Entfaltung
Wie ich euch, glaube ich, schon mal erzählt habe, sind die Texte über Jorind Teile eines Romanprojekts, das weitgehend autobiegrafische Züge hat. Das Buch ist in drei Teilen konzipiert, der erste handelt von der Lehrerin bis zu ihrem Burnout, der zweite von der Swingerin mit dem Nickname Jalma001, der dritte von der Erzählerin und Poetin luccioladagosto.Da ich den Roman in den Zeiten des Burnout begann, sind zunächst verschiedene Romanschlüsse entstanden. Denn das brannte mir vor allem auf der Seele: Wie sollte es mit mir, mit meinem Leben weitergehen?
Einen Romanschluss kennt ihr bereits ... Kurzgeschichten: Auf Messers Schneide
Hier nun eine weitere Variante, chronologisch gesehen die zuerst Geschriebene.
Romanschluss (1)
Dank der Hinweise in ihrem Abschiedsbrief zogen Taucher ihre Leiche drei Tage später aus dem zehn Kilometer entfernten Haselbacher See. Um die Knöchel waren mit Strohkordeln zwei große Bruchsteine gebunden, die aus dem Ufergeröll des Sees stammten. Der Spurenlage nach musste sie versucht haben, im letzten Augenblick die Knoten wieder zu lösen. Im Schilf etwas abseits hatten sie zuvor das orangerote Schlauchboot gefunden, mit dem Jorind auf den See hinausgerudert sein musste. Ihr Auto stand auf dem Parkplatz der Badestelle.
Als man noch dabei wr, den Fundort großräumig abzusichern, zog von Westen Sturm auf. Ein böiger Wind fegte Sand und abgebrochene Äste vor sich her. Riesige Regentropfen und rumpelnder Donner kündigten ein heftiges Gewitter an.
Der Polizeiobermeister aus der Kreisstadt drängte seine Leute zum Aufbruch und setzte sich in seinen Dienstwagen.
"Schon der zweite Selbstmord in diesem Jahr!" schrie er den zwei Polizeischülern zu, die an dem Einsatz teilnahmen. "Hier können wir heute nichts mehr machen."
Die jungen Männer banden hastig die letzten Zipfel des rotweißen Absperrbandes zusammen und schlangen es mehrfach um einen dünnen Eisenstab. Mit eingezogenen Köpfen rannten sie gegen den peitschenden Regen zum Wagen und ließen sich erleichtert auf den Rücksitz fallen. Ihr Chef startete den Wagen und fuhr vorsichtig durch den aufgeweichten Sand zum Fahrweg, an dem schwarzen Lieferwagen vorbei, den an beiden Längsseiten ein silberfarbenes Kranzemblem schmückte, und in dem die alte Lateinlehrerin in einem Aluminiumkasten lag.
In weitem Bogen umrundete das Polizeifahrzeug den aufgewühlten See, dicht gefolgt von dem Leichenwagen. Ein kreisender Mäusebussard hatte das Geschehen in seinem Revier aufmerksam verfolgt und verhielt einen Augenblick gegen den Sturm, bis die Autos hinter einem Erlenwäldchen verschwunden waren. In einer engen Wendung drehte er ab und hielt mit dem Wind im Rücken auf den nahen Uferwald zu. Sein rauer Schrei ging im Gewittergetöse unter.
Vier Monate späte zog Theo zu seiner letzten noch lebenden Schwester nach Hessen. Alle Häuser, mit Ausnahme der Ranch, waren verkauft, ebenso die Tiere. Nur die alte Hündin hatte er behalten. Das Gelände des Freizeithofes verwilderte allmählich. Junge Schwarzerlen und Pappeln wuchsen in der Pferdekoppel, im Kuhauslauf breiteten sich wilde Brombeeren aus.
Die alten Baracken verloren die letzten Holzschindeln der Außenwände, im Dachgeschoss des Beamtenhauses zog ein Uhu ein. Als die alte Frau Lohr gstorben war, zog ihr Sohn in eine Gemeindewohnung im Dorf. In dem verwahrlosten Haus, das sie vierzig Jahre ihr Heim genannt hatten, streiften verwilderte Katzen umher.
An der uralten Esche schien die Zeit spurlos vorüberzugehen. Jahr für Jahr trieb sie als Letzte im Juni aus, im Herbst, wenn die übrigen Laubbäume die Blätter längst abgeworfen hatten, blieb sie noch lange grün. Die schwarzen, zwiebelförmigen Knospen waren im Winter von weitem zu sehen, wie kleine Farbtupfer saßen sie am Ende oder seitlich an den grauen Zweigen. In ihnen waren die gefiederten Blätter - sie können bis zu vierzig Zentimeter lang werden - samt Stiel verborgen.
Als zwei Jahrzehnte später Jorinds Tochter Silvia den Vorruhestand erreicht hatte, richtete sie sich im Erdgeschoss des Beamtenhauses häuslich ein, und das stille Gelände erwachte zu neuer Betriebsamkeit. Wie in längst vergangenen Tagen, als die Esche noch ein schlanker junger Baum gewesen war, wurde ihr Laub wieder geerntet und getrocknet. So hatten die Tiere neben dem Heu in den Wintermonaten zusätzliches Futter.