Türchen 25
Nirgendsland (An Angel trapped in Hell)
Weißt Du denn nicht, dass einmal eine Mitternachtsstunde kommt, da ein jeder sich demaskieren muss? (Søren Aabye Kierkegaard)
Es gibt seit unendlich langer Zeit Geschichten über ein Land, das Nirgendsland genannt wird. Es ist klein, jedoch auch gleichzeitig unendlich groß. Es gibt dort keinen Anfang und auch kein Ende. Wandert man tagelang geradeaus, kommt man irgendwann wieder am Ausgangspunkt an. In keiner Karte ist es verzeichnet, niemand weiß, wie man dort hinkommt. Es tauchen immer wieder neue und uralte Geschichten auf über dieses Nirgendsland. Und jeder, der eine solche Geschichte hört, ist sich hinterher nicht mehr sicher, ob sie erfunden oder gar wahr ist.
Der eine spricht von einem dunklen, düsteren und bösen Land voller Dämonen, der andere wiederum von einem hellen, freundlichen und lichtdurchfluteten Land, in dem Engel leben würden. Nur in einem Punkt sind die Erzählungen alle gleich: Es gibt dort Wesen und Gestalten, die niemals je ein Mensch gesehen hat.
Bis heute ranken sich Mythen und Erzählungen um dieses seltsame Nirgendsland. Und niemand weiß, ob es - wenn überhaupt - heute noch existiert.
Bis zu jener dunklen Nacht des 21. Dezember 2016, der längsten Nacht des Jahres.
"Heute ist der 26. November?", ruft Laylah laut entsetzt aus, nachdem sie ihre Zeitung zum Frühstück aufgeschlagen hat. "Oh mein Gott, ist es schon wieder soweit?" Sie eilt zu ihrem Kalender mit den schönen Engelsbildern und schaut aufgeregt darauf. Tatsächlich, morgen ist der erste Advent. Es geht wieder los. Schon wieder. Aber vielleicht ist es ja in diesem Jahr ganz anders. Vielleicht geschieht nicht dasselbe, wie die letzten 10 Jahre. Vielleicht ...
Laylah wischt ihre Gedanken beiseite, so wie sie es immer getan hat, frühstückt eilig zu Ende und erledigt ihren üblichen Samstags-Hausputz. Eine Regelmäßigkeit, die sie jetzt braucht, um nicht an die Dinge zu denken, die vielleicht kommen mögen. Als sie damit fertig ist, setzt sie sich auf ihre Couch, fällt erschöpft auf die Seite und in tiefen Schlaf.
Als sie erwacht, ist es bereits Nacht. Kein Gedanke mehr an ihr Entsetzen über das Datum. Ihre Augen leuchten dunkel, geheimnisvoll, düster. Sie wirkt größer und härter. Als wäre sie nicht sie selbst. Ein anderes Wesen.
Heute Nacht ist es wieder soweit. Sie muss raus.
Der Dämon in ihr hat wieder Hunger. Er quängelt und schreit nach Nahrung. Nach Sättigung. Befriedigung. Nach Blut. Das Böse hat wieder die Macht übernommen.
Samstagnacht. Die Nacht zu Advent. Die Zeit, in der alle Dämonen erwachen und schreien. Ihr Dämon bekam jedes Mal seit zehn Jahren seine geforderte Nahrung. Und mit jedem Male verspürte auch sie ein wenig mehr dieser seltsamen Befriedigung dabei. Sie fühlt es, dass die Verschmelzung mit ihrem Dämon begonnen hat. Und sie muss sich eingestehen, dass ihr diese Art Macht von Mal zu Mal besser gefällt in diesen Nächten.
Laylah wählt ihre Kleidung für diesen Abend wie immer sorgfältig und durchdacht aus. Ein sehr enges und kurzes Lederkleid in schwarz. Der Ausschnitt ist tief und einladend. Gibt er doch Einblick auf ihre wohlgeformten Brüste, bei deren Anblick diese notgeilen Kerle schon zu sabbern anfangen. Dazu schwarze, halterlose Strümpfe und natürlich High Heels. Sehr high. Der Slip? Nicht vorhanden. Natürlich. Ihr glänzendes, schwarzes Haar, das ihr bis an die Hüften reicht, lässt sie offen. Das wirkt am besten, um die "Opfer" anzulocken.
Sie hat eine Handvoll ausgewählte Clubs, die sie jährlich im Wechsel für ihre "Ausflüge" auswählt. Heute ist das "Dancing Dark" an der Reihe, das ihren aktuellen Bedürfnissen voll und ganz entspricht. Auch die dunkle Gasse ist perfekt. Sie öffnet die Tür und betritt den Club durch die schweren, schwarzen Vorhänge und taucht ein in das Wabern der Bässe und den Rausch dieser Nacht.
Am nächsten Tag wacht Laylah am Nachmittag in ihrem Bett auf. Sie erinnert sich an nichts. Wie immer nach diesen Nächten. Sie ist blutverschmiert, übersäht mit Kratzwunden, ihr Kleid hängt zerrissen an ihrem Körper, wie auch die Strümpfe. Die neben verklebtem Blut auch Spermaspuren aufweisen. Von ihm. Dem Dunklen. Bösen. Woran sie sich jedoch nicht erinnert. Sie fühlt nur eine tiefe und nachhaltige Erregung in sich.
So vergehen alle vier Nächte zu den Adventssonntagen. Genau gleich. Seit zehn Jahren. Sie redet mit niemandem darüber, da sie nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Sie fürchtet sich davor, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen oder gar verhaftet zu werden. Denn jedes Mal sind dieselben Nachrichten am nächsten Tag in den Medien. Ein grausamer Mord an einem Mann ist kurz nach Mitternacht am Adventssonntag geschehen. Die Kehle durchgeschnitten, Kratzspuren und Bisswunden. Man geht von einem Serientäter aus, eindeutig ein Mann, da der Täter sehr kräftig sein muss. Weitere Anhaltspunkte gibt es nicht.
In der Nacht zum vierten Advent tagt der Hohe Rat in Nirgendsland. Die 24 Mitglieder des Rates sind in lange, weiße Roben mit Goldfäden durchwirkt gekleidet. Eine aufgeregte Diskussion erhitzt die ansonsten eher ruhigen Gemüter. Dort sitzen sehr alte Männer mit langen, weißen Bärten, allem Anschein nach menschlicher Natur, Engel, deren goldene Flügel sich ab und an aufgeregt in die Höhe strecken, Zwerge mit dickem Bauch und langem Bart, über deren Pfeiffengeruch sich die Engel beschweren (und die ein wenig lächerlich wirken in ihrem weißen Gewand), Elfen in ihrer erhabenen und stolzen Schönheit, und noch andere, für uns Menschen seltsame Wesen.
Der erhabenste Engel in dieser Runde, mit langem, goldenem Haar und kaum sichtbarem, weißen Schimmer über seiner schlanken Gestalt, erhebt sich und ergreift das Wort:
"Werte Mitglieder des Rates, ich bitte Euch, dies ist unsere letzte Chance, Lilith zu erlösen. Am 21. Dezember ist die längste Nacht des Jahres und es ist das zehnte Jahr ihrer Gefangenschaft in ihrer aktuellen Inkarnation. In jedem ihrer irdischen Leben hat er sie sich geholt und über sie bestimmt; ihre Seele ist nach wie vor in seiner Gefangenschaft. Und er zwingt sie nun zu Taten, die so grauenvoll sind, dass wir es nicht mehr gedulden können. Nach alter Überlieferung ist die Erlösung nur im zehnten Jahr möglich. Und nur in der Rauhnacht. In der Schwellenzeit, in der Dunkel und Licht, Altes und Neues, Vergänglichkeit und Ewigkeit ineinanderfließen. Wir müssen diese Chance nutzen oder Lilith ist für immer verloren. Die Folgen wären unbeschreiblich. Es wird ein harter Kampf werden, in der dunklen Nacht des 21. Dezember. Er wird seine Gefallenen in den Kampf schicken, wir unsere besten Kriegerengel." So wurde es beschlossen.
Mitternacht. Der 21. Dezember beginnt. Laylah ist bereits dabei, ihr grausames Wirken zu vollenden, sich ihrem Dämon hinzugeben und seine mordlüsternen Wünsche zu erfüllen. Ihr blutüberströmtes Opfer liegt tot vor ihr auf dem Boden in der dunklen, einsamen Gasse. Es ist außergewöhnlich, da es kein Adventssonntag ist, aber der Fürst der Dunkelheit weiß um die Pläne des Hohen Rates von Nirgendsland. In seinem Hochmut stellt er sich dieser Herausforderung, hat Laylah noch einmal losgeschickt, ihr dunkles Werk zu verrichten, und ist bereit für den Kampf. Siegessicher.
Laylah steht schwer atmend, blutverschmiert und erregt über ihrem Opfer und wartet auf ihren Fürsten, der nach der dämonischen Erfüllung seiner Wünsche immer erschien und sie hart nahm, um sich die letzte Befriedigung als Höhepunkt zu nehmen. Und um seine Macht über sie weiterhin zu manifestieren.
Aber er erscheint nicht.
Stattdessen tauchen plötzlich 20 Engel über der Gasse auf. Im Kreis schweben sie über Laylah und ihrem Opfer. Wunderschöne Lichtwesen, in weiß leuchtende Tuniken gekleidet. Ein jeder Engel hält ein langes, stählernes Schwert in der rechten Hand und trägt einen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen über der linken Schulter. Innerhalb weniger Sekunden erscheinen in gleicher Anzahl düster und geisterhaft aussehende Wesen in langen, schwarzen Umhängen über den Engeln. Deren Gesichter erinnern Laylah an das Gesicht aus dem berühmten Bild "Der Schrei". Über ihrem Kopf tragen sie eine schwarze Kapuze. Laylah ist verwirrt, was geht hier vor?
Dann geht es sehr schnell. Die dunklen Wesen inhalieren förmlich die Engel; sie haben keine Chance, sich mit ihren Schwertern zu verteidigen; sie werden überrollt von deren Macht und aufgesaugt in die dämonischen Gestalten. Ein paar Hiebe können sie landen, aber es reicht nicht. Ein Engel nach dem anderen verschwindet in den dunklen Wesen; es herrscht Chaos. Die wenigen, die noch das Schwert führen können, schlagen damit ins Leere, durch die dunklen Dämonen hindurch. Und werden auch aufgesaugt.
Die Schreie der Engel wecken Laylah aus ihrer dämonischen Gefangenschaft. Sie nimmt plötzlich wahr, was hier geschieht. Sie weiß, sie muss eingreifen, ihre Brüder retten. Sie greift sich ein Schwert, das zu Boden gefallen war. Sobald es in ihrer Hand liegt, beginnt es in hellem Gold zu leuchten. Eine unbändige Kraft und Macht durchströmt sie plötzlich. Sie spürt einen stechenden Schmerz im Rücken, Flügel wachsen aus ihren Schulterblättern. In strahlendem Weiß, mit schwarzen Federspitzen an den Rändern. Laylah denkt nicht lange nach, reagiert sofort, und fliegt auf die Schattenwesen zu. Sie stößt das Schwert in deren Herzen (sofern sie überhaupt eines besitzen), zerschneidet ihre Hülle, und stellt fest, es ist nicht nur deren Umhang, sie sind damit verwachsen. Sie reißt und zieht so lange an ihrer Hülle, bis sie dieses schwarze Dunkel aufreißen kann und die Engel befreit werden. Es ist ein Massaker. Sie wächst über sich hinaus, kämpft mit aller Energie, die sie besitzt. Die dunklen Wesen fallen eines nach dem anderen zu Boden und lösen sich in Nichts auf.
Alle dunklen Wesen sind vernichtet und verschwunden. Die Engel schweben auf Laylah zu, nehmen sie in ihre Mitte und halten sie. Sie fällt erschöpft in tiefen Schlaf, bevor sie überhaupt darüber nachdenken kann, was soeben geschehen ist.
Und diejenigen, die dafür geschaffen wurden, vernehmen einen tiefen langen Schrei. Er geht durch Mark und Bein. Der Schrei des Verlustes, der Schrei des Verlierers. Lucifer.
Als Laylah drei Tage später erwacht, sieht sie ein freundlich lächelndes Gesicht über sich. Ein Engel mit langen blonden Haaren beugt sich über sie.
"Hallo Lilith! Schön, dass Du zurück bist. Willkommen in Nirgendsland. Fröhliche Weihnachten!"
Laylah gilt in ihrer Heimatstadt seit dieser Nacht des 21. Dezember als verschollen. Die Kriminalpolizei vermutet, sie ist diesem Serientäter zum Opfer gefallen, der am 21. Dezember schon wieder gemordet hat. Man sucht noch nach ihrer Leiche. Eltern und andere Verwandtschaft können nicht ausfindig gemacht werden.
Lilith wird als die “Dunkle Seite des Mondes” bezeichnet. Angeblich war sie die erste Frau Adams und verließ ihn, weil sie sich ihm nicht beugen wollte. Sie erfuhr den heiligen Namen Gottes, der ihr große Macht verlieh und verlangte Flügel. Sie wurde in die Hölle verbannt, weil sie ihr Leben selbst bestimmen und ihre Lust leben wollte und weil sie den göttlichen Kräften trotzte. Sie gehört zu den vier Bräuten Satans.
Sie sei 5,8 Zoll groß mit sehr langem, geradem, braunem Haar (früher goldblond) bis zu den Hüften, wassergrünen Augen und prachtvoller Eigenschaften. Sie sei Samaels Schwester und von königlichem Rang. Laut jüdischer Legende erschuf Gott Adam und Lilith aus demselben Lehm, um Adam eine Partnerin zu schenken. Gott holte Lilith vor der ersten Nacht noch zu sich und sagte ihr, sie solle Adam untertan sein (einige deuten dies so, dass sie beim Geschlechtsakt unten zu liegen habe). Dies wurde von Lilith nicht akzeptiert, denn der Lehm, aus dem Lilith erschaffen worden war, war durch den Speichel des verstoßenen Samael verunreinigt worden. Lilith stritt sich mit Adam und verschwand dann aus dem Paradies in die Wüste. Dort verkehrte sie jeden Tag mit tausend Mischwesen und brachte tausend Kinder pro Tag auf die Welt. Adam beklagte sich bei Gott über seine Einsamkeit, welcher ihm dann Eva aus seiner Rippe erschuf.
Lilith aber blieb unsterblich, da sie nie die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis aß.