Hurenpass und Bockschein
3 Tage, 3 Städte, 3 Blickwinkel auf Sex als Ware. Erzählt von einer Handvoll Personen: Einem Mann, der sich in ein Luxus-Callgirl verliebt, einer versierten Hure und Puffmutter, die aus dem Nähkästchen plaudert, Ladies-Lovern, die gegen die „tote Hose” in japanischen Ehen anarbeiten, einer Hure und alten Aktivistin ...
Anlass ist neben der Lust am Erzählen ein knallhartes sozialpolitisches Thema: das neue, sogenannte „ProstSchG”, das Prostitutions-Schutz-Gesetz. Man muss kein Freiheitskämpfer sein, kein Feminist, kein militanter Humanist, kein Anarchist, um diese politische Kehrtwende in Sachen sexueller Freizügigkeit so nachdenkenswert wie bedenklich zu finden.
Teil 1
Berlin-Charlottenburg. Freitag, 19:36
Zu früh, aber das ist gut. Er möchte sich akklimatisieren, die Atmosphäre der Bar in sich aufnehmen, einen Schluck trinken. Insgeheim gesteht er sich ein, eine leichte Nervosität zu verspüren.
Das Pochen seines Pulses am Hals verrät ihn und sein gewohnt souveränes Auftreten ist nicht ganz wie sonst. Er bestellt ein Tonic Water, nimmt dankend zur Kenntnis, dass es ohne es gesagt zu haben eines von Thomas Henry ist. Eine ortsansässige Manufaktur, deren Name auf den britischen Apotheker und Chemiker verweist, der unter anderem über die Konservierung von Trinkwasser im frühen 18. Jahrhundert forschte. Der herbe, bittere Geschmack, die Kälte, die seinen Gaumen reizt, der sachliche Gedanke an Kohlensäure und dessen Geschichte, lenken ihn von der Anspannung ab angesichts der Ungeheuerlichkeit, die zu tun er sich vorgenommen hat.
Die Bar ist angenehm bevölkert, er öffnet sein Jackett, dreht sich halb zur Eingangstüre hin. Betrachtet überrascht die Gravur eines Jugendstilmotivs, eine nackte Nymphe, die einen Hirsch reitet, die er beim Betreten der Bar überhaupt nicht wahrgenommen hat. Die großstädtische Geschäftigkeit hinter der Scheibe und in der Empfangshalle des ehrwürdigen Hotels, scheint durch die wie Milchglas weißlich schimmernden Linien seltsam entrückt. Wie aus der Zeit gefallen, wenngleich er den Livrierten an der Drehtüre zur Straße hin gut sehen kann. Sein Blick fällt auf das von vielen Händen über die Jahre polierte Messing der geschwungenen Türgriffe und verfängt sich wiederum in diesem eigenwillig schönen, reichlich erotischen Motiv der Glasgravur.
Noch sieben Minuten.
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Kabukichō, Tokio. Zur selben Zeit, 02:36
Samstag, weit nach Mitternacht. Die Neonreklame am Gebäude gegenüber blinkt. Nicht schnell. Rhythmisch, unablässig. Eine Lichtzunge flamingofarbenen Scheins leckt mit interesseloser Dreistigkeit im selben Rhythmus über die Stirn der Gestalt, die konzentriert in einen Monitor sieht und schreibt.
Das Zimmer der Absteige unweit des Bahnhofes Shinjuku, kaum drei Blocks in östlicher Richtung, ist dunkel. Nur das bläuliche Licht des Computers und der neonfarbene Abglanz des berüchtigtsten Stadtteils Tokios erhellen die Gesichtszüge einer Frau Ende 30.
Sie hat sich mitten in Kabukichō einquartiert, dem größten Rotlichtviertels Japans. Es ist schrill, laut, umtriebig. Spielhöllen, Karaoke-Bars, Love-Hotels und Massagesalons über- und nebeneinander, dicht an dicht. Es ist das Revier der Mafia, der Yakuza wie der nigerianischen, die hier ebenfalls viel Geld macht inzwischen. Die Frau streicht mit einer unwirschen Bewegung eine Strähne lackschwarzen Haars zurück, schreibt mit fliegenden Fingern. Schließt für einen Moment die Augen, legt die Fingerspitzen an ihre Schläfen, massiert sie mit geübtem Griff und nachdrücklichen Kreisbewegungen. Einige Minuten vergehen. Das Flamingo-Licht unterlegt dem Nichts einen Rhythmus. Sie legt den Kopf in den Nacken. Öffnet langsam die Augen, liest die letzten Zeilen. Ihre Augen funkeln, fast meint man, ein diabolisches Grinsen zu erkennen, dann wird ihr Blick starrer, nachdenklicher. Sie zuckt zusammen, als der harte Klang der schnellen Tastenkombination des Speicherns in das Schlagen der Tür des Nachbarzimmers fällt und ein Mann sich mit garstigen Flüchen der ihren nähert.
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Frankfurt, Bahnhofsviertel. Derselbe Tag, Stunden zuvor, 14:22
Es ist ruhiger nun, die Stoßzeit um Mittag ist durch. Sie streicht ihre sehr roten Haare zurück. Künstliche Wimpern flattern wie schwarze Vögel über den blaugrauen Augen, denen nichts entgeht. Fältchen begleiten synchron das Geflatter, hüpfen mit, wenn sie spricht oder lacht, so wie jetzt. Ein Mund, auf den man unwillkürlich starren muss. Ein lieber Mund, weich. Mit einem sehr grellen Überzug allerdings, einem Pink, das man für längst passé hielt, das Technicolor ruft und an amerikanische Filme der 50er-Jahre erinnert. Sie ist eine Institution, diese Dame. Abgebrüht, blitzgescheit. Sie hat hier im Bahnhofsviertel schon alles gesehen.
Sie schaut zu, dass alles läuft im größten „Laufhaus” Deutschlands mit seinen 180 Zimmern, allesamt eher schlicht, nur dezent verplüscht und voll ausgestattet fürs horizontale Gewerbe. Es sind Mietzimmer für Sexarbeiterinnen, die ihren Arbeitsplatz pro Tag und 8-Stunden-Schicht mit um die 150 € bezahlen – zehn Kondome, eine Küchenrolle, Softdrinks und Sicherheitsservice inklusive. Es gibt Panikknöpfe neben den Betten, die Flure sind videoüberwacht und im Büro des Betreibers des Etablissements lehnen zwei Baseballschläger an der Wand – wie im Film. Meist bleibt aber alles ruhig, sagt er. Wenn es mal Ärger gäbe, dann weil ein Kunde seine Extrawünsche nicht berappen oder Geschlechtsverkehr ohne Kondom durchsetzen will und das ist in der Szene längst verboten. Es riecht nach Nuttendiesel, wie nicht mehr nur zu starkes, zu billiges Parfüm genannt wird, sondern auch das Raumspray, das hier überall herumsteht.
„20 Minuten Sexdienstleistung gibt’s für 25 €. Damit müssen die Frauen leben und für rund 400 anschaffen pro Arbeitstag, damit es rund läuft für sie und fürs Haus. Das sind 16 Freier im Schnitt” sagt sie und sieht mir mit festem Blick in die Augen.
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Berlin-Charlottenburg. Jener Freitagabend, gleich darauf, 20:06
Er erkennt sie sofort, schon als sie die Straßenfront entlang geht. Zeit genug, ihr Profil, ihre Gestalt und ihre Beine zu betrachten. Er bewundert ihren elastischen Gang trotz der Vorsicht, die sie angesichts der kleinen Steine des typischen Granitpflasters auf dem breiten Bürgersteig walten lässt. Selbst ihren Schuhen gilt seine Aufmerksamkeit, klassische schwarze Heels, nicht sonderlich hoch, vielmehr die feine Eleganz. Sie erreicht das Portal, die Drehtüre ...
Ihm wird für Sekundenbruchteile flau im Magen, als sie aus seinem Gesichtsfeld verschwindet und sogleich wieder heiß. Zu spät für jeden Gedanken an Flucht, schon hält ihr ein Herr die Tür mit der bezaubernden Ätzzeichnung auf ... und sie steuert direkt auf ihn zu. Nicht zu langsam, zögerlich etwa, und nicht zu schnell, was ihn hätte zurückzucken lassen eventuell und einen Hauch in die Defensive hätte bringen können.
Nun steht sie vor ihm, mit offenem Gesicht, warmem Lächeln, weder zu nah noch zu viel.
Er nimmt ihre Hand, führt sie zur Begrüßung mit galanter Geste, nur angedeutet, in Richtung eines Handkusses und muss sie einfach ansehen dabei. Ihre Augen blitzen, er sieht einen winzigen Schalk darin baden.
„Ann-Kristin?”, eine vollkommen alberne Frage.
Sie nickt, lächelt und spricht im Gegenzug seinen Vornamen mit so viel Gefühl und natürlichem Timbre aus, dass er meint, ihn kaum je von einer angenehmeren Stimme gehört zu haben. Sie plaudern, er findet seine Sprache einigermaßen zügig wieder, bestellt – nachdem sie sich schon mitten in einem Gespräch über Jugendstil, Barkultur und ihren offenkundig beiderseitigen Sinn für künstlerische und flüssige Genüsse befinden – eine Empfehlung seinerseits und schließt sich selbstredend an. Während sie die Lider senkt und einen Schluck des Icône, einen trockenen Roten der Domaine de la Grange, im Gaumen behält, betrachtet er ihr Profil zum ersten Mal aus der Nähe. Die Wimpern, die ganz leicht vibrieren, denn sie schluckt just in diesem Moment und hat noch immer die Augen geschlossen. Die langen Haare am Hinterkopf zur Banane gedreht, hochgesteckt; ein helles Braun mit bernsteingoldenem Glanz.
So schön ist sie also! Real, leibhaftig, neben ihm in dieser Bar. Noch attraktiver als er vermutet hat, obwohl er sich die Fotos ihrer Sedcard immer wieder ansehen musste in den vergangenen drei Wochen, die es brauchte, bis er seinen über Jahre gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen beschloss. So charmant und locker in ihren Gesten, jetzt schon. Ausgesprochen stilsicher, ein Hauch Extravaganz, ein asymmetrischer Gürtel, fast ein Kunstwerk, sonst schlicht und zurückhaltend gekleidet. Und er, der Kosmopolit, erfahren, gebildet, 16 Jahre älter als sie, auch er musste sich nicht verstecken. Dennoch wirkt seine sonst so verlässliche Weltmännischkeit selbst auf ihn gerade ein wenig eckig. Mein Gott, dachte er, was für eine Frau!
Sie habe ich ausgesucht, sie wollte ich haben. Und nun steht sie vor und ich neben mir ...
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Frankfurt, Bahnhofsviertel. Noch am Nachmittag desselben Tages, 14:46
„Die Frauen sind ausnahmslos ‚selbstständig Beschäftigte’, keine Angestellten natürlich, das macht kein Betreiber, egal wo. Sie müssen sich selbst versichern und so weiter, arbeiten auf eigene Rechnung und eigenes Risiko.
25 Euro pro Freier im 20er-Takt, das ist guter Durchschnitt. In Stuttgart zum Beispiel, im Bohnenviertel, sind es 30 für 30 Minuten, ebenfalls in Hamburg im Flat oder dem Geizhaus. Überall eigentlich, nur auf dem Land sind die Preise viel schlechter. Im Grenzgebiet im Osten, da sind sie ganz im Keller” sagt die Dame mit dem zu roten Haar.
„In einem Haus wie dem unsrigen, braucht eine Sexarbeiterin zum Glück nur 15,16 Kunden, um über die Runden zu kommen und muss sich nicht noch drunter verkaufen, wie auf dem Straßenstrich oder in all den sonstigen Grauzonen.” Das gelte auch für die anderen der 21 Bordelle der Amüsiermeile im Schmuddelbezirk zwischen dem Hauptbahnhof und dem ‚Main Tower’. Der Symbolturm Frankfurts, der alles überragt und direkt hinter der grünen Oase der Taunusanlage seine blaugläsern abweisende Eleganz gen Himmel reckt – selbstverständlich bereits auf der Sonnenseite der Stadt. Ein phallischer Architekturzylinder, der eine andere Geschichte erzählt, eine von aufstrebender Macht und finanzieller Potenz.
Sie springt von ihrem Drehstuhl auf, sieht aus dem Fenster auf die Elbestraße und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Alle sind verunsichert, pures Chaos. Keiner weiß, wie die sich das vorstellen. Die haben doch selbst nicht die geringste Ahnung, wie sie das „ProstSchG”, das neue, sogenannte „Prostitutionsschutzgesetz” (im Oktober 2016 erlassen und seit 1. Juli 2017 rechtsverbindlich) nun umsetzen sollen. Dieses Gesetz ist Regulierungsscheiße und Behördenwillkür in Reinkultur, nichts weiter! Keiner hat einen Plan, was das in der Szene anrichten wird.
Und was das für die Frauen bedeutet unterm Strich.”
… / 2
8.2017©Nyx
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Dank der positiven Entscheidung unseres Moderatorenteams kann dieses Thema nun – offen kommentierbar für jedermann* – im JOY gepostet werden und bekommt Asyl hier im Hauptbereich der Kurzgeschichten.
lichen Dank Euch Dreien für Euer Engagement!
*Damit verbindet sich allerdings die Hoffnung, dass wir uns sachgerecht und respektvoll zueinander wie zum Thema verhalten, auf bloße Klamauk-, Dissenzpflege- und Egoshow-Postings verzichten und nicht zu viel „Bereinigungs”- oder Besänftigungsaufwand für unsere Moderatoren entsteht dadurch. Aber das kriegen wir locker hin, nicht wahr?
,-)
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