Rieslingsekt
Es ist nicht nur einer dieser deprimierenden, nieselregenverhangenen, nasskalten und trüben Tage im November, es ist ein Sonntagnachmittag. Es ist Totensonntag. Seit meiner frühesten Kindheit, im Grunde seit ich denken kann, verfolgt er mich, der Totensonntag. „Heute fahren wir auf die Gräber, Oma und Opa ehren und ihnen gedenken“, klingt auch dieses Jahr wieder die Stimme meines Vaters in mir nach. Obwohl ich inzwischen schon selbst die 50 Lenze überschritten habe, beschleicht mich das gleiche Gefühl wie damals. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und festem Schuhwerk gehe ich langsamen Schrittes über den Friedhof. Dieser Duft, denke ich, dieser Geruch. Genau wie früher, genau wie immer. Fast schemenhaft huschen in der Ferne andere Besucher über die Wege, kreuzen meinen festen Pfad, verschwinden hinter hohen Grabsteinen und klagenden Engelsfiguren.
Den Weg zu euch, Mama und Papa, die ihr hier seit nun schon 9 Jahren in Frieden ruht, kenne ich blind. Und so hebe ich kaum den Kopf, sondern beschreite ihn, hin zu unserem Familiengrab. Einem Ort, an dem auch ich meine letzte Ruhe finden werde, wenn es denn so weit ist.
Dieses Jahr jedoch hat sich etwas verändert in meiner Friedhofsroutine. Heute besuche ich noch ein weiteres Grab. Das von dir, mein Freund Alexander. Erstmalig an einem Totensonntag. Noch nicht sehr lange liegst du hier, seit vergangenem Juni erst. Du warst mein Freund. Einer meiner wenigen echten und guten Freunde. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, kurz nach Silvester vor drei Jahren. Dir vertraute ich, dir erzählte ich von meinen Sorgen, aber auch von meinen Plänen und du schenktest mir deine Unterstützung, halfst mir, meine Ideen zu verwirklichen, ebnetest mir den Weg, weil du damals noch einen verantwortungsvollen Posten beim Ordnungsamt bekleidetest und an mich glaubtest. Ich erhielt ohne Umstand die Konzession für mein Lokal in der Innenstadt, perfekte Lage mit Außenterrasse und Garten nach hinten raus. Mein Konzept eines „Bistrorants“ ging auf. Schon nach nur kurzer Anlaufzeit boomte das Geschäft. Eine neue Idee, eine Mischung aus Restaurant, Bistro, Tagescafé und nächtlicher Cocktailbar.
Was zuerst als Wochenend-Nebenjob für dich begann, als Aushilfe bei mir, Freitag- und Samstagabend, gefiel dir zunehmend besser. Cocktails mixen lernen, mit den Mädels flirten und mich zu unterstützen. Gemeinsam hinter der Theke sorgten wir für Furore. Ständig erfanden und entwickelten wir neue Drinks, waren kreativ. Jeder Drink ein Kunstwerk, ein Unikat. Gemeinsam gewannen wir Preise, Auszeichnungen, Mixwettbewerbe und wurden gelobt. Durch dich begann mein Stern zu strahlen und du warst mit dabei, warst mein bester Mann, mein erster Offizier. Ich dankte dir dies wo ich nur konnte. Lud dich und unsere Freundinnen ein zu einer gemeinsamen Reise an die Mosel, Sekt zu ordern, direkt vom Winzer. Oh, Alex, erinnerst du dich noch an das Wochenende? Wir vier angeschickert bis zum geht-nicht-mehr nach der Weinprobe in Traben-Trarbach und der Sektverkostung? Wie es zum ersten Mal zu einem schüchternen Partnertausch kam? Nichts Dolles, aber doch mit Knutschen und Fummeln. Petting. Ich muss heute noch lachen, welch herrlich aufregender Spaß. Und später dann unsere gemeinsame Urlaubsreise nach Ligurien, ebenfalls zu viert. Unsere Ferienwohnung in Cinque Terre, wie wir Rotwein und Mirto tranken, und wie Ute und Annabell uns Männer dann verführten, und wir es wirklich bunt durcheinander trieben. Was für zwei Wochen waren das nur. Wandern, essen, trinken, vögeln. Unendlich lustvoll, einzigartig aber leider auch. Ute verließ dich knapp ein halbes Jahr später. Heute wissen wir beide, dass dies der Auslöser war, der Ursprung deines steigenden Alkoholkonsums.
Schleichend geschah dies, ich merkte es zunächst nicht. Auch nicht, als du deinen Job bei der Behörde verlorst. Warum, wieso, weshalb verschwiegst du mir, obwohl wir doch so gut befreundet waren. Du arbeitetest drei Schichten fest die Woche bei mir. Ich vertraute dir so sehr, selbst die Kasse, die Abrechnung an. Doch alles erzähltest du mir nicht. Einige deiner Charakterzüge blieben mir fremd. Mit Kritik konntest du nur schlecht umgehen. Selbst mit ehrlicher und gut gemeinter Kritik nicht. Muss man sich gerade unter besten Freunden nicht auch alles sagen können? Ohne dass der andere sich beleidigt oder angegriffen fühlt? Alex, trink nicht so viel! Wie oft nur hatte ich dir dies damals schon gesagt. Auch dafür ist doch eine Freundschaft da, dass man offen etwas Problematisches besprechen kann. Doch du nahmst meine Worte nicht an. Hülltest dich in Schweigen, antwortetest mir nicht, sondern bliebst uneinsichtig, starrsinnig und kritikunfähig. Obwohl ich es als Freund so deutlich sah, und nicht müde wurde, dich darauf aufmerksam zu machen, prallten meine besorgten Worte von dir ab. Nach außen bliebst zu charmant, offen, zugänglich, hilfsbereit, ja auch wissend und großzügig. Manchmal hatte ich den Eindruck, du trägst spirituelle Züge in dir. Doch deinen inneren, stummen Widerspruch, den verstand ich nicht.
Du warst mein Freund und ich war deiner. So dachte ich jedenfalls. Doch wie es wirklich in dir aussah, was dich plagte oder bedrückte, das erfuhr ich nie. Jedenfalls nicht in Gänze. Stets nur Andeutungen und Rechtfertigungen. Manchmal verdrehtest du die Tatsachen. Einfach so. Ich hätte es damals schon wissen müssen, dass du eine Bürde mit dir schleppst, dass du mir nicht die Wahrheit erzählst. Ich bemerkte es erst, als Geld zu fehlen begann in der Kasse, auffallend runde Summen. Mal 50,-€, mal 80,- … dann wieder wochenlang alles korrekt, plötzlich aber wieder 50,- verschwunden. Doch wen sollte ich verdächtigen? Dich? 10 Leute arbeiteten bei mir. Junge Leute, die ihr Studium finanzierten. Treue, gute Leute. Loyal und ehrlich. Attraktive Mädels, schnell, und auch gute Jungs. Aufmerksam und korrekt. Prima ausgebildet von uns beiden. Und doch … es fehlte bares Geld.
Wie lange es so ging, vermochte ich nicht zu sagen. Nie erwischte ich dich. Doch ich war alarmiert, verglich die Bestände, machte monatliche Bilanz, und schließlich wurde dir der Riesling zum Verhängnis, ausgerechnet der. Der teure Sekt aus Traben-Trarbach, den wir nur flaschen- oder glasweise ausschenkten. Flaschengärung, Méthode champenoise, zu teuer im Einkauf, um ihn zum Mixen zu verwenden als Sling- oder Sektcocktail. 7 Gläser aus einer Flasche, so lautete die Kalkulation. Doch plötzlich stimmte die nicht mehr. Aus 10 gekauften Kisten à 6 Flaschen konnte ich nur 7 verkaufte errechnen. Drei Kisten? Das sind 18 Flaschen! Wo waren die geblieben?
Weißt du noch, wie ich dich am Neujahrstag besuchte? Wie es eine ganze Weile dauerte, bis du mir die Wohnungstür öffnetest? Wie die Vorhänge verschlossen waren, obwohl es helllichter Nachmittag war und die Sonne schien? Wie ich sie aufzog und dann auf dem Fenstersims 13 leere Flaschen meines Sekts entdeckte? Ja? Oh ja, das weißt du noch!
Es war weder Triumph noch Genugtuung, was mich in dem Moment erfüllte. Sondern Enttäuschung! Zutiefst, niemals zuvor erlebte Enttäuschung. Weit schlimmer als wenn meine Annabell mich betrogen hätte. Alex, für mich brach eine Welt zusammen. Dir hatte ich vertraut. Du warst mein Freund, mein Gefährte, mein Wegbegleiter, mein erster Offizier. Und du hintergingst mich? Bewusst und kalkuliert. Es ging mir nicht um den Wert, den Verlust des Geldes, sondern das Entsetzliche war die Enttäuschung.
Was hatte dich nur getrieben? War es der Neid auf meinen Erfolg? Denn Schulden hattest du keine, warst auch kein Zocker oder Spieler. Ich hätte dir den Sekt zum Einkaufspreis gegeben, das weißt du, Alex.
Und jetzt bist du tot. Liegst hier begraben, vor mir. Unsere Wege trennten sich. Ohne ein Wort zu sagen, bat ich um die Schlüssel, schweigend händigstete du sie mir aus. Du warst mein bester Mann, Alex, das warst du. Bis zu jenem Tag. Warst du dir deiner Schuld denn überhaupt bewusst? Oder fühltest du dich gar noch im Recht? Was nur ging in deinem Kopf vor? Wie konntest du nur so handeln? Weder fasste noch verstand ich es. Ich war erschüttert, wütend, betrogen. Du hast mich hintergangen, meine Gutgläubigkeit missbraucht und ausgenutzt, mich sehr verletzt. Ätzend, mein Lieber, ätzend! Noch heute spüre ich den Zorn und die Enttäuschung.
Gemeinsam standen wir hier zu deiner Beisetzung, deine Eltern, deine Schwester, ein paar Freunde und ich. Nach alter Kneipentradition warf ich dir einen Kronkorken deines Lieblingsbieres mit ins Grab, passend irgendwie, weil ich immer ehrlich zu dir war, obwohl du am Alkoholismus starbst. Leberzirrhose, Nierenversagen, es ging plötzlich schnell. Sehr schnell. Ich erfuhr erst Tage später durch einen gemeinsamen Freund von deinem Tod und wie es dir in den letzten Jahren ergangen war. Denn nach jenem Neujahrstag hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, du das „Bistrorant“ gemieden und wir uns aus dem Weg gegangen.
Nachdenklich blicke ich auf dein Grab, den Marmorstein. 46 Jahre bist du nur alt geworden. Mein Freund, es tut mir in der Seele weh. Hättest du nur mit mir gesprochen, dir meine ehrliche Kritik angehört und zu Herzen genommen. Dein Schweigen ließ mich dir nicht verzeihen. Ignoranz ist mir ein Gräuel. Das weißt du.
Der Nieselregen wird stärker, ein Rabe krächzt und erhebt sich flatternd von einer Birke in die Luft. Ich spanne nun doch den Schirm auf, nicke dir schweigend zu, dann drehe ich mich um und gehe den Weg zurück. Erdig und modrig riecht die Luft, verwelkt und nass das Laub. Totensonntag im November.
© Walhorn, Februar 2017