Seelenblut und Hoffnung
Der Wind peitscht die Schneeflocken in Wirbeln um mich herum, der Schnee ist weich, ich sinke mit jedem Schritt tiefer ein. Ich spüre ihn an meinen Knöcheln, dennoch, ich fühle keine Kälte. Der Wind packt den Saum meines Kleides und spielt mit ihm. Diese sanfte Liebkosung erinnert mich an ihn.
Meine Augen starren durch das Stoben der Flocken. Mein Herz brennt, ich möchte ihn sehen. Wo steckt er nur?
Er hat es mir versprochen. Nachdem er mich vorsichtig hier im Wald abgesetzt hatte, erhob er sich auf seinen wundervoll verzierten Schwingen und flog zurück. Nicht ohne noch einmal einen Blick über seine Schultern in meine Richtung zu werfen. Wie viel Traurigkeit ich darin erkennen konnte. Mir zerriss es fast das Herz, dies in seinem sonst so starken und beherrschten Gesicht sehen zu müssen.
Gedankenverloren gleitet meine Hand über meinen Arm, doch ich spüre nicht meine eigene Haut, nein, ich spüre ihn, seine rauen Schuppen, die ihn überziehen und schützen. Unverwundbar ist er. Stark und allmächtig. Mein Leben wurde ihm nach meiner Geburt anvertraut.
Seine ausladenden Schwingen, das tiefe Geräusch, das sie bei jedem Schlag verbreiten, er wird es schaffen …
Wieder packt mich der Wind, wirbelt meine Haare um meinen Kopf, sie nehmen mir fast die Sicht. Meine Augen schmerzen bereits, durch den kalten Wind und mein beständiges Starren. Unruhe packt mich, sie steigt von tief in mir auf. Ich unterdrücke Bilder, die emporbrechen wollen, doch ich will sie nicht sehen.
„Geht weg!“, schreie ich in den Wind und sinke auf die Knie. Meine Hände berühren den weichen Schnee, er schmilzt nur langsam zwischen meinen kalten Fingern. Tausende kleiner Eiskristalle die in meinen Händen sterben. Wie meine Sippe, mein Dorf, zu dem er nun zurückgekehrt ist. Tränen verschleiern meine Sicht, ich blinzle um sie aus meinen Augen zu vertreiben. Kalt tropfen sie in den Schnee, hinterlassen dort eine kleine Kuhle, in die sich jedoch rasch neue Schneeflocken verirren und sie auffüllen.
Er hatte mich während unseres Winterrituals aus der Gemeinschaft gerissen. Ich müsse in Sicherheit gebracht werden. Lachend wollte ich wissen, weshalb und was mir denn passieren sollte. Hier während unserer Feier, zu der das ganze Dorf erschienen war. Sein Blick aus den schwarzen Augen loderte wie ein Feuer und ich glaubte, einen Funken Angst darin zu erkennen. Er erzählte mir, dass er auf seinem Weg in mein Dorf die Truppen der Haxol entdeckte, die schwer bewaffnet und durch die Wälder zogen. Viele unserer Nachbardörfer wären bereits dem Erdboden gleichgemacht und erhellten die Nacht durch ihre brennenden Hütten.
Voller Sorge blickte ich mich in meiner Gesellschaft um. Sah lachende, glückliche Gesichter. Vertraute, geliebte, alte und junge Gesichter. Ein schwaches Lächeln glitt trotz der Angst über mein Gesicht. Sie waren doch alle so glücklich und das sollte jetzt plötzlich vorbei sein?
Die Antwort folgte prompt. Ein lautes Johlen erscholl als Echo aus den Bergen. Noch nahmen es nicht alle meiner Sippe wahr. Doch er schon. Seine spitzen Ohren waren um ein vielfaches empfindlicher als die der Menschen. Sein Kopf schnellte in die Richtung des Brüllens, dann zurück zu mir. Bevor ich es noch registrieren konnte, befanden wir uns bereits im Flug über meinem Dorf in Richtung der Auenwälder. Ich klammerte mich fest an ihn, spürte seine kräftigen Muskeln unter der erhitzten Haut, seine Anstrengung war deutlich zu spüren. Ich schrie ihn an, er solle mich zurückbringen, doch er flog unbeirrt durch die dunkle Nacht.
Nach einem endlos scheinenden Flug setzte mich behutsam in einer Lichtung ab. Schaute mir in die Augen und ich versank in diesen schwarzen Seen.
„Bleibt hier, Angebetete! Ich fliege zurück, ich werde alles versuchen, was in meinen Kräften steht“ versprach er und verschwand.
Dies war, noch bevor die Nacht ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Jetzt, der Morgen graut bereits, doch die Wintersonne hat keine Kraft, das trübe, graublaue Licht zu vertreiben. Die Schneewolken blieben stur am Himmel und entladen machtvoll ihre weiße Pracht.
Was passiert, was ist mit meiner Sippe, was ist mit ihm? Immer stärker drängen angstvolle Bilder in mein Bewusstsein, ich kann sie nicht mehr aufhalten. Mein Herz schlägt kräftig gegen meinen Brustkorb und nimmt mir den Atem.
„Wo bist du?“ brülle ich in den Wind und verenge meine Augen zu Schlitzen um durch all die Schneepracht irgendetwas erkennen zu können.
Ich starre, bis mir Tränen aus den Augenwinkeln tropfen und über meine Wangen laufen. Zwischen all dem Grau glaube ich etwas zu erkennen. Es wird langsam größer und es nähert sich. Ja, er muss es sein! Jetzt rast mein Herz, ich glaube zu sterben vor Ungeduld.
Er ist es, ich erkenne es an seinen Schwingen, doch was ist das? Es ist nicht der gleichmäßige Flug, den ich kenne. Er schwankt, torkelt, scheint nur unter größter Mühe vorwärts zu kommen. Oh meine Göttinnen, was ist mit ihm? Ich kann nun erkennen, dass roter Lebenssaft aus ihm sprudelt. Ich eile ihm entgegen. Schreie, befehle, er soll sofort vor mir landen. Sein schmerzverzerrtes Antlitz erkennt mich, die Trauer darin zerschneidet mein Herz.
Er landet unsanft, erhebt sich schwerfällig und nähert sich mir gebeugt. Ich schlage meine Hände vor dem Mund um nicht zu schreien und stürze mich auf ihn, umarme ihn, während er unter lautem Stöhnen versucht, meine Umarmung zu erwidern. Als er mich von sich schiebt und unter keuchendem Atmen erzählt, was passiert ist, entdecke ich die drei langen Speere, die seinen Körper durchbohrt haben. Sein Blut färbt den Saum meines Kleides, den Boden unter ihm, seine Schwingen schleifen schwer über den roten Schnee.
Das Sprechen fällt ihm unendlich schwer, während er von der Barbarei der Haxol berichtet und dass jeder einzelne meines Dorfes hingemetzelt wurde. Doch hat er die Huxol besiegt. Sie haben seine Rache nicht überlebt. Ich höre was er sagt, doch ich will es nicht begreifen. Mein Verstand weigert sich, dieses Bild zuzulassen, das nun Realität ist. Er sinkt vor mir auf die Knie. Seine wundervollen Schwingen sind blutverschmiert, der Boden ähnelt einem roten Teppich aus Samt. Ich möchte ihn umarmen, seine Nähe spüren, doch er schüttelt den Kopf.
„Ich kann Euch nicht mehr beschützen, ich habe versagt. Geht jetzt. Sucht Euch einen neuen Schatten, der Euer Leben hütet. Hinter den Auenwäldern werdet Ihr ein Dorf finden, das Euch aufnehmen wird.“
Sein Röcheln ist furchterregend, die Speere in seinem Körper beben mit jedem seiner Atemzüge, die von Augenblick zu Augenblick schwächer werden. Ächzend knirscht der Schnee, als sein schwerer Körper langsam zu Boden sinkt. Noch einmal erblickt mich das unendliche Schwarz seiner Augen, dann erlischt das Leben meines geliebten Schattens.
Ich bin allein, mein Herz ist tot.
© Lys 08/17