8 Worte, eine Geschichte ... mein erster Versuch
Tango in L.A.
Sie hätte heute morgen im Bett bleiben sollen. Manche Tage waren einfach nicht dazu gedacht, das Haus zu verlassen. Gestern Abend am Telefon dieser völlig unnötige Streit mit Paul. Warum nur ließ sie sich immer wieder von ihm provozieren? Er war so überflüssig wie Bräunungscreme im Solarium. Arrogant, phantasielos, ohne jedes Einfühlungsvermögen. Sie wusste das alles. Deswegen hatte sie sich von ihm getrennt. Aber die gemeinsamen Jahre konnten nicht ausradiert werden. Sie mussten miteinander reden, wegen der Kleinen. Sie war kaum fünf und sie verstand nicht, warum ihr Vater nicht mehr mit ihnen zusammen lebte.
Sie war seine Prinzessin: Eiskrem, Karussell und Barbiepuppen zum Geburtstag. Darum war es in diesem Streit gegangen: um den Kindergeburtstag. Sie wollte mit den Kindern in das Vogelschutzgebiet an den See. Es gab dort ein wundervolles, altersgerechtes Programm. Sie würden alle miteinander Spaß haben. Und Paul? Ohne Absprache buchte er dieses unerträgliche Event beim Fast-Food-Imbiß. Schlechtes Essen und billige Späße. Sie kochte. Und sie war sich nicht sicher, worüber sie mehr verärgert war: über Paul oder über ihren eigenen Ärger und ihre eigene Unfähigkeit, ihm souverän entgegen zu treten.
Nun also dieser grauenhafte Kompromiss: erst ins Naturschutzgebiet und dann Fast Food. Und sie könnte wieder sehen, wie sie das der Kleinen erklärt. Die würde ihren Vater anhimmeln ... Sie spürte die Eifersucht wie einen riesengroßen schwarzen Kloß, der in ihren Magen versenkt war. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein lautes Hupen schreckte sie hoch. Die Ampel war längst grün. Entnervt gab sie Gas. Mit quietschenden Reifen hielt sie schließlich vor der Praxis. Sie war zu spät. Die Kollegin hatte schon geöffnet, die ersten Patienten saßen im Wartezimmer. Das wäre ihr Job gewesen und dieses klimakteriumsgebeutelte Ungeheuer machte ihr auch unmissverständlich klar, dass sie die unzuverlässigste, grauenhafteste Unkollegin des Universums sei. Bohrender Kopfschmerz machte sich breit. Frau Meier bitte zur Urinprobe, Herr Müller bitte zum Stuhlabstrich. Keine Chance zu entkommen. Nach geschlagenen zwei Stunden schließlich entschwand die Kollegin in die Frühstückspause. Sie schlich an den Medikamentenschrank, sah sich scheu um, öffnete ihn und entnahm hastig ein paar Tabletten. Nur noch ein Schluck Wasser. Die Migränetabletten entschwanden in ihren Magen und sogleich spürte sie die Entspannung. Wohlige Wärme breitete sich aus. Heiter und gelassen rief sie den nächsten Patienten. Plauderte mit diesem und scherzte mit jener. In der Mittagspause warf sie nach, denn sie konnte das Herannahen des Schmerzes schon spüren.
Am Abend dann die Übergabe. Paul hatte die Kleine aus dem Kindergarten abgeholt. Sie waren im Kino gewesen und dann – wie könnte es anders sein – einen Hamburger essen. Freu Dich doch, du musst nicht mehr kochen. Zu Hause brachte sie die Kleine schleunigst ins Bett. Sie plapperte über den Film bis sie merkte, dass ihre Mutter ihr nicht zuhörte. Wuschel, das Stoffscha,f im Arm schlief sie schließlich ein. Die wiederum ließ sich ein Bad ein und mit dem Rotwein in selbigen nieder. Durch den Nebel aus Alkohol und Medikamenten drang ein vager Gedanke in ihr Hirn. Was wäre, wenn das alles nicht passiert wäre, was wäre, wenn sie zurück kehren und die Dinge ins Lot bringen könnte?
Damals vor sechs Jahren ... sie war gerade 20 und mit ihrer Ausbildung zur Arzthelferin fertig geworden. Zweitbeste im Landkreis. Und da stand er: 30 Jahre alt, mit diesem unverschämten bübischen Grinsen und der Kamera in der Hand. Er: Paul, Fotograf aus Leidenschaft und fotografierend für die Tageszeitung zum Broterwerb. Er trieb den ganzen Jahrgang zusammen, schob hier, drapierte dort und gab ihnen das Gefühl, unendlich wichtig zu sein. Später gestand er ihr, dass ihre langen titzianroten Haare es ihm angetan hatten. Er entführte sie in einen Rausch. Sicher, er war nicht ihr erster, aber die anderen waren Jungs gewesen, genau so aufgeregt wie sie selbst und irgendwie unbeholfen. Paul war anders. Paul war zärtlich, aufmerksam, charmant und er tat Dinge, die hätte sie nicht mal ihrer besten Freundin erzählen können. Und Marga erfuhr sonst alles. Das mit den Erdbeeren und den verbundenen Augen hatte sie ja schon einmal in einem Film gesehen, aber was er da neulich mit der Gurke ... die Erinnerung trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Der Job bei der Zeitung war nicht besonders lukrativ, aber das hatte er auch nicht nötig. Als er sie zu dem Trip nach Los Angeles einlud, schwebte sie auf Wolke Sieben.
Alles, aber einfach alles war traumhaft. Mit dem Taxi zum Flughafen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals Taxi gefahren zu sein. Die Drinks und das Essen. Über den Wolken ... und dann dieses wundervolle Hotel. Er nannte das Bett „king size“ und erst die Badewanne. Und natürlich der Champagner. Los Angeles war ein einziger Tanz gewesen. Und die Krönung: der Kurztrip nach Las Vegas. Die weiße Kapelle mit den vielen Blumen, der Priester. Okay: die Musik kam aus dem Player, aber: ihr Hochzeitstanz war ein Tango gewesen. Schon als Kind war sie vom Tango fasziniert.
Und dann die Hochzeitsnacht. Vor einer Woche waren sie und Marga shoppen gewesen. Wenn du schon nach L.A. Fliegst mit diesem Typen, dann brauchst du was hübsches. Zum Glück hatte ihre Großtante zur bestandenen Prüfung etwas Geld locker gemacht. Und das hatten sie auf den Kopf gehauen: halterlose Stümpfe, ein Traum von einer Korsage und Highheels. Marga hatte gezankt, dass sie sich das alles in weiß ausgesucht hatte. Aber jetzt war sie froh darüber, jetzt war sie die Braut und weiß war die angemessene Farbe.
Sie hatten wieder Champagner getrunken, er wurde wilder und die sündhaft teure Korsage hing in Fetzen um ihren Körper. Was sollte es? Es war ihre Hochzeitsnacht. Sie lachte und trank, sie trank und lachte. Seine Zunge zog erregende Bahnen über ihren Körper, seine Hände machten sie beben, seine Finger drangen in unentdeckte Regionen vor, sie verströmten sich beide. Er regte sich über den Strafzettel für den Leihwagen auf. Was sollte es? Es war ihre Hochzeitsnacht. Der Alkohol übertönte den dumpfen Schmerz, den er ihr bereitete, als sein Schwanz seinem Finger folgte. Sie keuchte und stöhnte.
Wann zum Teufel war sie falsch abgebogen? Alles war perfekt gewesen.
In Sachen Schneider gegen Schneider ergeht folgendes Urteil: das alleinige Sorgerecht wird Herrn Schneider übertragen. Frau Schneider, geborene Weber, erhält ein vierzehntägliches Besuchsrecht unter Beisein der Betreuerin des Jugendamtes. Das Gericht behält sich vor, diese Regelung unverzüglich zu ändern, falls die vorgenannte Frau Schneider, geborene Weber, nicht innerhalb von vier Wochen eine ambulante Suchttherapie beginnt und deren Fortschreiten dem Gericht nachweist.
Sie lag in ihrer leeren Wohnung in der Badewanne und öffnete die zweite Flasche Rotwein.