Seltene Begegnung
Der Himmel an diesem Frühwintertag war hell und klar, fast weiß, mit der leisen Andeutung von Lichtblau, ein frischgewaschenes Betttuch. Die Tiere hatten ihre Morgenmahlzeit gefressen und gingen ihren Vormittagsgeschäften nach. Die Katzen betrieben emsig ihre tägliche Fellpflege, die Bewohner des Putengeheges zupften die letzten Grashälmchen aus dem Boden, die beiden Hennen Weiße und Braune legten ihr tägliches Ei, während ihr Gefährte Hahn wichtigtuerisch den Fahrtweg auf und ab schritt. Sie waren die letzten Überlebenden einer einst vielköpfigen Hühnerschar, die von der Füchsin, die eine Höhle im Bahndamm bewohnte, an ihre stets hungrigen Welpen verfüttert worden war.
Perla und Romy, die beiden Mutterkühe, und ihre Kälber Putin und Lotta käuten ihr Frühstück wieder und hatten die großen Ohrmuscheln in Richtung Pferdekoppel gedreht, von wo sie ein Schieben und Scharren und den Klang von Metall auf Stein auffingen.
Auch die Pferde lauschten dem einzigen Ton, der in der sonntäglichen Stille zu hören war. Sie suchten auf ihren Futterplätzen die letzten Halme zusammen, während Jorind im Offenstall die Mistkarre belud.
Jetzt verstummte die Flachschippe, und die Frau erschien im Eingang. Bei der Arbeit war ihr warm geworden, sie zog ihren Parka aus und hängte ihn an einen Aststumpf des nächsten Hollerbusches. An die Mauersteine der Türöffnung gelehnt schaute sie sich um, sah die winterlich kahle Pappelallee entlang und genoss die Stille. Eine ganze Weile stand sie so und hing ihren Gedanken nach.
Eine leichte Bewegung auf der Erde ließ sie zu Boden blicken. Direkt neben ihren klobigen Stiefeln war ein winziger Vogel gelandet. Sie sah ein olivgrünes Federkleid, am Köpfchen einen intensiv orangegelben Streifen, der durch seine schwarze Umrandung noch an Leuchtkraft gewann.
Das wundersame Geschöpf war vom Schnabel bis zur Schwanzspitze nicht größer als ein Hühnerei! Vor Überraschung musste sie sich geregt haben, denn schon flog es auf, mit einem schwirrenden Flügelschlag und einem kaum hörbaren Flötenlaut war es aus dem Blickfeld verschwunden.
Jorind war bezaubert. Als sie wieder zuhause war, suchte sie aus den Bücherregalen alle Vogelbücher heraus, setzte sich mit dem Stapel in ihren Schmökersessel und versank in ornithologische Studien. Noch ganz im Bann dieser Begegnung nahm sie ihren Laptop auf den Schoß und fasste ihre Eindrücke zusammen.
Kleiner König (Regulus regulus)
Einmal nur sah ich dich
Für einen Augenblick
Neben dem Pferdestall
Dicht an meinem Stiefel.
Schnell wie ein Wimpernschlag
Schwirrtest du himmelwärts,
Hoch und fein die Stimme,
Zartester Flötenton.
Leuchtendgelb, orangerot,
schwarz umgrenzt das Krönchen,
Um dessentwillen du
"Kleiner König" genannt.
Gelbgrün das Gefieder,
Flügelbinde doppelt,
Passt du von Kopf bis Schwanz
Noch in ein Hühnerei!
Hoch in Nadelbäumen
Baust du dein Hängenest
Kugelförmig aus Moos,
Spinnweben und Federn.
Bleibst auch im Winter hier,
Während den Zwilling du,
Den sommerverwöhnten,
Mittelmeerwärts lässt ziehn.
Bliebst, scheuester Nachbar,
Eindrücklich mir im Sinn,
König der Winzlinge,
Wintergoldhähnchen.
Der Zauber dieser Begegnung hielt noch lange an. Jorind nahm ihr Fernglas auf die Ranch mit, schaute gebannt dem Treiben ihrer gefiederten Nachbarn zu, las in Bestimmungsbüchern nach, legte eine Liste der beobachteten Arten an. Es waren nicht allzu viele, die den Winter auf der Ranch verbrachten, aber immer noch weit mehr als sie mit Namen kannte.
(c) luccioladagosto