friedlich im Grün, also bitte bleib...“
Einen Moment grüble ich über dieses seltsame Begehren, dann drehe ich mich auf den Rücken, schau wieder in den Himmel hinein, seh die Wolken ziehen, und hör den Kuckuck rufen.
Neben mir knackst es leise, als der Mensch links von mir in die Knie geht, und sich lang hin streckt.
Kurz dreh ich meinen Kopf auf seine Seite, seh eine spitze Nase und ein kantiges Gesicht, als er sachte, fast wie zufällig den Kopf schüttelt, wende ich meinen Blick von ihm ab und wieder dem Himmel zu.
Ich glaube, auch er sieht den Wolken zu, malt tausend Wolkenbilder, lässt in Gedanken entstehen und zergehen, und atmet dabei in gleichmäßigen Zügen ein und aus.
„Woher weißt du das mit den Bombenkratern?“ frag ich den Menschen neben mir.
„Weil ich hier schon lange liege“ antwortet er prompt. „ Seit 73 Jahren, als mir ein übereifriger Polizist aus dem kleinen Ort eine Kugel verpasste – und ich fiel, und fiel, sank in das Moos, geradeso wie du jetzt liegst, sah die Wolken ziehen, und das Leben rann aus mir heraus, und färbte das Moos rostbraun und ich starb und verging; sah den Rauch die Sonne verdunkeln und die Flieger mit ihren Bomben kommen, die eine 8 für Achtung an den Himmel malten, bevor sie ihre Bomben hier abwarfen und mir ein neues Grab aushoben.“
„Hast du Angst?“ fragt er mich unversehens.
Das Nein liegt mir schon auf der Zunge, als der Mensch seine Hand auf die meine legt und mir seine Anwesenheit körperlich bewusst wird.
Knochig, derb wie Leder, seltsam leicht, liegt seine Hand gleichsam tonnenschwer auf meiner Hand, und ich merke, wie es mir eng um`s Herz wird, wie mir der Atem stockt.
Ich nicke, nicke mit dem Kopf ins grüne Moos und schicke, als ich meine Stimme wieder finde, ein: „Ja, ich habe Angst“ in das Blau des Himmels, durch das immer noch Wolken ziehen.
„Das solltest du auch“ sagt der Mensch und als es neben mir leise raschelt, weiß ich, dass auch er nickt.
„Nicht vor mir“ fügt er hinzu, „nicht vor mir, und auch nicht vor den Anderen, den Geretteten, den Untergegangenen, den elenden Gestalten. Denn wir waren elende Gestalten, als wir hier vorbei kamen, auf unserem letzten Marsch von Westen nach Osten. Wir waren das Elend und die Menschen begafften uns aus der Ferne, oder verschlossen Türen und Fenster, wenn wir zu nahe kamen. Davor solltest du Angst haben.“
Ich weiß, dass er mich jetzt ansieht und ich wage es nicht mich zu bewegen, den Kopf zu drehen, den Blick des Menschen zu suchen. Ich starre weiter in den Himmel, in das Blau, such die Wolken darin, und seh Bilder die sich in Rauch auflösen, und mitten darin eine kraftlose Sonne, die nichts wärmt.
Der Mensch neben mir spuckt aus, tut einen tiefen Atemzug und schweigt.
Das Schweigen dröhnt in meinen Ohren, legt sich wie Blei auf meine Brust, und als ich die Schwere nicht mehr aushalten kann, will ich den Menschen ansehen, will ihm sagen, dass es auch andere Menschen gibt, die hin sehen – doch er ist weg. Der Mensch ist weg.