Die Wortliste
oder
Warum sich der Schreibzirkel der VHS Feldkirchen-Westerham am Ende doch vorzeitig aufgelöst hat
Der pensionierte Studienrat Dr. Nolte klatschte in die Hände und blickte lächelnd in die Runde. So gut gelaunt hatten die fünf Teilnehmer des Kurses „Kreativ Schreiben, aber richtig - Literaten unter sich“, den die Volkshochschule Feldkirchen-Westerham erstmalig anbot, ihren Dozenten noch nicht erlebt, und immerhin fand heute die siebte und vorletzte Doppelstunde statt.
„Liebe Teilnehmer, heute habe ich eine besondere Übung für Euch. Seht es als eine Art Abschlussprüfung an!“
Lissi Meinreich rümpfte die Nase, wie immer, wenn etwas Unerwartetes geschah. Johannes Obermaier neigte den Kopf ein wenig zur Seite und kniff die Augen zusammen, ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich auf einen heftigen Widerspruch vorbereitete. Patrizia Hemmerswyl, die Neureiche aus dem Oberstadtviertel, stieß ein paar Mal die Luft durch die Nase aus und Jörge Sörensen, der Zugereiste aus dem Norden, nickte eifrig und sah sich beifallheischend um. Lediglich die jüngste in der Runde, Nikki Seifeld, sah genauso gelangweilt aus wie immer und kaute in dem ihr eigenen Takt auf ihrem Kaugummi herum.
Der alte Studienrat räusperte sich und trat an die Tafel.
„Heute gebe ich euch sechs Hauptwörter und zwei Adjektive vor, die baut ihr möglichst sinnvoll und kreativ in eine kleine Geschichte ein. Wer die beste Geschichte schreibt, gewinnt!“
Seine Stimme strengte sich an, den Fünfen so etwas wie Motivation oder gar Begeisterung zu vermitteln, doch die einzige Reaktion, die seine Eröffnung hervorrief war ein mehrstimmiges Gemurmel, das kaum den Eindruck von Zustimmung erweckte.
Er atmete tief durch, wandte sich zur Tafel und begann schwungvoll zu schreiben.
Sahnetorte
Die Teilnehmer verstummten. Ein erstes Kritzeln auf den Blöcken war zu vernehmen. Dr. Nolte entspannte sich und schrieb das nächste Wort an die Wand.
Metzger
„Hey, hey, Dottore! Was soll das denn? Das passt ja nun gar nicht zusammen!“
Wie immer klang Johannes Obermaier aufgebracht. Er schien das Leben an sich als persönliche Beleidigung zu empfinden, die Anforderungen, die hier im Kurs an ihn gestellt wurden sowieso. Zum Glück fühlte sich Patrizia Hemmerswyl von dem jungen, unbeherrschten Kerl so genervt, dass sie anstelle des pensionierten Studienrates reagierte.
„Dieser Umstand, mein Bester, dürfte ja genau die Herausforderung darstellen. Da müsstest Du ausnahmsweise mal Dein Gehirn anstrengen, was sicher nicht so oft vorkommt.“
Bevor der Angesprochene etwas erwidern konnte, schabte die Kreide erneut über die Tafel.
Strafzettel
Nun war das Kratzen von drei Mienenbleistiften auf chlorfrei gebleichtem Papier zu hören und Lissi Meinrich steckte beim eifrigen Schreiben ihre Zunge heraus. Jörge Sörensen schüttelte langsam den Kopf, verkniff sich aber eine Bemerkung nach einem Seitenblick auf die kerzengerade dasitzende Patrizia. Dr. Nolte traktierte schwungvoll die alte Schultafel.
Zügel Wiese
„Na ja, das passt ja wenigstens Mal.“
Johannes Obermaier sprach sehr leise. Er vermied jedoch jeden Blickkontakt mit der eitlen Schnepfe zu seiner Rechten. Nikki Seifeld dagegen zog eine Augenbraue hoch, runzelte die Stirn und holte ihr Smartphone heraus, ganz entgegen der Regeln, die der pensionierte Studienrat zu Beginn des Kurses aufgestellt hatte. Doch dieser stand noch immer der Tafel zugewandt. Er schien gerade mit einer Entscheidung zu ringen. Doch endlich seufzte er und schrieb das nächste Wort.
Intimchirurgie
„Was soll das bitte sein, Herr Doktor Nolte? Ich kann mir darunter nichts vorstellen.“
Lissi Meinrichs helles, dünnes Stimmchen klang beinahe verzweifelt. Johannes Obermaier ließ sich die Chance nicht entgehen und blökte gleich hinterher.
„Eben! Das ist doch alles Schwachsinn! Wer kann denn daraus eine Geschichte machen? Da passt ja gar nichts zusammen!“
Er schmiss den Block mit einer übertriebenen Geste auf den Boden. Der pensionierte Studienrat ignorierte das und vervollständigte die Liste, fast hektisch, wie es anmutete.
braun bräsig
„So, das sind die beiden Adjektive.“
Er wandte sich zu seinen Teilnehmern um. Johannes Obermaier stand auf und deutete auf die Tafel. Er schrie fast.
„Und was soll das fürn Adjektiv sein? Bräsig? Hab ich noch nie gehört!“
Jörge Sörensen hob die Schultern und wollte eine Antwort geben, aber Patrizia Hemmerswyl kam ihm zuvor.
„Das ist der Dauerzustand Deines Gehirnes, junger Mann. In einem ansatzweise plattdeutschen Dialekt ausgedrückt, nicht wahr, Herr Sörensen?“
Der Angesprochene nickte und wollte erneut etwas sagen, als Johannes Obermaier drohend seine Hand hob.
„Halt Du bloß Dein Maul, Du Saupreiß, du elender…“
Der hagere Mann aus Norddeutschland winkte ab und zog es vor zu Schweigen. Dr. Nolte nahm seine Brille ab, putzte sie ausgiebig und setzte sie sich wieder auf die Nase. Sein Lächeln gefror als er feststellen musste, dass nicht nur die dauergelangweilte Spätjugendliche im Gothic-Outfit mit ihrem Smartphone hantierte, sondern inzwischen auch Lissi Meinreich und Patrizia Hemmerswyl eifrig am googlen waren. Der pensionierte Studienrat, der diesen Kurs nur leitete, weil er sonst mit seiner Zeit nichts anzufangen wusste und ihm das Dozieren vor folgsamen Schülern fehlte, hob seine beiden Hände.
„Nun, so schlimm ist es doch gar nicht. Lieber Johannes, das schaffst Du schon, nur Mut. Und beste Lissi, die Intimchirurgie ist einfach das Operieren an Geschlechtsteilen. Da fällt euch schon was ein, gell?“
Er setzte wieder ein strahlendes Lächeln auf und blickte in die Runde. Vier von seinen Teilnehmern starrten ihn fragend an, lediglich die gelangweilte Nikki biss sich auf die Unterlippe und begann, kopfschüttelnd zu lachen.
„Nikki, bitte leg Dein Handy weg, das hatten wir doch vereinbart.“
Dr. Nolte legte all seine wohlwollende Autorität in die Stimme, doch das junge, grell geschminkte Ding, das schon wiederholt seinen Anordnungen widersetzt hatte, grinste ihn frech an. Dann erhob sie sich, drehte eine Pirouette und wandte sich an ihre Teilnehmerkollegen.
„Haha, das nenn ich Outing! Unser Doktorchen hier hat uns ne Wortliste ausm Joyclub verpasst! Kam mir doch gleich so bekannt vor!“
Der pensionierte Studienrat wurde blass und Lissi Meinreich fächelte sich Luft zu.
„Scheuklapp? Was isn das?“
Johannes Obermaier schien nicht seinen begriffsstärksten Tag zu haben.
„Joyclub, das ist englisch, Du Hinterwäldler.“
Patrizia Hemmerswyls Stimme klang extrem müde. Trotzdem fuhr sie mit Blick auf den armen Dr. Nolte fort.
„Joyclub, Gruppe Kurzgeschichten, das Acht-Wörter-Spiel, Herr Doktor. Was für ein unwahrscheinlicher Zufall, nicht wahr? Ich wäre für eine Erklärung dankbar.“
Nikki tanzte ein paar Schritte vor und deutete mit ihrem Smartphone auf den schwitzenden Dr. Nolte.
„Der Typ verarscht uns schon die ganze Zeit, hah! Der nimmt unsere Stories und veröffentlicht die dort im Forum, tut so, als seis auf seinem Mist gewachsen!“
Lissi Meinreich: „Ohgottohgott.“
Johannes: „Den leg ich um, das Schwein! Das ist Diebstahl!“
Patrizia: „Wohl eher Verletzung des Urheberrechts, Du geistiger Tiefflieger.“
Johannes: „Kann der blöden Sau mal einer eins reinhauen?“
Jörge Sörensen: „Ich hab das mit den Scheuklappen noch nicht ganz…“
Johannes (gibt Jörge einen Klapps auf den Kopf): „DscheuKlabb, Du Dödel, des is englisch!“
Nikki: „So, Doktorchen, jetzt mal raus mit der Sprache: Seit wann läuft dieses Spielchen schon?“
Dr. Nolte: „…“
Lissi Meinreich: „Ohgottohgott, wie schrecklich!“
Patrizia (eisig): „Hier, ich hab’s auch: Nennt sich dort THEHIDDEN und schmückt sich mit unseren Federn. Hat unter dem Namen all unsere Übungen als seine eigenen Ergüsse veröffentlicht!“
Lissi: „Oh mein Gott! Ergüsse! Wie fürchterlich!“
Nikki: „Ach, Sie sind auch Mitglied dort?“
Patrizia (wird rot): „Äh, nur aus rein literarischem Interesse.“
Lissi: „Wie fürchterlich, wie fürchterlich. Kommt jetzt jemand ins Gefängnis?“
Nikki: „Wie ist denn ihr Nickname?“
Patrizia: „…“
Nikki: „Komm schon, Schwester! Ich bin SUESS_VERSAUT.“
Jörge: „Echt? Ich hab immer gedacht, Du wärst noch Jungfrau, bei dem Aussehen.“
Johannes (haut Jörge deftig eins auf den Hinterkopf): „Bist fei ned so frech, Du Saupreiß!“
Nikki (tritt Johannes gegen das Schienbein): „Halt Dich da raus, Du Hinterwäldler!“
Patrizia: „SUPERNUTTE“
Lissi: „Ohgottohgott“
Johannes (heult auf): „Aua!“
Nikki: „Jungfrau? Und überhaupt: Was fürn Aussehen denn?“ (Tritt auch Jörge heftig gegen das Schienbein)
Jörge (heult auf): „Aua!“
Lissi: „Aua? Ohgottohgott!“
Nikki: „SUPERNUTTE? Literarisches Interesse, is schon klar…“
Patrizia (kleinlaut): „Aua…“
Jörge: „Wo ist der Doktor?“
Nikki: „Hat sich verpisst. SUPERNUTTE. Echt geil. Wie viele Kerle hast Du da schon klar gemacht?“
Patrizia (wird noch roter): „Also, ich darf mir wohl verbitten…“
Lissi (leise): „Oh jeh, oh jeh…“
Nikki: „Ich hatte dreizehn, bisher. Zwei waren nicht mal schlecht. Ach, der Preiß ist auch weg.“
Lissi: „Dann geh ich jetzt auch.“
Johannes (stöhnend): „Ich geh mit. Mein Schienbein.“
Nikki (sieht den anderen hinterher, wendet sich dann an Patrizia): „Und Du?“
Patrizia (heiser): „Siebzehn. Vier waren ganz okay. Aber eigentlich…“
Nikki: (grinst): „… bist Du wegen der Literatur hier, weiß scho.“
Patrizia (nickt und schmunzelt): „Wollen wir noch was trinken gehen?“
Nikki (nickt).
(Beide gehen ab).
*
Nach diesem Abend hat sich Schreibgruppe um Dr. Nolte nicht mehr getroffen. Ein Profil mit dem Namen THEHIDDEN wurde im Joyclub eiligst gelöscht, während SUPERNUTTE und SUESS_VERSAUT nun Freunde sind. Ach, es gab noch eine Neuanmeldung. Eine gewisse WILDE_LISSI aus Feldkirchen-Westerham begeistert die Gruppe „Kurzgeschichten“ in jüngster Zeit mit ihren Beiträgen. Da sag noch mal einer, Schreibkurse der VHS würden nichts bringen.