Die Vorführung
Sharon-Frucht
Tampon
Liebesperlen
Duftmarke
Abfallprodukt
besserwisserisch
siedendheiß
dickhäutig
Die Vorführung
Ein starkes Stück, oder Zeichensetzung mal anders
Vincent war vom seinem Freund Albert, dem Intendanten des örtlichen Kleintheaters eingeladen worden, der Auswahl seines neuen Ensembles beizuwohnen. Eine unschöne Maßnahme für die Stammbesetzung, doch Kürzungen im Budget erzwangen nun mal Einsparungen.
Lieber hätte er das Date mit seiner Freundin Sharon wahrgenommen, stattdessen saß Vincent nun alleine im abgedunkelten Zuschauerraum des Theaters und verfolgte, wie das gesamte Ensemble ins Licht der Bühne trat. Allen voran der Intendant, eingehüllt in einen kleinkarierten Lodenmantel und mit ernster Miene.
Den Blick auf die Akteure gerichtet begann er:
„Ihr seid eine wundervolle Truppe. Wir sind mit jeder Inszenierung gewachsen – ihr als Darsteller, die beiden Regisseure und ich durch und mit euch. Nur gemeinsam sind wir ein eingeschworenes, starkes Team! Nur wenn wir an Altbewährtem festhalten, bewahren wir die Harmonie, die uns zusammenschweißt!“
Er erntete zustimmendes Nicken und bestätigendes Murmeln der Umstehenden.
Albert ließ die salbenden Worte sacken und fuhr nach einer kleinen Kunstpause fort:
„Allerdings ist der Führungsriege zugetragen worden, dass es angeblich Unruhestifter unter den Darstellern geben soll. Ein paar in unseren Reihen scheinen den Umgang der Regie mit einem Brauch, den wir schon lange liebevoll und zu euren Gunsten pflegen, kritisch zu betrachten. Da ich Gemauschel hinter dem Rücken anderer nicht mag, möchte ich euch mit einbeziehen.“
Ein leises Raunen ging durch die Reihen. Fragende Blicke wurden gewechselt, Erstaunen und Empörung zeichnete ihre Gesichter. Miesepeter unter ihnen, gar Verräter des so heiligen Friedens?
Der Intendant nahm mit Genugtuung die Reaktionen wahr und lief langsam vor der Gruppe auf und ab, während er weiter sprach.
„Es geht um die Gutscheine für das angrenzende Künstler-Café, mit denen wir besonders gelungene Darstellungen belohnen. Da die Regisseure und ich in letzter Zeit auch Gutscheine für am Bühnenbild Beteiligte vergeben haben, regten einige sich auf und haben unsere Entscheidung dazu in Frage gestellt.
Es handelt sich zwar nur um eine verschwindend geringe Minderheit, doch ich betrachte es unbedingt als gruppenrelevant. Was sagt ihr dazu?“
Sofort erhoben sich die Stimmen der Versammelten.
„Oh nein, nicht abschaffen!“ „Wir wollen die Gutscheine behalten!“ „Wie wärs mit Coupons von verschiedenem Wert?“ „Oder unterschiedliche Gutscheine, von Douglas oder so?“
In die in Gang gekommene Diskussion warf eine Stimme aus der hinteren Reihe ein:
„Warum sollte das für die Gruppe wichtig sein, es hat sich doch nur eine Minderheit beschwert?!“
Genau das fragte Vincent sich auch, der interessiert das Geschehen verfolgte. Er registrierte außerdem, dass Albert – statt auf Vorschläge und Fragen einzugehen – sich unmerklich aus dem Geschehen zurückzog und nun wie ein Beobachter am Rand stand. Warum regte er eine Diskussion an, um dann nicht aktiv daran teilzunehmen?
Auch einige der Akteure hatten die Bühne bereits wieder verlassen – stillschweigend waren sie plötzlich verschwunden. Merkwürdig... was ging hier eigentlich vor sich?
Neue Ideen und mögliche Lösungen wurden eingeworfen, andere vertrauten voll und ganz der Entscheidung der Führung, sie würden es schon richten. Auch Fragen, warum sich jemand „beschwere“ tauchten auf, es sei doch alles gut wie es ist.
Der Austausch war in vollem Gange, als erneut ein Einwand aus der letzten Reihe kam.
„Geht es hier überhaupt um die Gutscheine oder darum, Kritiker bloßzustellen? Wir haben doch brauchbare Lösungsvorschläge – warum also nicht demokratisch abstimmen?
Mit finsterem Blick trat Albert wieder ins Rampenlicht zum Rest der Truppe und klatschte laut in die Hände.
„So, Ende der Diskussion! Ich habe euch nun eine Weile zugehört und habe dazu folgendes zu sagen.
Zunächst danke ich allen, die sich sachlich und freundlich eingebracht haben. Ihr seid super! Glücklicherweise waren die meisten Beiträge konstruktiv, was den guten Kern der Truppe herauskristallisiert und den Willen, eine gute Lösung zu finden.
Auf die streitlustigen, bedauerlichen Ausnahmen möchte ich hier nicht eingehen.“
‚Streitlustig, bedauerliche Ausnahmen’? Vincent glaubte nicht recht zu hören.
Erst pflanzte sein Freund allen den Bösewichttampon ein und ließ ihn mit dem Gutscheinaufguss quellen, nun stellte er kritische Fragen dazu als angriffslustig dar?! Auf die Vorschläge ging er gar nicht ein, sondern verteilte an die vermeintlich Guten pauschal verbale Tätscheleien und wälzte sie in Lobpanade?
In Vincent keimte ein leiser Verdacht... Gespannt lauschte er Albert, der seine Rede fortsetzte.
„Dieser Brauch wurde schon immer so gepflegt, die Regeln dazu wurden für gut befunden. Gute Ideen reichen mir persönlich nicht, um mich zu einem Überdenken oder gar einer Änderung zu bewegen, dazu braucht es überzeugende Argumente.
Bis wir eine endgültige Lösung haben, wird es von meiner Seite gar keine Gutscheine mehr geben, weder für die Darsteller noch für Andere.
Die Regisseure und ich werden demokratisch über eure Vorschläge abstimmen.
Damit ist das Thema erledigt und wir können uns in Ruhe und Frieden wieder unserer Arbeit widmen.“
Keiner der noch Anwesenden wagte zu widersprechen. Mit teils betretenen, teils gleichgültigen Gesichtern traten sie einer nach dem anderen ab, ein oder zwei wagten noch ein zaghaftes Lächeln als Zeichen ihrer Loyalität in Richtung des Intendanten, dann war die Gruppe verschwunden.
Albert kam gelassenen Schrittes durch die Reihen des Auditoriums und nahm selbstzufrieden neben Vincent Platz.
„Was schaust du so entgeistert, hattest du einen schlechten Tag?“ Lässig schlug er die Beine übereinander.
„Oder... meinst du dieses aufschlussreiche Szenario eben? In jeder Phase eine Charakter-Studie par excellence, findest du nicht? Ich gedenke es als Pflichtveranstaltung für Neu-Ankömmlinge einzuführen.“
Vincent starrte ihn fassungslos an.
„Ist das dein Ernst?! Das war eine absolute Einseifoper – du hast deine eigenen Leute vorgeführt! Provozierst mit einem nichtigen Grund eine Diskussion und sonnst dich in der blinden Zustimmung deiner treuen Gefolgschaft!
Und dieses abrupte Ende ist einfach nur jämmerlich.
Du hast sie einfach abgewürgt und alles bleibt offen. Die, die dir zum Mund reden, werden von Dir gebauchpinselt, und die anderen sind dir nur noch eine abfällige Erwähnung wert!“
Der Intendant lächelte gönnerhaft und verfiel in einen besserwisserischen Tonfall.
„Nicht doch, mein naiver Freund. Immerhin kann ich nun einige hier besser als bisher einschätzen und weiß, auf welcher Seite sie stehen.“
Noch bevor Vincent etwas erwidern konnte, hob Albert abwehrend die Hand und fuhr fort:
„Betrachte es als eine Art ‚gruppeninterne Auslese’.
Die kann ich verständlicherweise nicht selbst übernehmen, das könnte man falsch verstehen. Ich trage die Verantwortung für das Ganze, das Große. Die Harmonie der Gruppe kann nur im vorgegebenen Gleichschritt gewährleistet werden. Das verstehst du doch...?!“
Siedendheiß kochte die Wut in Vincent über, er musste sich beherrschen, nicht die Fassung zu verlieren.
„Aber sie sind auch Teil des Ganzen! Sie bauen auf dich und vertrauen dir, und du manipulierst die anderen gegen sie?! Wie kannst du... ich meine, macht es dir gar nichts aus, die Meinungsfreiheit mit Füßen zu treten? Unter dem Deckmantel der Demokratie die Andersdenkenden einfach als destruktive Querschläger abzustempeln?“
Albert nahm die Vorwürfe ungerührt hin.
„Mit der Zeit wird man dickhäutig in dieser Branche, das ist eben so.
Ich habe mich mit den beiden Regisseuren im Vorfeld eingehend besprochen, sie unterstützen meine Vorgehensweise. Es ist nun mal wichtig zu wissen, auf wen man sich verlassen kann.
Wir wissen, dass die Menschen bequem sind und gerne das Denken und Handeln anderen überlassen. Also übernehmen wir das.
Schon immer konnten wir fest mit ihrer Feigheit und dem unbeirrbaren Glauben an uns rechnen – schließlich bieten wir ihnen einen geeigneten Rahmen für ihr Geltungsbedürfnis. Glaub mir, Vincent, sie lassen sich gerne an die Hand nehmen und führen.
Eigentlich ist es eine simple Aufteilung: Wir, die Regisseure und ich, sind der Kopf und entscheiden, wie und wo es langgeht. Wer in seiner Denkweise zu kreativ aus der Reihe tanzt, ist lästig und tanzt eben allein.“
Als er den entsetzten Blick seines Freundes sah, zuckte er mit den Schultern und ergänzte:
„Wenn bei der Durchsetzung unserer Interessen ein paar auf der Strecke bleiben... nun ja, ein bisschen Schwund ist immer und dient der Stärkung des guten Kerns.“
Ungläubig musterte Vincent seinen vermeintlichen Freund. Wie konnte er sich nur so in ihm getäuscht haben?
Albert erhob sich und wandte sich im Gehen noch einmal um.
„Es ist wie eine Krankheit, Vincent. Einem Virus, der die Autorität untergräbt, muss man den Nährboden entziehen. Ignoranz ist dafür die schmerzloseste Methode.“
Sprachlos sah Vincent dem Intendanten nach, als dieser sich abwandte und langsam im Dunkel des Aufführungssaals verschwand.
Er hatte verstanden.
Einem Leuchtturm gleich hatte man hier ein Zeichen gesetzt: für das bequeme Händeln von Menschen wurden Kritik und freie Meinungsbildung eingestampft. Was für ein Armutszeugnis!
Er musste hier raus, sofort. Diese Welt der Kronenputzer hinter sich lassen, sich humaner Regungen rückversichern. Verständnis, Respekt, menschliche Wärme........ Sharon.
Sein geliebtes Sharon-Früchtchen, dem er für diese Schmierenkomödie das Date abgesagt hatte.
Ja, genau sie brauchte er jetzt. Ihre ehrliche, warme Haut an seiner, ihre tröstlich weichen Liebesperlen, zwischen denen er seinen Kopf vergraben konnte, vielleicht bei Wein und Kerzenschein... gleichgesinntes, seelenverwandtes Miteinander statt unfaires Gegeneinander.
Er erhob sich und schrieb ihr eine SMS, während er den Saal der Selbstdar- und Bloßstellung mit raschen Schritten verließ.
George Orwell hat es treffend formuliert:
„Freiheit ist das Recht, das zu sagen, was andere nicht gerne hören wollen…“
Erleichtert fühlte Vincent diese Freiheit in seinen Adern pulsieren, und die prompte, positive Antwort von Sharon ließ ihn dieses Theater mit all seinen Abfallprodukten menschlicher Eitelkeit schnell vergessen. Nicht mal eine Duftmarke würde diese „Vorführung“ in seinem Leben hinterlassen.
Es gab wichtigere Dinge, die seiner Aufmerksamkeit würdig waren.
Mit einer Erkenntnis schloss er das gerade Erlebte für sich gedanklich ab:
Ich habe hinter einer Fassade immer ein richtiges Gebäude vermutet, unter jedem Gebäude ein solides Fundament. Doch ich bin eines Besseren belehrt worden.
Es gibt auch Fassaden ganz ohne Gebäude und Fundament. Von außen beeindruckend, innen jedoch hohl und ohne jede brauchbare Substanz.