Lieber Chef, einst Freund und Kumpane ...
wie lange kennen wir uns schon? Knapp 20 Jahre, oder? Das ist eine sehr lange Zeit - in Menschenjahren gerechnet.
Denk mal drüber nach.
Als Du damals zu uns kamst, war ich Dir bereits 20 Jahre voraus. Ich war schon Inventar, hatte meinen festen Platz, war gut angesehen und bekam Respekt gezollt von allen Seiten.
Du warst nur ein kleiner Wurm. Hast Dich gut eingearbeitet in unsere damals noch kleine Truppe und wurdest gerne aufgenommen. Wir bildeten unseren engen Kern mit wenigen anderen und fühlten uns wohl. Wir waren eine glückliche Familie, eine kleine Insel im Unternehmen und hatten auch privaten Kontakt.
Der eine ging, Du wurdest Referatsleiter. Noch war unsere kleine Welt in Ordnung. Aber mit den Jahren verändertest Du Dich, wolltest nicht hinter Deinem Vorgänger zurückstehen und warst fleissig. Und warst immer mehr gestresst.
Irgendwann kam die Expansion. Wir wurden größer. Es gab Veränderungen in unserer Abteilung, im ganzen Unternehmen. Nun warst Du plötzlich Fachbereichsleiter. Mein Chef. Und wolltest noch fleissiger sein. Noch mehr beweisen, was Du kannst. Manchmal unerträglich. Bis zu Deinem kleinen Herzinfarkt. Was sich danach änderte? Du hörtest mit dem Rauchen auf und begannst, exzessiv Fahrrad zu fahren. Mehr nicht.
Dennoch gab es mehr gute, als schlechte Tage und wir waren weiterhin dicke Freunde und ein irre tolles Team. Ich liebte meine Leute und meinen Chef. Von anfangs sechs Mitarbeitern als Referat wuchsen wir als Fachbereich mit der Zeit auf über 30 Leute an. Und wir liebten uns alle und hielten dick zusammen. Wir waren immer menschlich geblieben, das war uns das Wichtigste. Mit den Servicestellen außer Haus sind wir inzwischen rund 200 Mitarbeiter in unserem Bereich.
Und Du wurdest immer mehr zu einem Mehari, einem schnellen Reit-Dromedar. Der Vorstand will, Du folgst in Windeseile. Und machst uns alle verrückt.
Dennoch war unsere Truppe für mich immer ein Kraftort. Sie trugen mich alle durch die schwere Zeit der Krankheit meiner Mutter, bis zu ihrem Tod. So wie wir alle jeden Einzelnen durch solch schwere Zeiten trugen und hielten. Einer für alle, alle für einen. Und Du hieltest immer zu mir. Ich konnte Dir blind vertrauen und immer auf Dich bauen. Wie auch Du auf mich. Wir hielten uneingeschränkt zusammen.
Denk mal drüber nach, Chef.
Eines Tages der Einschnitt. Deine Frau hat Dich verlassen. Die große Wende. Dein Lebensplan bricht von einem Tag auf den anderen zusammen. Du kamst vom Skifahren nach Hause und die Wohnung war ausgeräumt. Dass Dir jemals so etwas passiert, hättest Du nie erwartet. So etwas geschieht allen anderen, nur nicht Dir. Willkommen im Leben, mein Lieber.
Tja ... shit happens. Aber das wirst Du nie verstehen. In Deiner kleinen, aufgeräumten, geordneten und perfekt sortierten Gutbürger-Welt.
Du weintest Dich täglich aus an meiner Schulter. Und Dein Therapeut, ohne den Du es nicht geschafft hättest, richtete Dich wieder auf. Ich würde sogar sagen, er richtete Dich "über", nicht nur auf.
Dein Ziel, Dir schnell wieder "eine Frau zu nehmen", hast du erreicht. Nach einem kurzen Intermezzo mit einer Chinesin, das - wie wir es alle auch erwartet hatten - komplett in die Hose ging. Als Du mir damals ihr Bild zeigtest, rutsche mir raus: "Was will diese attraktive Frau von Dir?". Ja, nicht gerade nett, ich gestehe. Aber bereits damals war unsere Freundschaft leicht gestört. Du warst nicht mehr derselbe. Du warst nicht mehr dieser Satansbraten, für den Du Dich aber heute mehr denn je hältst. Aber nun gut, Du hast vor einem Jahr nun wohl Dein Glück gefunden, an dem wir alle teilhaben dürfen. Ob wir wollen oder nicht.
Du gehst mit Hüftschwung und pfeiffend durch die Gänge, bevor Du Dich an vielen Tagen freudestrahlend gegen 13 Uhr verabschiedest - natürlich nicht, ohne mir den Vormittag über Stress zu machen, damit Du gehen kannst - und mit gespitzten Lippen überaus schleimig grinsend meinst: "Ja, mein Nachmittag wird auf jeden Fall schön." Dabei wird mir inzwischen übel. Aber Du sagtest ja auch mal zu mir, ich könne das nicht verstehen, dass ihr jede Minute zusammen verbringt, da ich nicht eine solche Beziehung lebe, wie Du. Hey! Die hatte ich bereits. Mehrmals! Danke, Du Arsch.
Und nun?
Ihr Führungskräfte ... merkt Ihr eigentlich noch was? Ihr werdet so gezielt manipuliert von der Obrigkeit und macht das blind mit. Und drückt es ab auf Eure Mitarbeiter. Menschlichkeit? Ja, in der Theorie - die real nicht funktioniert, da falsch umgesetzt. Ihr bekommt Empathie-Seminare. Haha, wer ein leidenschaftlicher Egoist ist, kann Empathie nicht lernen. Aber klar, Ihr könnt das jetzt alle. Und Kommunikation wird ganz hoch gehalten. Nach Plan. Es gibt seitenweise Kommunikationsregeln und Gesprächsleitlinien, die Ihr Euch ausdruckt, um sie im Gespräch abzuhaken. Aber dass Euch die Mitarbeiter nur zustimmen, damit sie ihre Ruhe haben und wissen, es bringt eh nichts, wenn sie die Wahrheit sagen, merkt Ihr nicht. Ihr seid so blind. Ihr seid nur noch Windbeutel ohne Inhalt.
Und nun fällst Du mir nach all den Jahren in den Rücken. Spielst den großen Zampano, vergisst unsere Freundschaft und spielst Deine Macht als Chef aus. Du bist nur noch ein armer Wurm für mich. Nicht mehr und nicht weniger. Und das spürst Du und durch diese gefühlte Machtlosigkeit mir gegenüber wirst Du fies. Danke, dass Du mir Deinen wahren Charakter zeigst. Nach knapp 20 Jahren.
Ihr Chefs - und für mich natürlich vor allem Du - meint, Ihr müsst diese neuen jungen Dinger behüten und beschützen. Diese Sandrosen, die außen hübsch anzusehen, jedoch innerlich nichts als Sand sind. Die den Tag über herumlungern, mit ihren Handys beschäftigt sind und halt irgendwie ihre Arbeit tun. Die wir, in der Hierarchie über ihnen stehenden Kolleginnen, dann wieder bereinigen dürfen. Was Euch gar nicht auffällt. Aber es ist unsere Verantwortung, deshalb greifen wir ein. Unser guter Name steht auf dem Spiel. Aber auch das seht Ihr nicht. Auch nicht, dass wir Euren Bereich gut dastehen lassen.
Ich bin wie ein Fennek, nacht- und dämmerungsaktiv. Damit konntest Du noch nie etwas anfangen. Hältst mir ja auch immer vor, ich könnte ja auch um 6:30 Uhr anfangen zu arbeiten, dann könnte ich auch früher gehen. Leck mich! Lass mich leben, so wie ich leben möchte, verdammt nochmal. Akzeptiere endlich, dass es auch Menschen gibt, die anders sind als Du.
Aber wenn meine Kollegin jeden Mittag eine halbe Stunde schlafen muss an ihrem Schreibtisch, damit sie den Nachmittag übersteht, hast Du vollstes Verständnis und nimmst Rücksicht. Sie geht jeden Abend um 22 Uhr ins Bett. Mit 24. Ich arbeite durch, ohne Mittagspause.
Denk mal drüber nach, Chef.
Ihr Führungskräfte wisst es nicht mehr zu schätzen, dass wir Alteingesessenen noch Verantwortungsgefühl haben. Dass wir uns noch verbunden fühlen mit der Firma. Dass wir uns noch in der Familie integriert fühlen bzw. fühlten. Dass wir uns noch einbringen mit Herzensblut, damit alles läuft. Noch ... es wird täglich weniger. Alle Kolleginnen und Kollegen in meiner Altersgruppe und Betriebszugehörigkeit minus 10-15 Jahre bekommen dies immer mehr zu spüren. Ihr wisst es nicht mehr zu schätzen, was Ihr an uns habt. Was wird aus Euch ohne uns, habt Ihr darüber jemals nachgedacht? Oh wie oft habe ich abends zuhause noch gearbeitet, wenn etwas zur Sitzung fertig sein musste. Hast Du das vergessen?
Vor Kurzem sagte ich Dir noch, Ihr seid sowas von im Arsch, wenn ich nicht mehr da bin. Du hast mir zugestimmt.
Und nun bevorzugst Du - zumindest fühlt es sich für mich und andere so an - meine jüngere Kollegin, die seit vier Jahren dabei ist und nichts auf die Reihe kriegt. Deren Handy wichtiger ist als die Arbeit. Die verwöhnte Prinzessin, von zuhause aus. Die bereits nach drei Tagen gemeckert hatte, dass ihr mein Radiosender nicht gefällt. Die keine Kritik verträgt und keine Fehler eingestehen kann. Die lern-resistent ist und immer ihren Kopf durchsetzen muss. Deine Vatergefühle kommen durch und ... naja, sie hat große Titten, deshalb drückst Du Dich auch so gerne an sie, nicht wahr? Sie hat sich in unserer Servicestelle beworben, ich bin glücklich darüber. Ich hoffe, das klappt. Und Du? Du drückst mir ein Gespräch rein, dass ich mir Gedanken machen und reflektieren soll (danke Führungskräftetraining!), was falsch gelaufen ist. Weil es die erste Kollegin in 40 Jahren ist, die weg möchte von mir, weil es ihr bei uns nicht gefällt. Daran bin ich schuld? Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an. Aber nein, das soll ja keine Schuldzuweisung sein, ich soll nur mal reflektieren. Menen Einwand, dass es ja auch gerade, weil es das erste Mal passiert, daran liegen kann, dass sie halt einfach ein Fehlgriff war, lässt Du nicht gelten. Ich soll reflektieren. Und darüber nachdenken, was wir in Zukunft anders machen könnten. Weil eine von mehr als zehn nicht funktioniert, sollen wir alles ändern? Daran soll ich schuld sein? Aber nein, es sei ja keine Schuldzuweisung, ich soll nur reflektieren und darüber nachdenken. Hallo, Du sprichst hier mit keiner jungen Göre, ich habe es vier Jahre lang versucht.
Wann reflektierst Du Dich eigentlich? Wann überlegst Du Dir, was Du mir da gerade antust, nach vielen Jahren perfekter Zusammenarbeit, in denen Du mich immer so hoch gehalten hast? Du nimmst mir die letzten paar Jahre, Du machst mir meinen Wohlfühlort kaputt. Du zerstörst mein Engagement, mein Zugehörigkeitsgefühl, meine Verantwortung für meinen Job und meine Aufgaben. Du respektierst mich nicht mehr. Und das ist das Schlimmste. Ich verabschiede mich innerlich.
"Vielleicht in Zukunft getrennte Zimmer", meinst Du. "Nein, nach meiner Erfahrung - ich hatte beides im Wechsel in all den Jahren - ist das nicht förderlich für die Zusammenarbeit". "Denk darüber nach, unvoreingenommen", erwiderst Du. Ich sage, "muss ich nicht, ich habe die Erfahrungen gemacht, habe den Vergleich und weiß es."
"Du willst nicht darüber nachdenken. Denke mal unvoreingenommen darüber nach."
Nach einigem Hin und Her dieser Art und Deiner Aussage, "am Ende entscheide sowieso ich", gebe ich auf, bevor ich Dir ins Gesicht schlage oder die Tränen doch noch überhand nehmen und zum Vorschein kommen. Tränen vor Zorn und Enttäuschung. Alles, nur nicht weinen jetzt. Bleib stark. Ich bin enttäuscht, zutiefst verletzt. Das ist nicht mehr der Chef, über den ich jahrelang überall gesagt habe, ich hätte den besten Chef der Welt.
Denk mal drüber nach, Chef. Du hast meinen Respekt nicht mehr verdient, was mich sehr traurig macht.
Deine Kollegin und einst Freundin
Die Chefs von heute haben es verlernt und vergessen, mit Menschlichkeit, Intuition und Gefühlen umzugehen. Sie werden überhäuft mit neuen, innovativen Ideen, Kommunikationstechniken, Seminaren zum Mitarbeiterumgang, zur "Führung" der Belegschaft und und und. Sie werden mit Theorien überhäuft, die sie niemals wirklich real umsetzen können. Nur mit Fragebogen, die man gedanklich abhakt, kann es nicht funktionieren. Man muss seine Mitmenschen erfühlen.
Und tief in meinem Innersten wünsche ich ihm von ganzem Herzen eine riesengroße Fistel an den Arsch. Ach, was wäre das schön! Ich denke, das Universum wird mir diesen Wunsch verzeihen.