Das siebte Türchen
A.S.C.
Eigentlich war sein Name August Santa Claus. Leider hatten es sich die kleinen, frechen Engel angewöhnt, ihn Klausi zu nennen. Ziemlich respektlos, seiner Meinung nach. Seufzend strich er sich durch die weißen Haare, die stets wirr von seinem Kopf abstanden. Einzig gebändigt durch die rote Weihnachtsmütze, die allerdings auch schon bessere Zeiten erlebt hatte.
Heute schmerzte sein Rücken ganz besonders. Ausgerechnet. Der Tag würde lang werden. So viele Geschenke, die darauf warteten, ihre Empfänger zu beglücken. Vorsichtig lugte er um die Ecke und zog seinen Kopf schnell wieder zurück. Die kleinen Kerle tobten, hüpften und schrien wild durcheinander, waren aufgeregt über die Aufgaben, die heute noch zu erledigen waren.
‚Diese Engel‘ dachte er und rollte mit den Augen, während er sich an die Wand lehnte. Er fühlte sich den wuseligen Geschöpfen nicht mehr gewachsen. Ihre Energie schien übermächtig, während die seine, Tag für Tag mehr verpuffte. August reckte sich, streckte seinen Körper so gut es ging durch, spürte das elende Knacken im Kreuz, räusperte sich und trat aufrecht um die Ecke.
Warme Luft, Lebkuchen geschwängert, traf ihn mit einer Wucht, dass er kurz die Augen schließen musste. Süß und klebrig verteilte sich der Duft in Nase und auf seiner Zunge. Er schnalzte kurz mit der Zunge um dieses Gefühl zu vertreiben. Schon standen fünf der kleinen Helferlein vor ihm, schwatzten laut durcheinander und starrten ihn erwartungsvoll aus großen Augen an. Filip, der kleinste Engel, kaute genüsslich auf einem Lebkuchenstern, der weiße Zuckerguss klebte auf der winzigen Nase und in den Haaren.
„Moment, nicht alle auf einmal!“, rief er und musste nun doch grinsen über diese Begeisterungsfähigkeit der Engel.
„Fritzi, erzähl! Was habt ihr auf dem Herzen?“, forderte er den Engel auf und zog ihn näher zu sich heran.
Fritzi nestelte unsicher am Saum seines grünen Röckchens, welches lieblich seine dürren Beinchen, die in roten Strumpfhosen steckten, umspielten.
„Ähm, ja“, räusperte er sich und wurde rot.
„Nun?“, fragte August geduldig.
„Ja, also, ähäm, wir dachten, also nein, eigentlich war es nur Freddys Idee“, stotterte er und zeigte mit seinem Fingerchen auf Freddy. Freddy war der Tüftler und Erfinder unter seinen Engeln, der Werkstattengel schlechthin. Es gab nichts, was Freddy nicht hätte reparieren können.
August drehte seinen Kopf in Richtung Freddy und blickte erwartungsvoll.
Freddy übernahm das Wort: „Also Klausi, wir sind alle der Meinung“, dabei blickte er selbstsicher durch die Runde seiner Mitengel und war sicher, keiner würde ihm widersprechen, „dass Weihnachten moderner werden muss. Nicht mehr das Gedöns mit den Rentieren, die ständig gefüttert werden müssen, bockig sind und gepflegt werden müssen. Außerdem stinken die!“
August war nun doch perplex, hier eine kleine Revolution vorzufinden. Bevor er etwas erwidern konnte, erklärte Freddy weiter: „Wir wollen nicht mehr von den Stinkern abhängig sein. Ich habe in der letzten Zeit gebastelt und für unseren Schlitten einen neuartigen Antrieb entwickelt. Diesen sollten wir dieses Jahr ausprobieren. Ich bin sicher, wir werden auch viel schneller die Geschenke verteilen können.“
Nun da es aus ihm heraus war, sackte er ein wenig in sich zusammen, sammelte jedoch schnell wieder seinen Mut und starrte August an.
Dieser musste das Gehörte erst einmal verdauen. Die Rentiere abschaffen? Seit Urzeiten wurde der Schlitten damit durch die Lüfte und über die Lande befördert. August kratzte sich durch den Bart. Er blickte in durchweg erwartungsvolle Gesichter, deren Bäckchen rot glühten vor Freude und Aufregung.
„Naja, weshalb sollten wir es nicht mal probieren“, raunte er.
Darauf hatte die kleine Bande nur gewartet. Sie stießen spitze Jubelschreie aus und tanzten durch den Raum. Einige Kerzen gingen bei diesem Geschwurbel aus, anderen flackerten bedenklich.
„Langsam!“ dröhnte Augusts Stimme durch das Gewölbe. Tannenzweige, Misteln, Sterne, Zapfen und vieles mehr schmückte diesen Raum. Er liebte diese warme Gemütlichkeit. Am liebsten hätte er sich auf seinem riesigen Ohrensessel niedergelassen und die Beine hochgelegt. Sein Rücken zwickte inzwischen noch mehr.
„Freddy, ich verlasse mich auf dich. Du kannst den Schlitten schon mal bereitmachen, ihr anderen helft ihm, die Geschenke darauf zu verladen. Vor allem denkt an den magischen Sack, falls wir ein Geschenk vergessen sollten“, befahl August und trottete hinter der bereits davonhuschenden Menge in Richtung Schlittengarage.
Sein Schlitten. Uralt, doch liebte er das inzwischen abgestoßene Holz an den riesigen, gebogenen Kufen, die die Front zierten. Keine Rentiere mehr einspannen? Langsam glitt seine Hand über die Gurte, die die Tiere miteinander verbinden sollten. Unsicher löste er sie vom Schlittengestell und drückte sie einem Engel, der grade vorbeiflitzte, in die Hand. Er ging um den Schlitten herum und erreicht kurz darauf das Heck. Der Schlitten war riesig. Musste er doch viele Geschenke transportieren können. Hier hatte Freddy, der nun mit hochrotem Kopf und ölverschmierten Fingern auf einen Kasten deutete, also einen neuen Antrieb angebracht.
August starrte auf einen silbrig glänzenden Würfel aus dem ein Rohr ragte, das ihn an ein Ofenrohr erinnerte.
„Da kommt Popcorn und Zuckerwatte raus, wenn wir über die Dächer fliegen, das ist halt so. Wir müssen es nur in die kleinen Tüten leiten“, Freddy deutete auf einen Stapel bunt bedruckter Beutel die neben seinem Sitz im Schlitten lagen, „und dann können wir die Tüten zu den Geschenken stellen. Hey, das ist doch super, oder Klausi?“
Freddy grinste nun sehr selbstsicher, da er wusste, dass der alte Mann ein weiches Herz hatte und Kinder über alles liebte. Er würde sicher nichts ausschlagen, was den Kindern zugutekäme.
August schluckte. Nun starrten ihn alle Engel an und warteten auf seine Reaktion.
„Gut“, krächzte er. Sein Hals war auf einmal sehr trocken. August trottete zum Einstieg des Schlittens zurück und ächzte, als er seinen schmerzenden Rücken über den Rand schob. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er sich in das weiche Polster fallen. Automatisch glitt seine Hand nach rechts. Hier waren normalerweise die Zügel befestigt. Als er ins Leere griff, fiel ihm schnell ein, dass er heute keine Kontrolle über den Schlitten haben würde. Freddy Naseweis würde es heute übernehmen. Eigentlich war dies August ganz recht, doch ob alles so klappen würde, dass sie pünktlich liefern konnten?
Die Engel lachten und plauderten durcheinander, während sie den Schlitten bestiegen. Es ruckte und wackelte, bis alle Platz genommen hatten. Dann baute sich Freddy am Heck auf und legte einen Hebel um. Ein puffendes Geräusch ertönte, ein Pfeifen erklang und eine riesige Popcornwolke stieb aus dem Rohr. Es quietschte laut, die Kufen schoben sich über den Boden und schon hob der Schlitten ab in die winterliche Nacht.
„HA HA!“, triumphierte Freddy. Seine Wangen glühten, die Ölflecken darauf glänzten wie poliertes Holz, als Freddy sich gegen den Wind lehnte. August wurde etwas mulmig zumute, als er den Wahnsinn eines Genies in Freddys hervorquellenden Augen entdeckte.
Krampfhaft klammerte sich August an die Brüstung des Schlittens. Schnell waren sie. Das musste er zugeben. Die eisige Nachtluft trieb ihm Tränen in die Augen, die kleinen Engel jauchzten, ihnen konnte es nicht schnell genug gehen. Eifrig beugten sie sich mit wehenden Haaren über die Brüstung, deuteten auf die Lichter der nahenden Stadt und schwatzten. Die Freude stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Wenige Minuten später hatten sie bereits das erste Haus erreicht. August drehte sich zu Freddy um, der den Schlitten perfekt über dem Kamin geparkt hatte.
„Wie geht es nun weiter Freddy?“, fragte August.
„Oha, alter Mann, hast du das etwa vergessen? Hier sind schon mal ein paar Beutel voller Popcorn und Zuckerwatte, die habe ich während der Fahrt gefüllt. Die kannst du mit den Paketen durch den Schornstein bringen.“
August jammerte kurz, als er sich vorbeugte, um aus dem Schlitten zu steigen. Sein Rücken würde ihn umbringen. Ganz sicher. Er rückte seine Mütze grade, stopfte den Mantel richtig unter den Gürtel und griff sich ein paar der Tüten. Im magischen Sack fand er die Pakete für die Kinder, die hier wohnten. Sie hatten nur kleinere Wünsche, daher transportierte er diese nicht im Schlitten. August quetschte sich durch den Kamin, das fiel ihm von Jahr zu Jahr schwerer.
Unten angekommen drang ihm herrlicher Duft in die Nase. Es gab einen Gänsebraten, gefüllt mit Kastanien. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Die Bewohner des Hauses befanden sich in der Küche und ließen es sich schmecken. Dennoch musste er sich beeilen. Sicher drängten die Kinder bereits auf die Bescherung.
Vorsichtig beugte er sich vor, um die Geschenke zu platzieren. Einen schönen Baum hatten sie dieses Jahr. Er freute sich, dass es ihnen anscheinend nun besser ging als letztes Jahr. Damals bestand der Baum aus vertrockneten Ästen und war ziemlich krumm.
August streckte sein Kreuz durch und zwängte sich erneut durch den Kamin.
Viele Stunden ging das so weiter. August brach inzwischen der Schweiß aus. Ganz sicher nicht nur durch die Anstrengung. Er fühlte sich richtig krank und sehnte sich nach seinem Sessel.
Als sie endlich über dem letzten Haus für diesen Abend ankamen, seufzte er tief. Gleich hätten sie es geschafft. Dieses Haus war jedoch etwas Besonderes. Hier warteten Überraschungen für die kleinen Engel. Die Bewohner hinterließen stets Kleinigkeiten für sie und kamen immer erst sehr spät nach Hause, um ihnen Zeit zu lassen, die Geschenke zu bringen.
„Alle Mann festhalteeeen“, brüllte Freddy, der in einem Rausch zu sein schien. Mit einem Ruck stieß er den Hebel nach vorn, der den Schlitten, normalerweise, sanft zu Boden gleiten ließ. Für einen kurzen Moment fühlten sich alle schwerelos, dann begann der freie Fall. Die Engel jauchzten und schrien vor Begeisterung, August brüllte, Freddy solle langsam machen und bremsen.
Wenige Zentimeter über dem Boden endete die Fahrt abrupt. Der Schlitten ächzte und wankte, doch er schwebte nun ruhig vor sich hin. Die Engel drängten ungeduldig durch den Ausstieg und eilten zur Tür des Hauses. August strich sich seinen grauen Bart aus dem Gesicht, den der Wind wie eine Matte nach oben gepresst hatte. Angsterfüllt blickte er nach unten und rügte Freddy, er hätte auch früher bremsen können.
„Warum denn? Es reicht doch, kurz vor dem Ziel anzuhalten. Ach Klausi, du wirst echt alt. Komm jetzt, wir wollen ins Haus gehen!“, der irre Blick von Freddy verging nur langsam und machte August Angst.
Damit sprang auch Freddy vom Schlitten und huschte auf seinen kurzen Beinchen zur Eingangstür.
Ungeduldig trippelten die Engel vor der großen hölzernen Tür hin und her, bis August endlich angehumpelt kam.
Er zog den schmiedeeisernen Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnete die Tür. Seine Körpermasse füllte fast den kompletten Türrahmen aus, so dass die Engel nicht sehen konnten, was sich ihm darbot.
In goldgelbes Licht getaucht standen dort ein riesiger Weihnachtsbaum und festlich gedeckte Tische. Wundervoll geschmückt war es, liebevoll dekorierte Wände und leckeres Gebäck stand überall bereit. Es duftete himmlisch. Hier würde er sicher kurz rasten und ausruhen können. Doch August hatte seine Engel unterschätzt. Die Menge der kleinen Kerle drängte nun gegen ihn.
„Mach schon, lass uns rein, wir wollen die Geschenke abliefern und unsere Überraschungen suchen!“, forderten sie.
August spürte sie in seinem Rücken, die kleinen Hände, die ihn schoben und zur Seite drücken wollten. Er konnte kaum schnell genug ausweichen, als sich die Menge an ihm vorbeischob und dabei ruppig zu Fall brachte. Der sonst so schüchterne Fritzi übersah ihn gnadenlos, als er mit den anderen über Augusts Rücken trampelte, ins Haus raste und laut schrie: „Da sind sie. Sie gehören nur mir. Dominosteine. Zartbitter!“