Türchen 30
Im Dunkel der Raunacht
Ein wenig seltsam war es schon. Luke hielt krampfhaft seine Lider offen, doch es blieb bei dem wabernden Schwarz. Er war davon überzeugt, dass die sich ausbreitenden Schemen in seinem Sichtfeld nur irgendwelche Effekte in seinem Hirn waren, das verzweifelt versuchte, etwas zu erkennen. Die Dunkelheit schien zu leben.
Ein solches Dunkel hatte er noch nie erlebt. Ausgerechnet jetzt, hier, in seinem Weihnachtsurlaub sollte es das erste Mal sein. Luke seufzte und schlang die Arme und seinen mageren Leib. Noch vor wenigen Stunden war das schönste Wetter, dann eine sanfte Dämmerung und plötzlich – Nichts!
Er brach gegen Nachmittag auf, um diese unglaublichen Hügel der irischen Insel zu erkunden. Die kleine Ruine auf dem Hügel hatte er bereits von Weitem erkennen können und lief direkt auf sie zu. Sanft stieg der Hügel an und Luke staunte, wie sehr sich der Weg doch zog. Der Wind, der Atem des Himmels, hauchte die grauen Wolkenfetzen vor sich her. Sie eilten davon, ohne dass sie erkennbare Figuren hätten bilden können.
Luke blieb stehen, schloss seine Augen und breitete die Arme aus. Der Wind umwirbelte ihn und ergriff seine Kleidung. Der Stoff seiner Hose knatterte laut, als sich der Wind um seine Beine wand. Luke fühlte sich frei, so unglaublich frei. Er öffnete die Augen, atmete tief ein, stieß einen lauten Schrei aus und rannte mit noch immer ausgebreiteten Armen den Hügel hinauf. Fliegen, genau so musste sich das wohl anfühlen. Er hatte schon oft vom Fliegen geträumt und er wünschte sich nichts so sehr, als dass er jetzt, hier und in diesem Moment, den Boden hätte unter sich lassen können. Aufsteigen, vom Luftstrom getragen, in immer höhere Sphären steigen.
Keuchend beugte sich Luke vor und stützte die Hände auf seine Knie. Nur langsam erholte er sich von der Anstrengung. Sein Blick fiel auf die kleine Ruine, die nun, da er direkt vor ihr stand, doch um einiges größer war, als sie vom Tal aus wirkte. Er blickte zurück und erkannte schemenhaft das kleine Dörfchen, in dem er ein Zimmer bewohnte. Der kleine, grummelige Wirt, der ständig die schwieligen Hände an seiner Lederschürze abrieb, hatte ihm zugeraunt, er solle lieber nicht in den Raunächten alleine über die Hügel ziehen. Odin würde durch das Land und die Lüfte jagen, Unholde mit Teufelsfratzen würden jeden packen und mit sich nehmen. Niemals mehr würden die Opfer auftauchen.
Luke lächelte nur über diesen Aberglauben und hatte abgewunken. Beim Abschied allerdings bekam er doch eine Gänsehaut, als er den besorgten Blick des Wirtes sah.
Er schüttelte die Erinnerung ab und bewegte sich langsam auf die Ruine zu. Das graue Gemäuer war an einigen Stellen mit Moos bewachsen. Langsam zupfte Luke ein wenig davon ab und zerrieb es zwischen seinen Fingern. Er liebte den erdigen Geruch. Das war für ihn Natur. Reine, ursprüngliche Natur. Der Himmel zog sich nun doch in kleinen Spiralen zu. Luke wollte wieder zu Hause in seinem warmen Zimmer sein, bevor es dunkel wurde. So beschloss er, die Ruine schnell zu erkunden. Ein paar Windungen hier, Mauervorsprünge dort und plötzlich befand er sich vor einer Tür. Dieser Teil der Ruine trug sogar noch ein intaktes Dach.
Uralte Latten, notdürftig von schnörkeligen Scharnieren zusammengehalten, versperrten den Weg. Ein schwarzer Eisenring diente als Griff. Luke schob seine Hand in die Rundung des schweren Metalls und zog vorsichtig an dem Ring. Wider Erwarten öffnete sich die Tür fast lautlos.
Luke hielt den Atem an und spürte sein Herz pochen. Weshalb war er auf einmal so nervös? Mit zitternden Fingern strich er die Haare aus dem Gesicht und trat mutig in den Raum. Brüchiges Stroh bedeckte den gestampften Boden, die Wände waren dunkel und uneben, eine Kaminöffnung gähnte in der gegenüberliegenden Wand. Luke lehnte sachte die Tür an und achtete darauf, dass sie nicht zufallen konnte. Die Türöffnung war schließlich, soweit er erkennen konnte, die einzige Lichtquelle. Durch die Ritzen pfiff der Wind und trieb Spinnweben durch die trockene Luft. Alles war hier erstaunlich trocken. Luke blickte sich um und entdeckte an der Wand mit dem eingelassenen Kamin einen Vorsprung.
Seine Neugier trieb ihn vorwärts und nach wenigen Schritten stand er vor einer weiteren Tür. Diese Latten waren eindeutig in besserem Zustand und Luke war davon überzeugt, dass diese nicht so leicht zu öffnen war. Hier gab es keinen Ring, sondern nur ein Loch im Holz in der Größe eines Tennisballes, das wie ein offener Mund wirkte, erstarrt in einem ewig währenden Schrei.
Luke zögerte, doch dann schob er seine Hand durch das Holz und zog an der Tür. Sie gab leise knirschend nach. Das Holz schabte über den sandigen Boden und gab warmer, staubtrockener Luft den Weg nach draußen frei. Luke hustete, als er feinen Staub einatmete.
Der kleine Raum, der sich hier preisgab, enthielt außer einer kleinen Sitzbank nichts. Diese Bank erinnerte Luke an eine uralte Schulbank, wie man sie in einem Heimatmuseum finden würde. Das Holz war dunkel und an den Stellen, auf denen wohl unzählige Kinder einst saßen, wie glattpoliert.
Luke strich über die Bank, spürte die lebendige Wärme des Holzes und fühlte sich auf einmal zurückversetzt in eine längst vergangene Zeit. Da Luke nicht sehr groß war, passte sein schmaler Körper perfekt zwischen die kleine Bank und dem Schreibpult. Kaum hatte er Platz genommen hörte er, dass die Eingangstür zuschlug, nur wenige Sekunden danach knarrte die Tür dieser kleinen Kammer und schloss sich ebenfalls mit einem lauten Knall. Gefangen.
Luke sprang panisch auf. Es war stockdunkel und so stolperte er auf die Stelle zu, an der sich die Tür befinden musste. Er hämmerte erst gegen die Wand, dann endlich gegen das Holz und brüllte nach Hilfe. Doch er wusste, dass ihn niemand hier hören würde. Wie auch? Schweiß rann über seine Schläfen und er begann zu zittern. Wie sollte er hier je wieder herauskommen.
Er torkelte zurück zur Bank, tastete sich an dem Holz entlang und nahm langsam Platz. Nachdenken, Luke. Einfach nachdenken, mahnte er sich zur Ruhe. Es war so verdammt dunkel, nicht mal seine Hand vor Augen konnte er erkennen. Luke kicherte hysterisch über diese abgedroschene Beschreibung, doch passte sie perfekt. Er musste sich beruhigen. Er versuchte seinen Atem zu beruhigen, indem er die Luft tiefer in seinen Bauch leitete und es gelang ihm, ein wenig ruhiger zu werden. Unsicher tastete er wieder über das glatte Holz der Bank und stellte sich vor, wie es wohl damals, wann auch immer das gewesen sein mag, hier zugegangen sein muss. Eine Schulbank in einer dunklen Kammer? Oder war das eher eine Strafecke? Luke stöhnte auf und lehnte sich vor. Er legte den Kopf auf seine angewinkelten Arme auf dem Pult und schloss die Augen. Er wollte in eine Dunkelheit abtauchen, die er kannte. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern.
Luke musste eingeschlafen sein. Er zuckte zusammen und riss seine Lider auf.
Ja, das Dunkel lebte. Es waberte, davon war er jetzt überzeugt. Es war nicht nur sein Hirn, das ihm etwas vorgaukelte.
Hastig tastete er seine Hosentaschen ab. Warum war er nicht schon vorher darauf gekommen? Irgendwo hatte er bestimmt das Streichholzpäckchen aus der Wirtsstube. Der Wirt hatte ihm das zugesteckt mit dem Hinweis, dass in seinem Haus öfter der Strom ausfalle und Luke solle sich dann die Kerzen in seinem Zimmer damit anzünden. Luke erspürte das flache Papierpäckchen und zog es aus seiner Tasche. Gedankenverloren drehte er das kleine Päckchen zwischen seinen Fingern und hörte die kleinen Hölzchen darin fallen. Er wünschte, er hätte auf den Wirt gehört. Jetzt saß er hier und niemand wusste, wo er zu finden wäre.
Die Worte des Wirtes hatte er noch im Ohr, doch das mit Odin und den Hexen und Teufeln würde bestimmt nicht stimmen. Nicht im 21. Jahrhundert. Nein, das wurde garantiert nur den Touristen erzählt um ihnen ein wenig Gänsehaut zu bescheren. Was ja auch wirkte. Luke schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf und schob das kleine Päckchen auf, um ein Hölzchen zu entnehmen. Sachte tastete er sich an dem kleinen Holzstab entlang, bis er den ovalen Zündkopf erreichte. Er bemerkte, wie sich seine Sinne schärften, als er sich im Dunkeln auf seine Handlungen konzentrierte. Jetzt fühlte er die raue Stelle der Reibefläche auf der Packung, legte den Zündkopf an und zog es mit einem Ratsch über die Fläche. Nur einen kurzen Funken schenkte ihm das Hölzchen, dann erlosch es. Doch Luke erstarrte in der Bewegung. Noch immer hielt er das erloschene Streichholz zwischen seinen Fingern und spürte sein Herz gegen den Brustkorb hämmern. Was hatte er da eben gesehen, in den Millisekunden der Flamme?
Spielte ihm sein Hirn nun endgültig einen Streich? An der Wand lehnte eindeutig eine Gestalt, mit vor dem Körper verschränkten Armen und einem hämischen Grinsen im Gesicht. Was das echt? Oder drehte er nun völlig durch? Luke lauschte, ob er irgendetwas hören konnte. Doch außer seinem Keuchen und dem wilden Rauschen in seinen Ohren, konnte er nichts wahrnehmen. Luke spürte Panik über seine Wirbelsäule aufsteigen. Bebend ließ er das nutzlose Streichholz fallen. Sollte er ein neues Holz entzünden und nachsehen, was sich ihm gegenüber befand? Oder besser, was sich dort nicht befand, es war doch lächerlich. Luke versuchte, nicht durchzudrehen.
Sollte er nicht einfach aufstehen und sich an der Wand entlangtasten? Nein, bloß nicht! Er stellte sich vor, wie er langsam an der Wand entlangging und dann einen warmen Körper berührte…
Luke konnte bei dieser Vorstellung den Schrei der Panik nicht unterdrücken und erschrak über die Lautstärke. Erneut hielt er die Luft an und lauschte, ob sich das vermeintliche Wesen regte. Nein. Da war nichts. Luke atmete tief ein. Langsam aus. Wieder ein und aus. Er hatte das Gefühl in einer vollkommen surrealen Welt festzuhängen. Nichts mehr war wahr, nichts mehr wirklich.
Nur er, das Päckchen Streichhölzer und die Dunkelheit. Und das Wesen?
Luke musste es endlich wissen. Er wiederholte die Prozedur mit dem Streichholz. Doch diesmal bebten seine Finger eindeutig mehr, als er den Zündkopf auf die Reibefläche setzte. Luke schloss kurz die Augen. Auch wenn ihm bewusst war, dass dies absolut schwachsinnig war. Er atmete noch einmal tief ein und riss das Holz über die Packung. Diesmal glimmte die Flamme auf. Luke freute sich im ersten Moment so sehr darüber, dass er in die gelbe Flamme starrte und kurz vergaß, dass er vielleicht gar nicht alleine war. Er hob die Flamme ein wenig höher und begann zu keuchen.
Die riesige Gestalt bewegte sich lautlos auf ihn zu. Langsam schwebte ein Gesicht heran. Gelblich die Haut, aber vielleicht lag das auch nur an der Flamme. Die Augen glühten rot auf schwarzem Grund, die Nase bog sich fast bis zum Kinn. Spitze Ohren ragten an den Seiten des kahlen Schädels nach oben. Doch was Luke am meisten zu schaffen machte, waren die beiden langen Hörner, die aus dicken Wulsten der Stirn entwuchsen. Bewegungslos starrte Luke in die glühenden Augen. Er spürte nicht, dass die Flamme des Streichholzes fast seine Fingerkuppen erreicht hatte.
Kleine Funken stoben zwischen den Lippen des Wesens hervor, als diese sich öffneten und boshaft hervorstießen: Willkommen in den Raunächten!
Dann erlosch die Flamme.
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