Ein funkelnder Stern
Am 1. Januar 2017, kurz nach Mitternacht, starb eine Frau, die ich lange betreute, und die mir sehr am Herzen lag. Vor zwei Jahren war sie schon einmal dem Tode sehr nahe. Zwei Tage zuvor war sie 90 Jahre alt geworden: Ein funkelnder Stern mit einem brillianten Geist, selbst in ihren letzten dementen Jahren. R.I.P. liebe M., ich werde dich nicht vergessen.Aus aktuellem Anlass jetzt eine überarbeitete Fassung des Textes.
Dunkle Augen, die mich nicht sehen.
Du bist weit weg, als ich an dein Bett trete und dich leise anspreche. Nur langsam holt dich der vertraute Klang meiner Stimme in die Gegenwart zurück.
Ich beobachte, wie deine Augen sich auf die richtige Schärfe einstellen und dann endlich siehst du mich an, mit brennendem Blick. Ich werde eingesogen und falle in einen tiefen Schacht: Der Tod sieht mich an durch deine Augen.
Gleichzeitig spüre ich in deinem Blick soviel Liebe und kompromisslose Präsenz, dass mir die Kehle eng wird.
"Du bist so schön", flüsterst du, wie so oft, und ich weiß, du willst mir damit sagen, dass du dich freust, mich zu sehen.
Worte sind nicht gleich Worte.
Oft sind sind es nur zerfledderte Silben, die deinen Mund verlassen. Dennoch hatten wir beide bisher selten ein Kommunikationsproblem.
Deine Augen haben mich immer gehalten. Dein Blick, einmal fokussiert, ist direkt, offen, neugierig - so unmittelbar, dass ich immer wieder aufs Neue fasziniert und berührt bin von dir. Dein Lächeln spiegelt meine Zuneigung und ich sehe in dein leuchtendes Gesicht, als ob ich es schon immer kennen würde.
An manchen Tagen scheint der Sturm in deinem Kopf besonders wild und alle Silben werden verweht und zersplittert, bevor du sie aussprechen kannst.
Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, fand ich heraus, dass Englisch in deinem Gehirn offensichtlich zuverlässiger abgespeichert wurde als deine Muttersprache.
Seither sprechen wir an den schlechten Tagen englisch und die Trefferquote an normaler Konversation hat sich rapide erhöht. Was hatten wir für völlig absurde Gespräche, getragen allein von der Energie zwischen uns. Wir haben herrlich wirr geredet und herzlich dazu gelacht. Wie schön es war, Zeuge dessen zu sein, wie dein Bewusstsein für dich selbst langsam zurückgekehrt ist.
An manches erinnerst du dich. Zum Beispiel daran, dass wir nur wenige Tage nacheinander Geburtstag haben, wenn auch fast 40 Jahre zwischen uns liegen. Meinen Namen hast du dir nie merken können. Doch was sind schon Namen!
Es gab Momente, in denen du wieder geahnt hast, wer du bist, und was dein Leben lebenswert macht. Immer frei heraus – an guten Tagen war deine Schlagfertigkeit unerreicht. Ich lauschte deiner Lebenslust, die zwischen deinen kreativen Wortneuschöpfungen aufblitzte.
In letzter Zeit fragtest du immer wieder nach deinem Mann, der schon fünfzehn Jahre tot ist. Manchmal sagtest du mir auch, er sei hier, neben dir, in deinem Zimmer.
Gerade habe ich dich eingecremt. Deine Haut ist dünn wie Pergament, dein Körper scheint sich von der Welt nach innen zurückzuziehen, verdichtet sich. Die Phasen des Wachseins werden weniger.
Und ich sehe dich an, wage kaum, meine Stimme zu erheben, weil ich spüre, du bist im Zwischenreich. Wie sehr es mich schmerzt, dich gehen zu sehen.
Bevor ich gehe, singe ich dir ein ein Gute-Nacht-Lied: "Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht..." Du stimmst mit ein, mit brüchiger Stimme füllst du die Melodie mit willkürlichen Silben.
Ob du morgen noch da sein wirst, wenn ich wiederkomme?
Die letzten Worte der Strophe flüstere ich dir leise ins Ohr:
„Morgen früh, so Gott will, wirst du wieder geweckt...“
Als ich sehr früh am nächsten Morgen zurückkomme, ist deine Seele zurück nachhause gereist. Ich trete vor die Tür ins Freie, lege den Kopf in den Nacken und halte Ausschau nach dir.
Dort oben am nächtlichen Himmel prangt jetzt ein neuer, funkelnder Stern.
(C) IntoTheWild 01/2017