Türchen 23
Voll erwischt!
Für ihn war es das schönste Geschenk der Welt. Er freute sich zwölf Monate darauf, auch wenn es nur einmal im Jahr im Dunkel der Nacht geschah. Vor und nach seiner persönlichen Bescherung summte er Weihnachtslieder. Dies war zu einem Ritual für ihn geworden. Ohne Weihnachtslieder konnte er sich Weihnachten nicht vorstellen.
Als selbstständiger Tatortreiniger, dem seine Frau schon in jungen Jahren davon gelaufen war, weil sie mit seinem Beruf nicht klar kam, beschenkte er sich einmal im Jahr selbst. Seine Eltern waren schon früh verstorben und andere Anverwandte hatte er nicht. Auch keine Freunde. Aber er war gern allein.
Dieses Jahr hatte er es sich besonders redlich verdient, redete er sich ein. So viele Gräueltaten wie in den vergangenen 12 Monaten gab es noch nie. Er kam kaum hinterher, denn sein Wirkungskreis bezog sich über das Bundesland hinaus, wo er tätig war. Es gab nicht viele wie ihn, vor allem kaum einer, der sich vor keiner Arbeit und war sie auch noch so eklig, scheute. Die Tatorte waren immer schwieriger zu reinigen. Ging es früher noch mit biologisch leicht abbaubaren Reinigungsmitteln, musste er inzwischen mit der Chemiekeule hantieren. Kein Anstand diese Leute, mussten sie so morden, dass sämtliche Flüssigkeiten überall hin spritzten? Früher, als er mit dem Beruf anfing vor über 20 Jahren, brauchte er meist nur größere Blutlachen von Teppichböden oder Möbeln entfernen. Da gab es viel Geld für wenig Arbeit. Heute wurden die Taten immer perfider und wie so vieles in der Welt ging es wohl auch beim Morden um höher, weiter, schneller. Jedenfalls musste er jetzt wirklich in jeden Winkel kriechen, um die Spuren zu entfernen.
Da er sonst nichts zu erzählen hatte als über seinen Beruf, berichtete er seiner damaligen Frau alles haarklein, was wo wie er am Tage so reinigen musste. Dann vor etwa 10 Jahren als er spät abends nach Hause kam, war sie weg und mit ihr der gesamte Hausrat, nun ja fast, also alles was sie sich neu in den Jahren ihrer Ehe angeschafft hatten. Das Sparbuch war auch weg, zu dem der Schmuck seiner Mutter. Er hing nicht besonders dran, am Sparbuch schon, an dem hing er auch mehr als an seiner Frau. Er bekam es zurück, weil sie eh damit nichts anfangen konnte. Es war auf seinen Namen ausgestellt und mit einem Kennwort geschützt und als hätte er es damals geahnt, hatte er keine Vollmacht für sein Ehegesponst eintragen lassen.
Umso mehr freute er sich heute auf sein Geschenk, zumal er 10-jähriges heute hätte feiern können. Seit 10 Jahren war es nun seine ganz eigene Inszenierung. Von seinen Arbeitsanzügen, die er sich zwei Mal im Jahr neu kaufte, hatte er extra einen nur für Weihnachten zurückgelegt. Es hatte auch eine andere Farbe als die anderen. Die für täglich waren weiß, der für Weihnachten schwarz. Für sein Geschenk hatte er sich auch einen schönen, stabilen Werkzeugkoffer aus dunklem Kunststoff zugelegt. Das Werkzeug hat er mit Bedacht sowohl im Baumarkt als auch im Eisenwarenfachgeschäft gekauft. Massenware, aber von hoher Qualität. Die Planen, die er für die Ausführung benötigte, hatte er sich am Anfang gleich für die nächsten 30 Arbeitsjahre, die er noch arbeiten wollte, gekauft. Der Arbeitsanzug sah aus wie ein Ganzkörperkondom. An den Abschlüssen für Gesicht, Hände und Füße war er mit Gummiband, so dass er gut geschützt seinen Arbeiten nachgehen konnte. An den Füßen trug er halbe Regenstiefel und für die Hände schwarze Latexhandschuhe. Letztere zog er sich erst vor dem Geschenk an und auch Überzieher für seine Stiefel. Auch fotografierte er jedes Jahr sein Geschenk. So konnte er sich jedes Jahr über den Anblick erfreuen. Für diesen Anlass hatte er sich extra eine Polaroid gekauft, damit er gleich die Abzüge in sein Fotoalbum kleben konnte. Dieses steckte mit in seinem Koffer. Er blätterte gern vor der Bescherung noch einmal darin, einerseits um sich zu erfreuen, andererseits um keine Wiederholungen zu tätigen. Jedes Geschenk sollte einzigartig und vollkommen sein.
Er war auch kein schöner Mann, eher unauffällig, keine Frau verweilte länger auf seinem Gesicht. Er hatte eng beieinander stehende Augen mit einem stechenden Blick, buschige Augenbrauen, eine flache, etwas krumme Nase und schmale Lippen. Dazu hervorstehende Wangenknochen. Er war wortkarg gegenüber allen Leuten und seit seiner Scheidung lebte er eher wie ein Eremit, was ihn aber nicht unglücklich machte. Im Gegenteil, so konnte er sich über das Jahr in Ruhe überlegen, wie sein Geschenk an Weihnachten jeweils aussehen sollte.
Er schaute auf die Uhr nachdem er seinen Werkzeugkoffer in seinem Kleintransporter fest verzurrte. Im neuen Jahr muss er wohl mal neue Sicherungsgurte kaufen, diese waren schon recht verschlissen. Ok, heute halten sie bestimmt noch, dachte er so bei sich. Gleich 19.30 Uhr, gut der Verkehr legte sich langsam. Er sah kaum noch vorbeifahrende Autos, die Gehsteige wirkten wie hochgeklappt. Eine gute Zeit um loszufahren, dachte er und stimmte "Jingle Bells" an.
Etwa um die gleiche Zeit saß ein Mann in den besten Jahren allein vor seinem Schreibtisch und schaute sich alte Akten an. Genau genommen zehn Stück. Immer und immer wieder nahm er sich jedes Schriftstück genau vor und seufzte tief, wenn er es zurücklegte. Diese 10 Akten waren daran schuld, dass seine Welt aus den Fugen geriet sowohl privat als auch beruflich. Letzteres weil ihm seine eigene Karriere mit einem Streich egal wurde.
Was machte er eigentlich heute hier? Eigentlich sollte er bei seiner Tochter und seinen Enkelkindern sein und den Weihnachtsmann mimen. Doch er wusste die Drei in guten Händen, seit sein junger Kollege sich in seine alleinerziehende, verwitwete Tochter verliebt hatte und sie sich in ihn. Trotzdem hätten alle ihn gern zu Weihnachten bei sich gehabt. Seine Frau war vor 10 Jahren verstorben, zu einer neuen zog es ihn nicht hin. Sie war seine einzige große Liebe gewesen und die Umstände für ihren Tod fand sich in eine der Akten, die er sich wieder und wieder vornahm. Ok, noch die letzten Akten, dann wollte er sich auf den Weg zu seiner Familie machen.
Es verlangte ihn auch noch nach 10 Jahren viel ab, die Akte seiner verstorbenen Frau anzusehen und den Obduktionsbericht zu lesen. Wie all die anderen Opfer wurde ihr Tod inszeniert wie ein Bühnenstück. Bei näherer Betrachtungsweise war es ein Bühnenstück, nur das die 'Hauptdarstellerin' jedesmal eine weibliche Leiche war. Der Täter hinterließ nicht den Hauch einer Spur, obschon manches Opfer regelrecht hingemetzelt wurde. Kein Fußabdruck, kein Fingerabdruck, kein Fitzelchen irgendeiner Spur. Die Tatwerkzeuge mussten immer die selben sein, Massenware, aber von guter Qualität, wie sie zu Millionen in einschlägigen Baumärkten oder Eisenwarenfachgeschäften verkauft wurden. Auch die Inszenierungen konnte man nicht heranziehen. Es waren Stücke, die in den städtischen Theatern nicht aufgeführt wurden, jedenfalls nicht in seinem Bundesland bzw., die keiner kannte. So konnten er und seine Kollegen jedes Jahr nur darauf hoffen, dass bei der nächsten Leiche der Täter eines Tages einen Fehler machte oder sie ihn auf frischer Tat ertappten, aber das war so unwahrscheinlich, als wenn man die Queen von England auf den Mond ansiedeln würde. Jedes Jahr zu Weihnachten eine neue Leiche, jedes Jahr keinerlei Spuren, jedes Jahr der Häme der Journalisten ausgesetzt. Schön war es nicht, aber was ist am Morden auch wirklich schön?
Vor ihm lagen jetzt alle 10 Akten auf dem Konferenztisch ausgebreitet. Sie ähnelten sich die Taten, sie trugen eindeutig die gleiche Handschrift und doch war jede Tat einzigartig. Es muss doch rauszufinden sein, woher die Folie kam, auf der alle Leichen lagen, saßen und ja, sogar standen. Das war jedes Jahr eine Sackgasse. Von der Rolle, schon jahrelang in ein und dem selben Raum gelagert, keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren - nichts. Aber was auch erstaunlich war, kein Blut, keine Exkremente, keine Vergewaltigung vor oder nach der Tat. Triebgesteuerte Taten waren es nicht. Der Tatort war picobello sauber, so als wäre ein Putzkommando mit anwesend gewesen. Dabei hätte von den Tatumständen her schon das eine oder andere seine Spuren hinterlassen müssen. Ein Täter, der präzise wie ein Schweizer Uhrwerk tötete und inszenierte. Vielleicht schrieb er sogar die Stücke selbst, wer weiß?
Die Toten waren Zufallsopfer. Keine der Frauen kannten sich vorher. Die Leichen fanden sich auch jedesmal in einem anderen Stadtteil oder in angrenzenden Ortschaften. Das Einzige, was sie einten war, dass sie an Weihnachten allein zur allgemeinen Bescherungszeit noch auf der Straße unterwegs waren. Seine Frau war Krankenschwester gewesen und von der Schicht auf dem Weg nach Hause. Er hatte noch einen kleinen Weihnachtsumtrunk mit Kollegen, wie jedes Jahr. Die Jahre nach der Tat warf er sich genau das auch vor, wenn bloß dieser Umtrunk nicht gewesen wäre, wenn er sie abgeholt hätte, hätte, hätte...
Die anderen Opfer gingen den verschiedensten Berufen nach, die meisten kamen von irgendeiner Schicht. Sei es als Schaffnerin oder Tankwartin oder einfach nur von den Eltern zu sich in die Wohnung, auf den Weg zu Freunden. Alle Fragen in dieser Hinsicht, ob die Opfer sich irgendwoher gekannt haben könnten oder ob sie mit jemanden Streit hatten, verliefen im Sande. Keine heiße Spur.
Er schaute nach draußen, es hatte angefangen zu schneien. Na gut, das konnte ja wieder heiter werden. Erst hatte es am Tage geregnet, dann fiel das Barometer und es wurden die ersten Glatteisunfälle gemeldet. Jetzt auch noch Schnee. Wirklich Lust hatte er nicht in seinen kalten Audi der 3-er Serie einzusteigen. Gut, dass es in der Tiefgarage stand und er nicht noch Eis kratzen müsste. Er packte die Akten wieder sorgfältig zusammen, brachte sie wieder an ihren Platz und mochte gar nicht an den Weihnachtsmorgen oder -mittag denken, wenn die nächste Leiche dieser Art gemeldet werden würde.
Er schnappte sich die Weihnachtsgeschenke, die er in der Mittagspause schnell besorgt hatte, fuhr den Computer runter und machte das Licht aus. Im Flur zog er seine Magnetkarte durch die Stechuhr, 19.30 Uhr, ist doch wieder später als geplant geworden, dachte er, knöpfte sich seinen Parka im Fahrstuhl zu und fuhr bis zur Tiefgarage runter. Da stand er, der silbergraue A3 ganz allein in dem riesigen Parkhaus. Energisch strebte er auf sein Fahrzeug zu, stieg ein, ließ den Motor an, suchte was Weihnachtliches im Radio um in Stimmung zu kommen, um dann langsam sich der Auffahrrampe nach draußen zu nähern. Er zog seine Magnetkarte durch den Schrankensensor und konnte durchfahren. Einige Meter weiter sah er die Bescherung. Oh je, die Rampe war vereist, da musste er mit Schwung anfahren und konnte nur hoffen, dass draußen kein Fahrzeug an der Ausfahrt vorbei fuhr, denn von unten nach oben ging es recht steil zur Straße und man hatte nur einen schmalen Streifen bis direkt auf die Fahrbahn. Die Bau-Ingenieure, die sich das ausgedacht hatten, müsste man noch heute abwatschen dafür, dachte er so bei sich als er mit Schesslaweng und Jingle Bells auf den Lippen hurtig über die vereiste Rampe nach oben schoss und direkt in einem Kleintransporter zum Stehen kam, nachdem er diesen samt seinen erschrocken dreinblickenden Fahrer bis auf die andere Straßenseite an die Hausmauer katapultierte.
Seine Airbags funktionierten fantastisch registrierte er noch, dann wurde es kurz dunkel um ihn. Er erwachte von einem lauten Stöhnen und konnte sich das nicht erklären, bis ihm langsam dämmerte was passiert war. Er krabbelte mehr als das er stieg aus seinem arg verkürzten Audi heraus und musste feststellen, dass es den Kleintransporter wesentlich heftiger getroffen hatte als ihn. Der verletzte Fahrer konnte weder aus seiner noch aus der Beifahrertür raus, die Windschutzscheibe war ganz geblieben und da es eine dieser modernen Scheiben war, war sie zwar oberflächlich etwas gerissen, aber ansonsten hielt sie dem Aufprall stand. Nach hinten war der Transporter durch irgendwelche Aufbauten gesichert, so dass es auch von da kein Entrinnen für den armen Kerl gab. Er fingerte nach seinem Smartphone und wählte die Notrufnummer, dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.
Er erwachte einige Stunden später mit Halskrause und Infusion in der Armbeuge im Krankenhaus und schaute in lachende und jubelnde Gesichter. Auch Reporter versuchten sich noch in die Notaufnahme zu drängen. Von überall bekam er Glückwünsche, man schlug ihm anerkennend auf die Schulter. Alle Augenblick wurden neue Blumen gebracht. Sein Schwiegersohn in spé versuchte vergeblich die Meute aus dem Zimmer zu drängen. Er verstand sowieso nicht, was dieser ganze Aufstand um seine Person zu bedeuten hatte. Irgendwer organisierte ein Radio und dort lief es schon seit zwei Stunden über alle lokalen Stationen, dass bei dem Unfallopfer vor dem Landeskriminalamt ein Fotoalbum mit eindeutigen Inszenarien sicher gestellt werden konnte, als man versuchte den Fahrer des Kleintransporters von hinten zu bergen, dabei riss der Sicherheitsgurt des Werkzeugkoffers und der Inhalt fiel den Rettungskräften in den Schoss. Bei den Aufnahmen erkannte einer der Sanitäter die Ehefrau des Unfallverursachers... Die Zeitungen titelten in der Nachtausgabe:
Voll erwischt! Kommissar Zufall stellte den Serienmörder!
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