Türchen 19
Schlafes Bruder
Walter saß wie jeden Abend an seinem Laptop und las in irgendeinem Sexforum. Eva wusste das. Es störte sie schon lange nicht mehr. Sie lag dann auf dem Jaffasofa mit ihrer dunkelbraunen Polyesterdecke und zappte die TV-Sender rauf und runter. Alle drei. „Nix dabei“, murmelte sie verstohlen vor sich hin und schob ihre dünnen, fettigen Haare mit den Fingern hinters Ohr. Sie räkelte sich. Dabei rutschte ihr Sweat Shirt über ihren Schwabbelbauch. Walter sagte immer: “Meine kleine Speckschwarte.“ Und dabei schaute er sie nicht gerade liebevoll an. Er schaute sowieso lieber in seine Bückware oder in seine Schwedenfilme.
Eva fühlte sich nicht geliebt. Irgendwie hatten sie eine Art Bratkartoffelverhältnis. Hätte sie die Schule nicht mit 14 Jahren ohne Abschluss abgebrochen, würde sie sich eher als Hetäre bezeichnen wollen. Irgendwann hatte sie mal aus Versehen „arte“ im Fernsehen angeklickt. Da ging es um Huren, nur deshalb hatte sie nicht gleich weitergezappt. Seitdem schmückte sie ihren faltenreichen Hals mit Plastikgoldkettchen. War wohl so Mode damals. Das zumindest meinte sie, verstanden zu haben. Walter interessierte auch das nicht.
Langsam dämmerte sie vor sich hin. Ihr Blick fiel auf den von ihr geschmückten Tannenbaum. Plastik vom HO, 55cm inkusive Schmuck für 13,99 Westmark. Die Lichterkette glühte sich jedes Jahr einen Ast ab, Geschenke lagen aber nie darunter.
Traum und Wirklichkeit schienen eine Einheit zu werden. Sie schlief ein.
„Walter“, rief Eva. „Waaaalter!“
Plötzlich sah sie sich im dichten Wald. Das Dunkel der Nacht brach wie ein samtener Teppich über sie herein. Angst kroch über ihre dicken Oberschenkel und erreichte ihr Herz, so dass sie verzweifelt nach Luft schnappen musste. Verzweifelt versuchte sie, sich zwischen den Bäumen zu verstecken. Aber sie war einfach zu fett, so dass die filigranen Birken ihr keinen Schutz bieten konnten. Sapperlot, wo sind die Eichen, wenn man sie braucht. Sie duckte sich.
Das Bild war weg. Ein Neues erschien. Jetzt erreichte auch ihr Bewusstsein, dass die Angst begründet war. Walter hatte das große Sa“toku-Messer aus der Küche geholt. Er würde ihr Gewalt antun? Nebelschwaden zogen aus dem feuchten Gras hervor.
„Evaaaa“ säuselte er. Walter nannte sie nur so, wenn er Sex mit ihr haben wollte.
Ihr Bewusstsein öffnete sich etwas. „Eeeevvvvvchen, du weißt doch, wer ich bin. Verbrechen geschehen. Sie gehören zum Leben. Also sieh hin.“
„SIEH HIN!“
Sie fühlte das Messer an ihrer Halsschlagader. Eva bekam kaum noch Luft. Sie war durch das Messer und seine Worte gefesselt. „Verbrecher, psychisch Kranker“ dachte sie noch, kurz bevor sie zu sterben schien. Sie war gelähmt, konnte nicht flüchten.
Schlafes Bruder, so also fühlst du dich an.
Der Mond wurde heller, helle tanzende Wesen erschienen, säuselten irgendeinen knabenchorähnlichen Gesang.
“Suuummmmm, er darf dich ermorden. Summmmmmmm, jeder hier weiß Bescheid. Psssst, nicht schreien, du wirst nur ein wenig sterben. Eeeeeeeeevaaaaaaaa, Eeeeevachen!“, säuselte er in ihr Ohr.
Walter schüttelte sie heftig. In seinen Augen sah sie Mordlust. War das real?
Das Bild wechselte. Sie stand auf einer menschenleeren Kreuzung. Es war dunkel, der Neumond gab kaum genug Licht, um zwei Meter weit blicken zu können.
Walter hatte einmal erzählt, dass Seelen in Sexforen verkauft würden. An Kreuzungen, wo Ziegen ihr zu Hause hatten, wo Schafgarbe wächst und Deals mit Dämonen geschlossen werden. Oder war das auch nur im Traum? Sie hörte lautes Gemecker. War sie in seinem Forum? Eine Rennpappe kam auf sie zu. Am Steuer ein Tamagotchi, neben ihm ein Ziegenbock mit geschwollenen Brüsten. „Ein seltsames Tier“, dachte sie noch. „Willst Du mit? Wir fahren auf den Friedhof der Kuscheltiere.“ Das Tamagotchi schaute mich fies an.
„E V A!!!!!“
Sie schreckte hoch und blickte entgeistert in Walters Gesicht. Sie suchte das Messer.
Walter schüttelte den Kopf. Er ging wieder zu seinem Laptop und trank seinen inzwischen kalt gewordenen Muckefuck. Schaute weiter auf seine Schwedenmädchen, die sich auf seinem Monitor auf ihrer Quitschpappe nackig räkelten und dabei ihre großen Brüste hin und herschaukelten.
Eva ging in die Dusche. Es wurde Zeit, sich den Kopf zu waschen.
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