Zwischen Stühlen. Und die Frage, wer den Himmel fingert
Initialzündung für dieses dreiteilige, kleine Miststück ist einmal wieder das pralle Leben und eine im Wortsinn „höchst” beachtliche globale Entwicklung mit nicht eben geringer sozialer Sprengkraft. Außerdem geriet mir die Steilvorlage der acht vorgegebenen Begriffe in die Hände, die eigentlich in unser Geschichtenspiel gehört (https://www.joyclub.de/my/4014352.hyperica.html, sehr inspirierend, danke), die da sind: zartbitter, Fußball, Kaffeemaschine, Unterwäsche, Kaugummi, unabdingbar, Hottentotten und himmelrosa. Na, wenn das nicht eine Herausforderung ist!
Ohne dass ich es wirklich verhindern wollte, verselbständigten sie sich zu einer Episodengeschichte, die der Liebe an sich, der zur Architektur und vor allem der zum Schreiben gewidmet ist. Und eine Mixtur, die sich ganz nebenbei an dem vergreift, das sich am Himmel vergreift ...
(Nun würd’s mich natürlich freuen, wenn ihr es „bodenständig” oder gar „himmlisch” fändet und nicht sooo sehr „unterirdisch” ,-).
Herzlichen Dank auch fürs öffentliche Einstellen an Antaghar und unsere Mods.
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Zwischen Stühlen.
Und die Frage, wer den Himmel fingert
Teil 1
Zart diesseits
„Zart & Bitter”, schnarrt er in den Hörer, fischt sich den Biokaugummi vom Zahn, klebt ihn unter die Mahagonikante des Tisches und lehnt sich zurück. Er hört zu. Wippt vor, hält inne. Kippt doch wieder nach hinten. Ein unbewusstes Spiel zwischen seinem Gleichgewichtssinn und dem mechanischen Widerstand des Schreibtischstuhls beginnt, das sich in der Folge wiederholen wird. Nach kurzer Zeit streicht er sich durchs Haar bis es halsfern über dem Kragen liegt und zollt dem Anrufer mehr Aufmerksamkeit als üblicherweise an einem Freitagabend, wenn eigentlich schon alles gelaufen ist.
Er greift nach der Armlehne des in die Jahre gekommenen, schnörkellosen Bürostuhls, der aus einem der ehemaligen Hafenkontore an den Chelsea Piers stammt. Genaugenommen vom Pier 54, dem legendären, an dem am 20. April 1912 die Überlebenden der Titanic anlandeten. Im Ersten Weltkrieg wurden von hier aus die amerikanischen Eingreiftruppen gen Europa verschifft. Ebenso im Zweiten. Alle wichtigen Linien von und nach Europa bedienten Pier 54: Der Norddeutsche Lloyd mit seinem Stammsitz in Bremen, später Hamburg, und zahlreiche mehr. In jeden Stein dieser Quaimauern schrieb sich fast ein Jahrhundert menschliche Hoffnung ein und für nicht Wenige wurde dieses Pier zur Wendeplatte ihres Schicksals. Er nimmt die Schultern zurück, gibt dem Stuhl eine Vierteldrehung und hält, nachdem dieser sich halbwegs willig, nur mit einem Klackern der Kugellager seiner Rollen vor dem Fenster positionieren lässt, inne. Er sieht auf das Chaos der Kreuzung ohne es zu sehen. Kein Vor und Zurück mehr. Sein massiger Körper regungslos. Er ist ganz Ohr.
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Zart jenseits
Eine Stunde später zieht er am 120 Sinatra Drive in Hoboken einen der Hocker zu sich, setzt sich an die Ecke des Tresens, die Uferpromenade wie die Einmündung der 2nd Street vor sich. Er will sehen, wenn er kommt. Er winkt Red Kapp, dem Bartender, ein Deutsch-Ire wie er, und ordert sein Bier, wie so oft. Das Sunset Red Ale stammt auch von dort drüben, von den Piers. Es ist sein Bevorzugtes der Chelsea Brewing Company, der einzigen traditionellen Brauerei im Herzen New Yorks. Der erste Schluck zischt erfrischend, rinnt ihm fast zu flott durch die Kehle. Er schiebt seinen Hintern nun ganz auf den Barhocker. Sein Blick schweift in die Ferne. Er sieht durch die spiegelverkehrten Goldlettern des Schriftzuges „Wicked Wolf” auf den Scheiben der Bar und Tavern hindurch auf den Hudson River und hinüber zur Isle of Manhattan.
Als er vor besagter Stunde ebendort, fast genau gegenüber, das Büro verließ, hatte das Himmelrosa über dem Fluss sich bereits im Blutorange des Sonnenuntergangs gelöst und dessen letzte Glut ergab sich just der Dämmerung, als er den „Bösen Wolf” betrat. Zac nennt diese Tageszeit insgeheim ‚die Stunde der Wahrheit’ und betrachtet mit Hingabe das tägliche Unterliegen des Lichts vor der Macht der Nacht. Zac, Zac. Er heißt nicht bloß Zac, natürlich nicht. Er heißt Zachary, weil seine irische Mutter es so wollte. Er sollte denselben Namen tragen wie sein Vater, Zacharias Zart, ein deutschstämmiger Jude. Dieser hatte stets betont, dass sie für die Christen immerhin nach einem der zwölf Propheten hießen und ihr Vorname im Hebräischen wie Arabischen „sich erinnern” bedeute. Zac mag diesen Namen und auch die vom Vater ererbten Einszweiundneunzig. Oh ja, er schätzt Größe durchaus, besonders in dieser Stadt, und er findet, Zac Zart habe gerade bei einem sportlichen und recht kräftigen Kerl einen guten Klang.
Inzwischen macht sich auf der anderen Seite die Skyline von Lower Manhattan ausgehfein und wirft sich in den übertrieben gleißenden Lichterornat, der unweigerlich „Weltstadt” ruft. Zacs Blick schweift über den Hudson, hinüber zur Südspitze Manhattans und zum One World Trade Center, Welthandelszentrum oder kurz WTC 1. Erbaut kaum 200 Meter neben Ground Zero, auf dem psychologischen Schutt der jüngsten Geschichte und der zerstörten Zwillingstürme des ursprünglichen WTC. Erbaut auf dem Faktum jener gnadenlosen Aggression gegen die westliche Kultur und deren ikonischem Zeichen für Wirtschaftsmacht. Nun ragt dort ein Monolith gen Himmel, ein gläserner Demonstrant. Ein dreidimensionaler Spiegel eines glattgeschliffenen, reinen Willens zum Superlativ.
Mit seinen 541 Metern ist das World Trade One das offiziell höchste Gebäude in New York City, wobei die letzten 124 der Turmspitze und Antenne zuzurechnen sind. Zugleich ist es der höchste Wolkenkratzer der USA wie der westlichen Welt und derzeit auf Rang 6 der Gebäudegiganten der Welt. Ein in Materie gegossenes Versprechen einer silberglänzenden Zukunft.
Zac löst sich von dessen Anblick mit dem immer gleichen widerstreitenden Gefühl, das sich zu gleichen Teilen aus Staunen und einem Schauer speist, der ihn kühl überkommt und den er bis in den Magen spürt. Er zitiert in Gedanken seine Partnerin:
„Erdacht als Symbol eines prismatischen, alles überstrahlenden Futurismus und doch entlarvt es sich durch die Anmutung eines High-Tech-Donnerkeils.”
So hatte sie in ihrer Rezension zur Einweihung des WTC 1 geschrieben. Er erinnert sich, denn sie sprachen lange über die Bandbreite der möglichen Reaktionen und hatten nicht locker gelassen, bis die Schärfe ihrer Meinung nach noch vertretbar war und auf den Punkt passte. Es war der Schlußsatz ihres Artikels „Wenn eine Wirtschaftsmacht Zeichen setzt” oder hieß er am Ende doch „Wie man der Welt den ästhetischen Mittelfinger zeigt”?
Zac denkt an sie. Jetzt, in diesem Moment der Ruhe, die ihm notgedrungen das Warten beschert. Er sieht ihr Gesicht vor sich. Denkt an ihr langgezogenes, weich ausgesprochenes „.Z..ac”, dem unweigerlich „Hör dir das mal an bitte” folgt. Er sieht das Funkeln in ihren Augen, wenn er laut vorliest und sie zuhört. Ihr Lächeln und die kleinen Tanzeinlagen, wenn etwas so gelingt, wie sie es sich vorgestellt haben. Sie sind ein eingespieltes Team. Investigativer Journalismus ist genau ihr Ding. Oh ja, ein gutes Team sind sie! Er und seine Mitstreiterin ... im Geiste, im Büro „Zart & Bitter”. So ‚awesome’ wir beide! Zac lacht laut auf. Stellt sich ihren vor Ironie triefenden Spruch vor, der daraufhin unweigerlich folgen würde. Sie, immer wieder sie.
Sie, die eigentlich längst viel mehr ist für ihn, wenn er es sich denn eingestünde.
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Zart jenseits, mit dem Kopf diesseits
Sein Blick gleitet etwas weiter nördlich, Richtung Midtown Manhattan, und über das Spektakulum des in sich verschränkten Häusermeers. Da ragen sie empor, geballt, die Wolkenkratzer. Leuchtstab an Leuchtstab. Verdichtung auf engstem Raum. Er erkennt die Markanten, liest im Gesicht dieser unvergleichlichen Stadt. Er lässt es auf sich zu schwimmen, saugt es mit den Augen auf, das weithin sichtbare Irrlichtern ...
Die Nachtanzeige eines artifiziellen Bewuchses.
Zac konzentriert sich, sieht genau hin. Es ist seine Stadt, er kennt sie nur allzu gut. Bestimmt komme ich deshalb so gerne hierher, nach Hoboken, New Jersey, weil ich sie neu betrachte, distanzierter, wenn ich auf der „anderen Seite” bin und über den Hudson zurück oder auf sie schaue. So wie jetzt auf mein noch recht moderates, im Vergleich flaches Downtown, aus dem wie bei einem Lückengebiss lediglich einzelne Stümpfe ragen. Im Gegensatz zum „raffzähnigen” Midtown, das sich für den Nabel der Welt hält, was es ist oder auch nicht. Zacs Blick frisst sich fest an Midtown. Er nimmt Maß am Übermaß. Turm an Turm, ein jeder gekrönt von einem Positionslicht, das dem Flugverkehr deren absolute Höhe signalisiert. Diesem fernleuchtend roten Blinken, das wirkt, als seien sie konkurrierende, nach Beachtung gierende, göttliche Zitzen, die dem Himmel denselben auf Erden versprechen.
Am neuesten Laserpointer am Ostküstenhimmel, dem spitteldürren Herzeigestock New Yorks, dem „Condominium Tower”, flackert es an der architektonischen Eichel des aufgerichteten Recken allerdings nur müde. Rohrkrepierer, denkt Zac missgünstig, gleich hat es sich ausgeleuchtet und er schrumpft fürs Erste auf ein angemessenes Maß zurück.
Der Condominium Tower an der Park Avenue oder kurz Condo 432 Park, verzeichnet mit seinen 426 Metern knapp neun Meter mehr als der Baukörper des World Trade One. Damit ist er nun de facto der eigentliche vertikale Wolkenanschlag New Yorks und ohnehin der höchste Wohnturm der Welt. Er ist bleistiftdünn und setzt das erprobte Verhältnis von eins zu fünf der Grundfläche zur Gebäudehöhe mit beachtenswerten eins zu fünfzehn (!) außer Kraft. Seine Technik ist komplex, mehrere Geschossebenen sind gänzlich offen und lassen Windböen hindurch, um dem enormen Druck, der auf ein Bauvolumen in solch schwindelerregender Höhe wirkt, nicht nur Angriffsfläche zu bieten. 600 Tonnen schwere Pendel sowie reichlich Schwingungsdämpfer gleichen die Windlasten aus. Der Erbauer Harry Macklowe, Immobilienmogul wie Trump, allerdings weniger als dieser auf eine demonstrative Vergoldung des eigenen Egos aus, ist mächtig stolz auf seinen neuesten Coup, dem Himmel ein Stück näher zu kommen. Zumal die Finanzierung seines gleichförmig gerasterten Wolkenstechers mit dem Charme einer Exceltabelle auch nicht ohne ist: Sie fußt natürlich auf geliehenem Geld von Banken und Investoren, wobei arabische Vorfinanziers den größten Anteil stellten. Gerade bezugsfertig sind sie übrigens, die 104 Wohnungen auf 88 Stockwerken ... Da geht folglich noch was!
Die Penthouse-Wohnungen ganz oben für durchschnittlich 90 Millionen Dollar das Stück sind zwar schon alle weg, aber von den günstigen, den Dreizimmerwohnungen weit unten oder denen in Nordausrichtung sind noch welche zu haben. Für 17 Millionen.
Schnäppchen also in einer übergeschnappten Welt.
Zu allem Überfluss ist klar, dass die amerikanischen, arabischen, russischen, asiatischen, europäischen ... Käufer bzw. Investoren solcher Apartments nicht wirklich darin wohnen, sondern sie höchstens ab und an nutzen. Einen Großteil des Jahres stehen solche vertikalen Tresore als leere Hüllen der Eitelkeit und der finanziellen Potenz herum. Als Symbole eines außer Kontrolle geratenen Turbokapitalismus.
Wen wundert es nun, dass der Condominium Tower schon gleich zu Beginn seines Lebens als Hochmütiger umgetauft wurde? Sein erster zündender Name ist „Streichholz der Milliardäre”.
Und auch sein Zweiter ist ähnlich gelungen. Er lautet: „Längster Mülleimer der Welt”. Finanzmagnat und Baulöwe Macklowe hat nämlich eine ausgeprägte Vorliebe für die Schlichtheit der klassischen europäischen Moderne und nahm sich einen Entwurf der Wiener Werkstätten für seinen Wohnstengel zum ästhetischen Vorbild. Und zwar den berühmten Mülleimer von Josef Hoffmann aus dem Jahre 1905.
Und genau das sieht man auch.
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Bitter diesseits
Auf der New Yorker Seite des Hudson springt zur selben Zeit Zacs Partnerin auf und umarmt einen „jungen Wilden”, wie sie ihn nennt. Er betritt gerade das „Spotted Pig” an der Greenwich Ecke 11th Street West im Village. Sie selbst war erst vor ein paar Minuten hereingestürmt, hatte ihr Laptop auf den Tresen gelegt, ihre Überlebenstasche aus Lastwagenplane auf den Dielenboden der Kneipe geknallt und „Matt, gib mir ein Ginger Ale, schnell bitte, ich dreh’ gleich durch vor Durst!” gerufen. Sie war den Weg dreifach gelaufen, musste noch einmal zurück zu Zacs und ihrem Büro in der Gansevoort Street, einige Blocks in nördlicher Richtung, ziemlich genau auf der Höhe des Piers 54 und im ehemaligen Meatpacking Distrikt. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen, Sicherungskopien ihrer aktuellen Dateien zu machen. Sie glüht und wirft fast den mit Animal-Print Marke Tiger bezogenen Barhocker um.
Der junge Mann kommt ihr entgegen, federt lässig ihren Schwung ab, hebt sie hoch, als wiege sie nichts und stellt sie erst ab, als sie ihn „Hottentotten-Hipster” tituliert und an seinem Kopfputz zu ziehen droht.
„Bonnie Bitter! Hübsche. Meine erklärte Lieblingsinfluenza”, grinst er anzüglich und verstellt seine Stimme ins Theatralische. „Du eine Einzige mit deinen französisch-schottischen Wurzeln. Holde sommersprossige Dunkelziffer unter den Influenzern und spitzfindigen Schreibern – ja, wirf nur deine schwarzbraunen Locken und funkle mich an! Das ist keine Abwehr, die mich schreckt. Wo pfeift denn der steile Zahn?”
Zur Strafe lässt er sich grünäugig blitzen und seinen akkurat gestutzten Bart von frechen Fingern kraulen. Er reckt ihr sogar ein klein wenig sein Kinn entgegen. Dann lächelt er verschmitzt – oder beschwichtigend, wie er meint – und bestellt einen Darjeeling White Flush. Sie setzt sich endlich und vernichtet ihr Ginger Ale fast auf einen Zug.
Während Bonnie ihren Rechner hochfährt, sagt sie: „Gibt mir einen deiner Sticks bitte, Amin, Vertrauenswürdiger. Mir ist vor zwei Tagen mitten auf dem Washington Square und am hellichten Tag meine Festplatte gestohlen worden und ich übersehe noch nicht, ob das nur unangenehme oder gar erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen wird. Ich sollte sicherheitshalber einen Satz – und zu unser beider Schutz – verschlüsselter Dateien bei dir deponieren.
Ist das in Ordnung für dich?”
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12.2017©Nyx
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