Der Ruf des Kriegers
Es war ganz komisch. Im Nachhinein betrachtet wird mir aber vieles klar. Das Leben ist profan geworden. Oberflächlich, um nicht zu sagen infantil. Wenn es nicht so belastend wäre, würde ich lachen.„Von tiefem Ernst erfüllt sein muss ein Jedi“
Meister Yoda. Aus einem Film. Alles ergibt jetzt einen Sinn. Ich verstehe es.
In Zeiten wie diesen, wo die Wichtigkeit und Wertigkeit eines jeden Tages bestimmt wird von Berichten über den Kursverlauf des DAX, wo der Lebensinhalt davon abhängt, dass ein Mobiltelefon 100% Batteriespannung hat und dass das wichtigste gesellschaftliche Ereignis das Dschungelcamp ist, verschwimmt der Blick auf die wichtigen Dinge. Verschwimmt der Blick auf sich, um sich und vor allen Dingen in sich. Wir werden abgelenkt. Und ge-lenkt. Und ge-linkt.
Es wird sich wieder ändern, bestimmt. Ich beginne gerade. Der Ursprung jedoch liegt weit entfernt. Und er ist symptomatisch. Geboren aus Not, geschmiedet in Schmerz. Die Schule. Es gibt dort diese und jene Lehrer, diese und jene Schüler. Die einen sind nett, die anderen sind einem egal. Und dann gibt es die Bösen. Die gibt es überall. Sie sind von Natur aus übel. Sie fordern, prügeln, sind gewalttätig, stehlen, erpressen und stören auf dem Pausenhof jeden, der in ihrer Nähe ist. Und wenn man aufbegehrt gegen sie, bezieht man Prügel. Heutzutage laufen die Kinder weinend und zeternd zu ihren Eltern und dann geschieht etwas ganz erstaunliches. Moderne Eltern stampfen auf jeden Fall erst einmal in die Schule und brechen einen Krieg vom Zaun. Das geht von der einfachen Drohung der Anzeige einer Aufsichtspflichtverletzung bis hin zum Entzug der Fördermittel oder gar einer Entlassung des Rektorates. Je nachdem, aus welcher Schicht das betreffende Elternteil ist, das dort gerade aufschlägt. Und genauso ernst wird das genommen von Seiten der Lehrerschaft. Sind die Eltern einfacher Struktur, wird der Vorfall scheinheilig ernstgenommen und ausgesessen. Kommt Frau Reich oder sogar Freu Neureich, gibt es eine kostenlose Betroffenheitsmiene inklusive Änderungsankündigung gratis, aber in beiden Fällen passiert nicht viel. Kommt jemand mit Einfluss wie zum Beispiel der Leiter des örtlichen Bauamtes, ein Studienrat, Polizist oder Arzt, dann wird es ernst. Dann muss man handeln. Das kommt aber nie vor, weil Kinder aus diesen Familien gehen nicht auf Schulen, in denen geprügelt wird. Diese Eltern recherchieren sehr sorgfältig, welche Schule das Privileg haben soll, sich ihrer Brut anzunehmen.
Nun, ich bezog Prügel. Niemand half mir. Die Arschlöcher waren übermächtig. Sich wehren half nicht, seine Ideale zu vertreten half nicht, Prinzipientreue wurde mit Fußtritten quittiert und alle anderen sahen zu. Betroffenheit und Angst heilen weder Wunden, noch stillen sie Blutungen. „Ach herrje“, „Wie siehst du denn aus?“ und „Junge!“ war eher als Vorwurf gemeint und nicht als Ausdruck des Mitleides. So lernte ich sehr früh, was Wut ist. Wut auf alle. Im Stich gelassen werden war quasi für mich erfunden worden. Der Zufall kam mir zuhilfe, denn da mich zuhause nicht viel hielt, war ich ständig unterwegs. Am örtlichen Krankenhaus war eine Sporthalle mit einem Aushang. Dort waren Bilder, an denen mein Blick festhielt. Fremdartige Schriftzeichen, so skurril und doch irgendwie vertraut. Ju Do. Seltsame Gefühle beschlichen mich. Eine Art „das kennst du doch“, gemischt mit der morbiden Faszination kanalisierter Gewalt. Ich meldete mich an. Gegen den Widerstand des Vaters, der mich im Fußball-Team sehen wollte. Und ich lernte. Meditation, Konzentration. Balance. Fallen. Rund werden. Ich lernte Wehrhaftigkeit als Automatismus. Jede Woche zwei bis vier Mal ging ich zum Training. Begriffe wie Hajime! Oder O Goshi, Tai Otoshi und Seoi Nage wurden ganz normale Begriffe und das Idiom fand (wieder?) Einzug in meinen Geist. Einher ging eine seltsame Änderung meines Blickwinkels auf Mädchen. Die, die beim Training blieben, waren anders als die kleinen Püppchen in ihren blauen Kleidchen auf dem Schulhof. Sie waren respaktable Menschen, denen ich auf Augenhöhe begegnete.
Auch auf dem Schulhof änderte sich etwas. Unbemerkt von mir machten die Bösen einen Bogen um mich. Aber ich sah das nicht, ich war einfach nur froh, nicht mehr belästigt oder verdroschen zu werden. Heute ist mir einiges klarer. Bushido. Der Weg des Kriegers. Es hat zunächst etwas mit Ausstrahlung zu tun. Durch das Training, die Kasteiung, die Qual und auch durch das Wissen und die Fertigkeit, die man erwirbt, formt sich der Geist und entwickelt eine Ausstrahlung. Manche finden es durchaus provokant oder arrogant, aber sie wird auf jeden Fall wahrgenommen. Und die Rüpel auf dem Schulhof sind nicht blöde. Sie sind feige und legen sich mit Schwächeren an, aber nie mit Stärkeren. Und ich wurde stärker mit jeder Stunde.
Dann kam eines Tages ein langer Schlaks mit Rauschebart an und erklärte uns, er würde eine neue Abteilung gründen wollen. Karate. Verbunden mit der Warnung, dass es hart werden würde und ohne lange nachzudenken, steckte ich mittendrin. Karate ist aber auch ein Angriffssport. Eine neue Qualität der Verteidigung und Dank des Trainers verbunden mit einer weiteren Festigung des Geistes und des Verständnisses. Ehre, Tapferkeit und Verantwortung müssen beim erlernen des Kriegshandwerkes Begleiter sein. Sonst stellt man Killer her. Es dauerte ein paar Jahre, dann waren mein Freund und ich dort selbst Trainer. Mittlerweile war ich in der Lehre, war durchtrainiert, unglaublich fit und ruhte in mir. Ich musste mich mit niemandem mehr anlegen. Ich wusste, dass ich stärker war. Schneller, effizienter, gefährlicher. Und diese Gefährlichkeit machte mich sensibel.
Dann kam der Tag des Rufes. Ein Flohmarkt. Zwischen Gerümpel, stinkenden Klamotten und Kartonweise zerfledderten Büchern schaute ein Griff aus dem Chaos. Ein seltsamer Griff aus geflochtener Baumwolle. Schwarz auf Weiß. Er schien nach mir zu rufen. Es war magisch, ich hatte nichts anderes mehr im Kopf. Meine Umwelt verschwamm und wie auf einem Floß wurde ich dort hingetragen. Ich nahm den Griff, zog daran und hielt ein krummes Schwert in der Hand. Und es war ganz warm. Es schmiegte sich in meine Hand wie eine Katze, die das Köpfchen an einem reibt, wenn man lange fort war. „Endlich!“ schien es zu sagen.
Beinahe andächtig zog ich es aus der Lederscheide. Auf der Klinge unterhalb des Handschutzes prangten japanische Schriftzeichen und ein gravierter Drache spie Feuer. Eine meisterhafte Arbeit. Und es war schon meins, schließlich hatte es mich gerufen. Es ging nur noch um den Preis. Feilschen war keine Option mehr, denn dazu muss man die Unwahrheit sagen oder zumindest die Wahrheit verzerren. Aber das verlernt man im Kampfsport. Ich zumindest. Der Deal war leicht. Ich gab dem vierschrötigen Mann, der leicht verwirrt schien, alles was ich hatte. Das waren damals, 1978, siebenundzwanzig Mark und fünfzig Pfennig. Und so sah man einen Neunzehnjährigen wie der Wind auf seinem Fahrrad nach Hause radeln mit einem Schwert in der Hand und einem Lächeln auf dem Gesicht.
Zuhause angekommen konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Doch was nützt ein Schwert, wenn man es nicht führen kann? So kam ich an Bücher. Hagakure, Der Weg der Krieger, Zen. Ich wechselte zum Buddhismus. Aikido wurde ein weiterer Weg und mein Schwert, das wird mir heute klar, ist der einzige Gegenstand, der über die Jahre immer bei mir geblieben ist. Autos, Fernseher, Ehen, Möbel und alltägliche Gegenstände, aus dem Jahr 78 ist nichts mehr da, außer meinem Schwert. Ist das nicht seltsam?
Vor ein paar Wochen kam ein Wandel. Unbemerkt und verstohlen. Das Wohnzimmer wurde entfernt. Nach und nach verschwand die Einrichtung. Eine Fototapete mit einem japanischen Motiv hielt Einzug. Mittlerweile habe ich eine ganze Sammlung von Schwertern, sie hingen auf einmal an der Wand. Tatami belegen den Boden, Gäste dürfen die Wohnung nur noch ohne Schuhe betreten. Letzte Woche kam Post aus Japan. Eine Reisstroh-Lampe. Was ist passiert? Bin ich verrückt? Nein, mir wird klar, dass ich einen Ruf verspüre. Es hätte schon vor vielen Jahren klar sein müssen, aber der moderne Mensch ist so abgelenkt, so beflissen auf der Jagd nach Geld und Werten die nie bleiben, dass man den eigentlichen Ruf nicht hört. Es ist wie mit den Sternen. Als ich klein war, konnte man Nachts Millionen Sterne sehen. Heute nicht mehr. Das Zauberwort heißt Lichtsmog. Und das, was uns Menschen daran hindert, auf uns selbst zu sehen, heißt Zivilisationssmog.
Jetzt wird der Ruf übermächtig. Ich bin ausgebildet, ja. An allem Möglichen, an Waffen, Gewehren, Nahkampf, ich habe gelernt im Feld zu überleben, ich bin ein Kämpfer geworden im Laufe der vielen Jahre, aber ich muss das wieder werden, was ich einst war. Die ursprüngliche Bedeutung war: Saburai. Diener, Beschützer. Ja, zum Beschützen bin ich berufen. Wen? Keine Ahnung. Aber wenn die Pflicht eine Berufung wird, wird die Aufgabe, der man sich zu stellen hat, existenziell. Es kommt etwas. Etwas Furchtbares. Es kommt direkt auf uns zu. Verhindern kann ich es nicht. Aber Beschützen steht vornan. Da muss ich tun. Ich muss dort hin. Ich muss … Samurai werden. Ich werde fort gehen. Und ich weiß nicht, ob ich zurück komme.
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