Der rote BH
Das die Wollige Buchenblattlaus seine geliebte Buchenhecke befallen hatte, hier mitten in Deutschland, führte er missmutig auf den Klimawandel zurück. Denen war nur mit der chemischen Keule beizukommen, aber er versuchte es vorerst mit dem üblichen Brennnesselsud, vermischt mit Seifenlauge. Im nächsten Jahr würde er sich um die Ansiedlung natürlicher Fressfeinde kümmert, überlegte Charlie, während er die stinkende Brühe versprühte. Die letzte Hoffnung war ein ordentlicher Kälteeinbruch im kommenden Winter, aber der war noch weit. Charlie schwitzte mit nacktem Oberkörper im Stehen.
Auf dem Weg zurück zur schattigen Terrasse freute er sich auf ein kaltes Bier im Liegestuhl. Sein Blick fiel auf die rote Unterwäsche seiner Frau, die an der Wäschespinne baumelte, gut sichtbar in starkem Kontrast zum Blau der himmelweiten Aussicht, hier oben auf den Hügeln über der Stadt. Neben dem roten BH und dem knapp geschnittenen Slip hing ihre dünne Bluse. Er sah es vor sich, ihre Brüste in der roten Wäsche, getragen unter der Bluse, die einzig dafür gemacht war, jede Rundung ihres Körpers durchscheinen zu lassen. Die so kurz war, dass der Blick auf ihre nackten Beine bis in den Schritt frei war. Wie sehr er die weiche Haut zwischen ihren Schenkeln begehrte ...
Bei diesen Gedanken spürte er ein Zucken in seinen lockeren Sommershorts. Wie sehr er seine Yvonne doch liebte. Er griff zum Medaillon, welches er immer um den Hals trug, klappte es auf und betrachtete das Miniaturfoto darin. Sie hatte es ihm vor gut zwanzig Jahren geschenkt, nachdem sie das erste Jahr zusammen waren. Das Silber war stark zerkratzt, das Foto verblichen. Yvonne hatte nichts von ihrer Schönheit eingebüßt, frech nannte sie ihn einen Schmeichler, wenn er behauptete, sie habe sich nicht verändert und würde für ihn von Tag zu Tag nur noch schöner.
Er schritt den ebenerdigen Eingang von der Terrasse in die Küche und nahm ihren Duft wahr. Wo auch immer im Haus sie gerade steckte, er wollte jetzt schon ihren Kopf in den Händen halten, sich nach unten beugen und ihr die Aufrichtigkeit seiner Liebe mit einem langen Kuss bezeugen. Bis dahin würde er sich mit einem kühlen Bier trösten, welches er sich aus dem Kühlschrank holte, mit einer Gabel den Kronkorken zischend aufhebelte und nach draußen ging. Dabei schmunzelte er. Sie hasste es, wenn er irgendwelche Werkzeuge benutzte, um das Bier zu öffnen. Es gab aber nie echten Streit darüber, denn so hatten sie sich auf einer Studentenparty kennengelernt:
Das introvertierte Mädchen stand in der Küche irgendeiner WG, in der linken Hand ein Bier und offensichtlich auf der Suche nach einem Öffner. „Typisch Studenten-WG, zehn Kisten Bier, aber kein Öffner“, schmunzelte er, nahm ihr die Flasche aus der Hand und öffnete sie mit einem Feuerzeug. Damals rauchte er noch.
„Danke. Wenn Du Feuer hast, könnten wir nach draußen auf den Balkon gehen, um eine zu rauchen?“
Seit diesem Tag hatten sie noch viele Zigaretten zusammen geraucht, zusammen das Rauchen eingestellt, zusammen gewohnt, zusammen ein Haus gekauft und geheiratet. Natürlich hatten sie auch viele Krisen überstanden. Kleine Krisen, wie sein idiotischer Seitensprung mit der rothaarigen Sekretärin seines Chefs, welcher auch seine erste Festanstellung beendete, weil er ebenso scharf auf die Rothaarige war. Oder der Verlust ihres ersten, gemeinsam angesparten Vermögens, leider angelegt in Telekom-Aktien zum falschen Zeitpunkt.
Die größte Krise war jedoch ihr tragischer Unfall, der beinahe Yvonnes Leben und Karriere atomisiert hätte. Nur weil ein Fahrdienstleiter der Bahn zu sehr mit seinem Videospiel auf dem Smartphone beschäftigt war, um rechtzeitig die nahende Katastrophe zu erkennen. Alle hastig ausgeführten Notsignale kamen zu spät.
An Krisen kann man scheitern, man kann aber auch an ihnen wachsen. Ihr gemeinsames Leben, welches bis dahin in einen sinnlosen Trott verfallen war, auch geprägt durch die nicht gewollte Kinderlosigkeit der Ehe, wurde schwer erschüttert. Dabei spürte er in aller Angst und Panik wieder sein Herz schlagen. Zuerst dachte er, es ist der Stress, aber dann bemerkte er dieses tiefe Gefühl, welches im Alltag leicht verloren ging: Die brennende Liebe war es, die sein Herz so stark pochen ließ.
Später, als es wieder aufwärts ging, gestand auch Yvonne ihm ihre tiefsten Empfindungen. Die Angst in den Nächten, die sie im Dämmerzustand in der Klinik verbrachte und dabei nicht bemerkte, dass er immer an ihrer Seite war. „Er wird nicht mehr da sein, wenn ich jemals hier rauskomme“, dachte sie unter Tränen. „Ich habe uns so sehr vernachlässigt, warum soll er diese ganze Geschichte mit mir ertragen?“
Es war nach der Zeit in der Klinik nicht einfach für Yvonne, ihre Gefühle einzuordnen. Oft stieß sie ihn vor den Kopf, weil sie sich nicht sicher darüber war, ob sie nur Dankbarkeit empfand oder echte Liebe.
Bis zu dem Tag, als er sie dazu überredete, mit ihr in die Disco zu gehen. Achtziger-Party, tanzen zu den alten Hits. Zuerst zierte sie sich, ließ sich aber trotz aller Umständlichkeit überreden. Als sie sah, mit welcher Begeisterung er mit ihr die Tanzfläche dominierte, den Stolz in seinen Augen zwischen den gaffenden Zuschauern, brannte ihr Herz vor süßem Schmerz, sie lachten und weinte vor Glück und gemeinsam ließen sie die Kuh fliegen …
Charlie hörte ein leises Quietschen. Augenblicklich stand er aus dem Liegestuhl auf und drehte sich zur Küche um. Sie rollte ihm über den gefliesten Boden entgegen. Ein Windstoß wehte ihr glattes, blondes Haar hoch, ihr Bademantel öffnete sich leicht und ermöglichte ihm den Blick auf den Ansatz ihrer makellosen Brüste. Die nackten Beine lagen offen, aber sie schämte sich schon lange nicht mehr über die langen Narben, die ihr das Bruchstück einer Sitzbank des Bahnwaggons zugefügt hatten. Sie wusste, er hatte nur den Blick übrig für die weichen Innenseiten ihrer nackten Schenkel. Kurz bevor die flotte Fahrt ihres Rollstuhl drohte, Charlie umzuwerfen, knallte sie die Bremsen rein. Sie streckte den Arm nach oben und fuhr mit dem Zeigefinger langsam über seine Brust bis runter zum Ansatz seiner Shorts.
„Ich mag es, wenn du so verschwitzt bist. Trägst du mich ins Schlafzimmer?“
Charlie beugte sich nach unten, hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest und bezeugte seine aufrichtige Liebe mit einem langen Kuss.