Irrealis
DemenzIch weiß gar nicht mehr, wann mich die Geschichten anderer Menschen mehr zu interessieren begannen als meine Eigenen. Irgendwann war es geschehen: Ich klebte vor dem TV-Bildschirm und starrte stundenlang auf schlecht gemachte Ideen. Versottete innerlich. Erzählte nicht mehr, sondern hörte zu, sah zu.
Und ich konnte mir die Namen der Schauspieler nicht merken. Jeden Abend waren andere Helden dran, mal mit Kostüm, mal ohne, mal ohne alles. Egal. Ich konnte sie mir nicht merken. Ich wusste nur, dass ich vor gar nicht langer Zeit selbst Geschichten erzählt hatte, ohne Kostüme, nur Worte. War das so gewesen? Ich weiß es nicht.
Meine älteste Tochter kam zu Besuch. Oh, was war sie lieb zu mir. Umarmte mich, lachte, weinte mit mir. Erinnerte sich an soviel, an alles, was ich längst vergessen hatte. Dass sie sehr viel früher auf meinen Knien reiten durfte, dass ich sie beim Plündern der Johannisbeerbüsche erwischt hatte. Dass sie ins Bett gehen musste, wenn ich ihre Stiefmutter ficken wollte. Daran erinnerte sie sich. Ich nicht.
Ihre Stiefmutter. Diese Frau da neben mir? Dieses aufgedunsene, angemalte Schiff mit der hohen, nörgelnden Stimme? „Ja“, sagt meine Tochter, „erinnere Dich, Papa: Das ist Marian, mit der lebst Du schon seit fast zwanzig Jahren zusammen.“. Ich lächele und nicke freundlich in die Runde. Hier sind einige Menschen, die ich glaube, zu kennen. Das junge Ding da, schlank und rank, scheint meine Tochter zu sein. Schade. Töchter sind tabu, soweit ich weiß. Dabei gefällt sie mir besser als diese Matrone, die meine Lebensgefährtin zu sein scheint. Sie ist dünn, hat glatte Haut und riecht nach Abenteuer und Leben. Die alte, fette Schachtel, die mit ihren kurzen, dicken Fingern immer wieder durch meine Haare fährt, stinkt. Sie stinkt nach Desinteresse und Gier, nach profanem Sex und dem Wunsch nach einer Leibrente oder einem Wohnrecht. Sie ist in der Körpermitte füllig geworden, dick, möchte man fast sagen und ihre Gesichtszüge sind verzerrt.
Mein Töchterlein schmiegt sich an mich. Sie ist gerade achtzehn geworden. Ich wittere sie, sie erwacht und wird viele junge Kerle anlocken. Gerade gestern hatte ich noch gute Ideen, wie sie sich schützen kann, doch im Moment fallen sie mir nicht ein. Dennoch will ich sie beschützen. Vielleicht erschieße ich ihre Verehrer? Ich frage meine Tochter danach, doch sie will nichts davon wissen. Im Gegenteil, sie redet von einem Paul, den sie mir eines Tages vorstellen will. Fickt der sie etwa?
Sie reagiert empört, als hätte ich das als Frage gestellt. Das Walross überzeugt mich endlich davon, dass ich sehr wohl danach gefragt habe. Ich schüttele innerlich den Kopf: Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich trinke noch ein Glas Wein. Das Leben ist leicht. Wer ist die dicke Person, die sich an meinem Hals zu schaffen macht? Ich schiebe sie weg, als größter Schriftsteller der Neuzeit muss es einem erlaubt sein, ein wenig Privatsphäre zu genießen.
Diese junge Muse an meiner Seite, dieses Mädchen, das gerade erwacht: Das ist Sie! Sie wird die Schirmherrin all meiner Geschichten sein! Ich küsse sie. Sie schreit. Schlägt entsetzt nach mir. Nimmt meinen Kopf zwischen ihre zarten Hände und schreit mich an.
Ich verstehe nicht alles. „Papa!“. Ich zucke die Schultern und nicke. Und küsse es erneut, dieses fabelhafte Wesen. Verstehe die Abscheu nicht, die ich überall auslöse. Die fette Gouvernante empört sich, das Mädchen schreit und kreischt – was stimmt nur mit mir nicht? Ich blicke an mir herab: Ich bin sechsundzwanzig, jung und agil, frech und voller Muskeln – was hat die Kleine nur? Glaubt sie, sie würde hier irgendwo einen Hübscheren als mich finden?
Ich lache laut. Sie schreit und schiebt mich mit Händen und Füßen von sich. Auch die dicke Matrone hilft ihr. Beide Weiber sind wie von Sinnen, zerren an mir herum. Fast, also wollten Sie mir nicht gönnen, das Mädchen standesgemäß zu begatten. Ich schaffe es am Ende auch nicht. Also bearbeite ich meinen getäuschten Schwanz emsig mit meinen Fingern, ein Rezept, das immer wirkt. Das junge Mädchen weint. Die alte Dicke schluchzt und schüttelt den Kopf. Ich komme. Spritze meinen Erguss weitläufig durch die Gegend, verteile alles ringsherum. Aber ich löse keine Freude damit aus. Ich verstehe das nicht.
Alle sind böse und traurig. Ich höre nur Geflenne. Das junge Mädchen, das mir so gut gefällt, die alte Aufseherin: Beide sind offensichtlich empört über mein Verhalten. Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich nehme das Mädchen in den Arm und werde sofort geschlagen. Dann drängen sie mich in einen Kittel, in dem ich mich kaum bewegen kann, mit Hilfe weiterer Helfer.
Ich erinnere mich. Die Schauspieler. An diesem Abend. Wer waren sie noch gleich? Wartet, ich weiß es. Das Mädchen. Meine Tochter? Oder meine Stiefmutter? Wer bin ich überhaupt?
Ich will das jetzt klären und erhebe mich. Der Gummiknüppel tut weh. Immer wieder. Ich höre Weinen. Ich spüre Schmerz. Wie heißt der Schauspieler? Ich kann mich nicht erinnern.
Aber in all diesem Wust von wilden Eindrücken blieb mir das sichere Wissen: Einst konnte ich Geschichten erzählen. Ich weiß nur nicht mehr, worüber.