Irgendwas, das bleibt
Martin Friedrichsen sitzt wie jeden Tag auf der hölzernen Bank im Park vor der Klinik. Stundenlang sitzt er dort und betrachtet die Efeuranken, welche die Hauswand bis zum Dach mit sattem Grün bedecken. Er wirkt benommen - was nicht ungewöhnlich ist bei dem Tablettencocktail, den er zu jeder Mahlzeit bekommt. Jedoch lässt er seit einiger Zeit die Tabletten zum Mittagessen heimlich verschwinden. Er stopft sie in seine Socken und entsorgt sie in der Toilette. Niemandem ist es bisher aufgefallen. Da er seit ein paar Jahren hier lebt, wird er nicht mehr kontrolliert. Martin kann nun zwar seine Gedanken wieder wie aus weiter Ferne hören in seinem Kopf, aber äußerlich wirkt er noch immer gleichförmig ruhig und fast leblos. Und durch die beruhigende Wirkung der Efeuwand überrollen ihn seine Gedanken nicht. Sie können langsam fließen.
Die abendlichen Tabletten versteckt er nicht. Er hat sie einmal weggelassen, da wurde er fast verrückt. Es war zu viel, was dann auf sein Hirn einstürmte. Seitdem weiß er, dass die morgendlichen und abendlichen Tabletten noch immer nötig sind.
So erlebt er Tag für Tag auf seiner Bank ein sanftes "Nachglühen" seiner Vergangenheit, bis alles nach der abendlichen Tablettenration wieder im Nebel verschwindet.
Martin Friedrichsen führte einst ein glückliches und erfülltes Leben. Als kleiner Beamter tat er gerne seine tägliche Arbeit, war glücklich verheiratet, liebte seine kleine Tochter über alles und leistete sich sogar ein kleines Reihenhaus, das er monatlich abzahlen konnte. Er war zufrieden und seine Familie würde keinesfalls verhungern.
Durch seine innovativen Ideen und sein politisches Engagement stieg er mit den Jahren die ersten Stufen der Karriereleiter weiter nach oben. Oh, seiner Frau gefiel das sehr! Konnte sie sich doch schönere Kleider leisten, es gab Urlaube in besseren Hotels, und auch die Tochter konnte sich immer mehr ihrer pubertären Wünsche erfüllen.
Eines Tages war es soweit: Er wurde tatsächlich zum Ministerpräsidenten gewählt. Eine große Ehre! Seine harte Arbeit wurde belohnt. Seine Frau war stolz und bewegte sich in höheren Kreisen, mit denen er weniger anfangen konnte, aber nun mal dazugehörte. Seine alten Freunde waren ihm viel wichtiger und wertvoller, jedoch verlor sich der Kontakt zu ihnen immer mehr. Nicht alle waren glücklich über die Ansichten seiner Partei.
Sie kauften sich ein größeres Haus - seine Frau hatte ihn dazu gedrängt - und seine inzwischen erwachsene Tochter bekam eine Eigentumswohnung und sonnte sich in ihrer Berühmtheit als Tochter eines Ministerpräsidenten.
Oftmals hatte er das Gefühl, seine Frau und er würden sich immer mehr voneinander entfernen. Er kam immer später nach Hause, war häufiger auf Dienstreisen, sie war immer shoppen oder mit anderen "wichtigen Gattinnen" bei Champagner und Häppchen. Sie veränderte sich, war nicht mehr die Frau, die er einst so sehr geliebt hatte. Und die Tochter wurde wie sie. So gingen die Jahre dahin.
Martin Friedrichsen machte einen guten Job. Er hatte gute Ideen, brachte einige gute Gesetze auf den Weg und wollte die Welt verbessern. Irgendwann wurden jedoch immer mehr seiner Vorschläge abgelehnt. Er wollte dafür sorgen, dass niemand mehr verhungern musste. Da ist so viel Wohlstand, warum müssen dann Menschen hungern? Er verstand das nicht und wollte es auch nicht weiter zulassen. Auch die Zerstörung und all die Kriege mussten aufhören. Außer ihm wollte das leider keiner seiner Politikerkollegen. Allen ging es nur um Geld und Macht. Und Krieg bringt nun mal den Mächtigen auch Geld.
Martin wusste, irgendwann kommt die Retoure. Die sind alle so überfressen, das kann nicht lange gut gehen. Er wurde unzufrieden, zum Rebellen der Partei, keiner nahm ihn mehr ernst, er wurde lästig.
Seine Frau und seine Tochter wollten seine Sorgen und Bedenken nicht hören. Sie versuchten, ihn zu beruhigen, sagten, er sei einfach nur überarbeitet, das wird schon wieder.
Nach und nach verabschiedete er sich innerlich. Fühlte sich einsam, verlassen, von verrückten Ignoranten umgeben.
Ein Jahr später war es seine Sekretärin, die ihn fand. Sie kam morgens ins Büro und hörte Geräusche aus seinem Zimmer. Sie wunderte sich, normalerweise war sie vor ihm da. Sie öffnete vorsichtig die Tür und sah ein Chaos vor sich. Das Zimmer war verwüstet. Akten lagen zerfleddert und zerrissen überall am Boden, mittendrin saß Martin Friedrichsen und weinte bitterlich. Die Wände waren vollgeschrieben mit den Sätzen "Die Welt ist eine Irrenanstalt" und "Die Retoure wird kommen". Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, murmelte er unablässig "Irrenanstalt" und "Retoure" und war nicht ansprechbar.
Martin Friedrichsen wurde eingeliefert. In eine bekannte psychiatrische Klinik. Offiziell hatte er aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niedergelegt. Seine Frau und seine Tochter besuchten ihn dort nur einmal. Sie leben seitdem mit seiner Ministerpension ihr Wohlstandsleben weiter.
So sitzt er nun hier vor seiner Efeuranken-Wand. Sie ist gleichförmig, beruhigend, wird nicht zerstört. Sie strahlt Beständigkeit aus. Fast schon Geborgenheit.
Er darf inzwischen einmal pro Woche die Nachrichten im Gemeinschaftsraum anschauen. Er sieht, wie die Welt zugrunde geht. Da ist seine Efeuwand wertvoller denn je. Sie wird nicht zerstört. Sie bleibt.
Und er sehnt sich zurück nach der glücklichen Zeit mit seiner Frau. Sie waren so unendlich glücklich gewesen - damals.
Von ihm unbemerkt kommt Schwester Angelika heranspaziert und setzt sich zu ihm auf die Bank.
"Na, Herr Friedrichsen, haben Sie denn keinen Hunger? Das Abendessen wartet."
Als er nicht reagiert, bemerkt sie die kleinen In-Ear-Kopfhörer. Sie hat ihm gestern einen MP3-Player mitgebracht, damit er ein wenig Musik hören kann. Angelika nimmt ihm sanft die Hörer aus den Ohren, hält einen davon an ihr Ohr und hört eine Liedzeile: "Gib mir was, irgendwas, das bleibt."
Martin dreht sich um zu ihr und schaut sie an. Eine Träne fließt langsam über seine Wange.