Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 29)
Schmutziger November
Ich schloss mein Grafikprogramm und lehnte mich zurück. Genug gearbeitet. Die letzten Tage seit Halloween war ich nicht mehr in Helgas Kneipe und blieb brav zu Hause, bis auf einen kleinen Sonntagsumtrunk beim Traktorenrennen auf den abgeernteten Maisfeldern der staatlich subventionierten Biogas-Bauern. Das eine oder andere Pils schmeckte auch während der Arbeit im Homeoffice ganz lecker. Jetzt wäre es aber mal wieder Zeit, unter Leute zu gehen. Sonst komme ich nie mehr aus dem ausgeleierten Jogginganzug raus, der für die Heimarbeit ganz bequem ist. Duschen und rasieren braucht einen Grund, um in Angriff genommen zu werden.
Das Radio spielte „Paula“ von Haindling, was meine Gedanken zurück zur Gartenparty lenkte, auf der ich Arno so köstlich abstürzen ließ. Ein schlechtes Gewissen plagte mich deshalb nicht, aber Paula hatte die Aktion gar nicht gefallen. Mehr weiß ich nicht mehr nach dem Blackout. Paula hatte mir viel erzählt von ihrem Mann. Lief das auf eine Scheidung raus? Die Musik passte augenblicklich gut zu den Überlegungen:
„Es muaß zwar no wos anders gebm, auf dera Welt
Irgend wos, wos no viel schener is, als ganz viel Geld
Doch wenn mer jemand frogt, wos wuist Glück oder Geld
Dann gibt’s für eahm nur oans, nur oans wos wirklich zählt …“
Ich wünschte ihr jetzt schon im Stillen viel Glück. Scheidungsanwälte sind nichts anderes als raffgierige Eigentumsumverteiler. Machen beide Seiten der Parteien unglücklich und streichen unaufhaltsam fette Honorare ein. Je dicker das zu trennende Vermögen, desto größer die Rechnung. Darüber wollte ich nicht länger nachdenken. Ich musste raus. Das schmutzige Novemberwetter hatte mich viel zu lange in die Wohnung eingesperrt. Alkohol war auch keiner mehr im Haus. Beim Betreten der Dusche wunderte ich mich kurz über mich selbst. Ich musste vor einiger Zeit sehr besoffen gewesen sein, um den engen, schimmeligen Glaskasten für eine Telefonzelle zu halten. Wie vielfältig doch das Vorgaukeln falscher Tatsachen im Rauschzustand sein kann.
Frisch rasiert, geduscht und mit einem Hauch von Bruno Bananis „hot for everybody“, ließ ich die feuchte Kälte des Novembers hinter mir und betrat die warme Gaststube bei Helga. Kurz flackerte der Gedanke auf, wie es wäre, wenn Paula an der Theke säße. Ein warmes Gefühl, aber da waren nur der stumme Olli, der Bürgermeister, Metzger Herbert und mein Kumpel Klaus.
„Schaut an, welch' Glanz in unserer Hütte“, winkte mir Herbert mit erhobenem Pils-Glas zu, „doch noch keine Agentur in Hamburg aufgemacht?“
Die gesamte Runde an der Theke fiel in gehässiges Gelächter ein.
„Nein“, antwortete ich trocken schmunzelnd, „ihr müsst wohl noch eine Weile mit mir auskommen“.
Dabei kam mir die Frage in den Sinn, wer eigentlich bei diesem fragwürdigen Brainstorming rund um regenbogenfarbene Buntstifte in SM-Hämatom-Farben und Kaviar dabei war?
Drei oder vier Bier später wurde Klaus, der mittlerweile nach mehreren Sitzplatzwechseln neben mir landete, vertraulich:
„Peter, willst Du wirklich nach Hamburg? Ich meine, du kannst was. Aber in dieser ganze Medien- und Werbebranche, da werden doch nur junge Kreative verheizt. In deinem Alter mit Mitte vierzig gehörst du da zum alten Eisen. Entweder bist du dann schon Art-Director oder die treten dir alle in den Arsch. Neues Umfeld, neue Möglichkeiten zum Abstürzen. Irgendwann hockst du mit dem Lederstrumpf um die Beine auf der Reeperbahn und bettelst Passanten an ...“
„Ich weiß um die Gefahren, Klaus“, antwortete ich, „und nach all' dieser Gemütlichkeit hier in unserer netten, kleinen Gemeinde wird es mit Sicherheit ein Kulturschock, in die große Stadt zu gehen.“
„Eben“, meinte er lakonisch und stieß mit meinem auf der Theke stehenden Glas an, „hier hast du deine Kunden, deine Freunde, dein gewachsenes Umfeld.“
„Scheiße“, dachte ich. Die wollen mich nur nicht gehen lassen. Wieder ein Kaspar weniger, der für Unterhaltung sorgt und zum Dorfklatsch beiträgt. Jeder, der geht, ist ein Verräter. Wer sich erhebt, wird fallen gelassen. Der weite Horizont ist nur für angstfreie Einzelgänger bestimmt. War ich wirklich angstfrei? Schließlich hatte ich mein Leben hier auch nur mit Alkohol und Lebenslügen zusammen geklebt. Diesen Sirup wird man nicht einfach so los, der hält am Boden fest wie die tiefen Wurzeln einer vertrockneten Fichte.
„Lass' dir nichts einreden, Peter. Du schaffst das, wenn Du willst!“ nuschelte der stumme Olli von links über die Theke. „Schau mich an, ich werde jetzt Immobilien-Makler. Dann wird endlich Geld verdient. Prost!“
„Du?“, gab ich erstaunt zurück. „Makler? Da muss man viel reden, Olli!“
„Ich weiß Peter, aber glaubst du, nur weil ich hier bei Helga meine Ruhe haben will, kann ich nicht jemandem ein Hütte aufschwatzen? Du kennst mich nicht nüchtern nach vier Tassen Kaffee!“
„Scheint so, als ob alles bergab geht und jeder neue Wege sucht“, brummelte Herbert dazwischen.
Der Bürgermeister wirkte überrascht: „Na komm Herbert, deine Metzgerei läuft doch gut!“
„Denkst du!“, widersprach er, „EU-Richtlinien, neuer Supermarkt um die Ecke, der Trend zum veganen Leben, auch bei uns. Von der Frage nach den Nachfolgern ganz zu schweigen ...“
„Die Welt überholt uns und hängt uns ab“, stimmte der desillusionierte Bürgermeister mit ein. „Mich kotzt es auch an. Kommt man mit Ideen, heißt die erste Aussage: 'Das geht nicht,weil …' Dabei würde ich so gern mal hören: 'Geile Idee, lasst uns überlegen, wie wir das schaffen'. Alle anderen, die keine Ideen haben, sagen nur: 'Ich hätte gern' oder 'Ich habe ein Recht auf' …“
An diesem grauen, schmutzigen Novemberabend waren alle irgendwie frustriert. Nur der stumme Olli nicht, er träumte von einer steilen Karriere und dem schnellen Geld in der Immobilienbranche.
Es wurde echt Zeit für mich, eine Entscheidung zu treffen. Weit weg oder darauf hoffen, dass Paula die Scheidung einreichte und wir gemeinsam hier eine neue, alte Beziehung aufbauen konnten? Wäre das wirklich klug? Verdammt, warum konnte ich keine Entscheidungen treffen? Oder warum konnte ich kein Leben führen, welches gar keine Entscheidungen erforderte? Hier lebten so viel Menschen, die sich täglich höchstens entscheiden mussten, ob sie lieber den Sauerbraten oder die Wurst vom Schwein wünschten. Sonst hatten die scheinbar keine Probleme. Job, Haus, Familie. Langweilig, aber bequem.
Gedankenkarussell wollte ich heute nicht, dies war mein freier Abend.
„Helga, die Würfel!“, orderte ich.
„Genau, gute Idee!“, konterte Herbert.
„Jessas, ruft mich morgen früh nicht im Rathaus an“, stöhnte der Bürgermeister.
„Ich bin der Glückspilz“, freute sich Klaus.
„Das werden wir sehen!“ forderte ich.
Wer Theken-Würfelspiele für Hobby-Alkoholiker kennt, weiß, wie das enden wird. Menschen, die lieber nüchtern bleiben, sollten einen weiten Bogen um solche Spielrunden machen.