Revier-Sterben
Slatko war traurig, sehr traurig. Eine unsichtbare Hand schien ihm den Hals zuzuschnüren.
Ein Brief hatte ihn heute früh erreicht, ein Brief aus Florenz. Sein alter Freund und Bergarbeiterkumpel Bene hatte ihm geschrieben.
Der Inhalt des Briefes betrübte den 88 jährigen Slatko sehr, trifft seine Seele bis ins Mark, obwohl irgendwann damit zu rechnen war.
Der Frühstückskaffee erkaltet in der Tasse und das Brot liegt achtlos auf dem Tisch, alles erscheint weit weg und unwichtig. Nur die krakelige Handschrift von Bene steht mit übergroßer Wichtigkeit vor Slatkos tränenden Augen.
Ihr, gemeinsamer Freund und Kumpel, Peter, Slatko hatte ihn immer, kameradschaftlich vertraut, Pjotr genannt, war schon vor Wochen verstorben.
Gestorben da, wo er immer gelebt hatte, zuhause gewesen war, sich geborgen fühlte!
In Bochum, mitten im Pott!
Einsam und allein war Pjotr gestorben, Nachbarn hatten das Unglück erst nach Tagen entdeckt.
Keine Hilfe war mehr möglich. Ein Herzinfarkt hatte ein langes und ereignisreiches Leben beendet. Still und unbemerkt.
Pjotrs ganze Familie war sein Sohn gewesen, ein Matrose Ende fünfzig, der auf einem Bananendampfer die Asienroute befuhr und nur wenige Wochen im Jahr bei seinem alten Vater sein konnte.
Und so hatte die traurige Nachricht Wochen gebraucht um die alten Freunde zu erreichen.
Die Beerdigung ist auch schon gewesen, und laut Bene waren nur einige wenige anwesend gewesen, um Pjotr die letzte Ehre zu erweisen.
Ein säuerlicher
Zitronengeschmack legt sich auf Slatkos Zunge, sein Atem geht schwer und bitterschöne Erinnerungen steigen in ihm auf. Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit. An die raue und doch
liebenswerte und enge Kameradschaft welche die drei Kumpel über 26 Jahre lang verbunden hatte.
So lange waren sie gemeinsam eingefahren auf der Zeche Hannover, welche in Glanzzeiten sechs Schächte betrieb. Hunderte Kumpel drängten sich in den Fahrkörben und schufteten rund um die Uhr.
Ein Jahr nach dem Kriegsende kamen Slatko und Bene nach Bochum, getrieben von dem Wunsch nach Neuanfang in dem zerstörten und von Kriegswirren heimgesuchten Deutschland.
Slatko aus Jugoslawien, Bene aus Italien!
Hannover war die Gelegenheit, bot Arbeit und Brot und dort lernten sie am zweiten Tag auf der Zeche Peter kennen. Der gebürtige Bochumer und gelernte Bergmann nahm sich ihrer an und half wo er nur konnte. Slatko und Bene lernten schnell und bald waren die drei unzertrennlich.
Die drei Kumpel waren in etwa gleich alt, nun ja, Peter zwei Jahre älter und Bene ein knappes Jahr jünger als Slatko, aber das spielte nie eine Rolle.
Ein wenig
absahnen wollten sie, die
Herrlichkeitdes Kohlewunders genießen. Aufschwung und Wohlstand miterleben und gerne hart dafür arbeiten.
Es war die große Zeit des Kohlebergbaus und noch ahnte niemand dass dies alles einmal vorbei sein sollte.
Mitte der 50er wurden die Zechen Hannover und Hannibal zusammengelegt, Königsgrube wurde durch einen Querschacht in 750 Meter Tiefe angebunden.
Noch hielt der Boom und es gab Arbeit ohne Ende!
„Reine
Männersache dieser Knochenjob,“ zitierte Pjotr gerne, besonders wenn die drei Freunde nach Schichtende
bezecht in ihrer Stammkneipe saßen.
Eine vertraute Männerrunde, die sich über ihre Arbeit, Fußball, Politik und manchmal auch über Frauen unterhielt.
Vom
Wunderweibund Motor der deutschen Wirtschaft bis hin zum
Billigfliegerherabgestuft erlebten die drei Kumpel ihre Zeche.
Aber immer hielt ihre Kameradschaft untereinander.
Als dann am 31.03.1973 endgültig die letzten Lichter erloschen und ihre Zeche unter dem Namen Bergwerk Bochum in die unvermeidliche Stilllegung ging, trennten sich ihre Wege.
Bene und Slatko gingen zurück in ihre Heimatländer. Slatko erwarb einen kleinen Bauernhof und Bene ging in die Gastronomie und kellnerte in diversen Restaurants.
Peter blieb in Bochum, das war und blieb seine Welt und schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durch.
Neue Energien, der Ölboom, finanzielle Entscheidungen, Habgier, politisches Kalkül, Gesellschafts- und Strukturwandel und noch einige andere Kriterien mehr bewirkten den Niedergang ihres geliebten Bergbaus.
Bergmann zu sein, war für die drei immer eine Auszeichnung gewesen und sie begriffen sich als verschworene Gemeinschaft.
Mit den Jahren danach verlor sich der Kontakt, die Besuche blieben aus, die Telefonate und Briefe wurden weniger. Das Leben hatte ihnen neue Richtlinien aufgedrängt und denen galt es nach zukommen.
Slatko schluckt und Tränen rinnenheiß und salzig, über sein faltiges, verwittertes Gesicht. Er weiß genau was nun zu tun ist!
Er wird ein paar Sachen packen, seinen alten und klapprigen Opel auftanken und sich auf den Weg machen.
Nach Bochum, in Peters Heimat, Peters Grab besuchen und vielleicht wird er ja sogar Bene dort wiedersehen.
Slatko sieht die vielen traurigen Bilder vor sich, die mit den Jahren so oft im Fernsehen kamen.
Stillgelegte Zechen, wüste Industriehalden, aufgegebene Hallen und Gebäude, verwaiste Siedlungen, tote Kokereien und alte Fördertürme die wie verrostete Arme flehend in den Himmel ragen.
„Lost Area“ ist ein Fachbegriff der seit einigen Jahren kursiert und passend umschreibt wie eine Stahlschmiede europäischer Größenordnung zu Industriedenkmälern, Ruinen und Brachland mutiert ist.
Aber Slatko weiß auch, was er seinem Freund Pjotr schuldig ist, und ohne zögern macht er sich ans Werk!
Beim Kofferpacken lächelt er traurig, ein anderes Bild schiebt sich vor sein geistiges Auge, ein altes Foto, welches er in seiner Brieftasche trägt. Ein Foto an ihrem Schacht eins, kurz vor der gemeinsamen Einfahrt.
Und im Internet hat er vor einigen Monaten gesehen das Schacht eins als Industriedenkmal erhalten worden ist.
Er wird Bene ein Telegramm schicken, vielleicht kommt er ja auch, bestimmt wird er das, und sie stehen noch einmal an ihrem Schacht eins und denken gemeinsam an ihren Freund!