Türchen 16
Ein Licht im Dunkel der Nacht
1
Was für eine Nacht! Es donnert, regnet und stürmt: die Welt geht unter. Vereinzelte Blitze unterstreichen das dramatische Schauspiel, während der Regen unbarmherzig auf uns einpeitscht. In der Ferne kann ich die Silhouetten zweier Türme erahnen, die fast gänzlich mit der Schwärze dieser Nacht verschmelzen. Geräuschvoll entlädt sich ein weiterer Funkenregen, der die Umrisse einer Burg vor uns enthüllt.
Du rückst näher zu mir, legst den Arm um meine Schultern, bist mein Fels in der Brandung. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, wo wir uns befinden, weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind, wie Hänsel und Gretel, verloren im finsteren Wald. Fast muss ich lächeln über diesen Gedanken, doch meine eingefrorenen Gesichtszüge gehorchen mir kaum noch. Der Wind zerrt an meinen durchnässten Kleidern. Wir können den Weg vor uns nur erahnen, waten durch Schlamm, stolpern im Dunkeln über Steine. Die beiden Türme sind unsere Anker, wir arbeiten uns langsam weiter vor, halten auf sie zu.
Doch da: ein Licht! Warm und golden flammt es auf, lädt uns ein, näher zu kommen. Es gibt also Leben in dieser Trostlosigkeit, dort vorn, schon in Sichtweite. Ein unkontrollierbares Zittern erfasst meinen Körper: Die Burg ist unsere Rettung! Erleichtert wende ich mich zu dir um, doch du bist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Panisch drehe ich mich nach allen Seiten, gehe den Weg zurück, rufe nach dir. Der Regen nimmt mir die Sicht, das Heulen des Windes übertönt mein Schreien. Ich bin allein in der Finsternis.
2
Verwirrt öffne ich die Augen. Es ist dunkel, Regen prasselt gleichmäßig an die Scheibe des Schlafzimmerfensters. Die Leuchtziffern des Weckers zeigen vier Uhr zwanzig. Mich fröstelt, obwohl ich voll bekleidet auf dem Bett liege. Ich muss auf der Stelle eingeschlafen sein. Im Halbdunkel tasten meine Hände nach dir, doch der Platz neben mir ist leer, die Laken sind kühl und unbenutzt. Du bist nicht hier. Natürlich nicht.
Vor zwei Tagen konntest du kaum noch die Augen offen halten. Im Hintergrund das monotone Piepen und Zischen der Maschinen. Ich schaltete das grelle Deckenlicht aus, die bunten Weihnachtslichter am Fenster erfüllten den sterilen Raum mit warmen, gedämpften Licht. Zog leise meine Jacke aus und streckte mich vorsichtig neben dir aus. Du wirktest so klein und zerbrechlich, als würde sich dein Körper mehr und mehr von der Welt nach innen zurückziehen. Deine Hand in meiner fühlte sich sehr kalt an. Die Krankheit hat ihre Spuren in dein ausgezehrtes Gesicht gegraben, ließ deine Augen tief in ihre Höhlen sinken, hat deine Wangenknochen scharf konturiert. Wie schön du bist, immer noch.
In diesem Moment spürte ich die Erschöpfung der letzten Wochen: die langen, düsteren Tage im Krankenhaus, die unzähligen, durchwachten Nächte. Kurze Zeiten außerhalb der Klinik, die ich nutzte, um Besorgungen zu machen und einige unvermeidliche Telefonate zu führen. Immer in Eile, angetrieben von der Angst, du könntest dich leise aus dem Leben stehlen, bevor ich wieder zu dir zurück komme. Doch du hast auf mich gewartet, auch wenn es dich jeden Tag mehr Kraft kostete. Eine heftige Welle der Müdigkeit überkommt mich, während ich neben dir auf dem schmalen Bett liege. Meine Gedanken schweifen zurück, weit zurück zu dem Abend, als wir uns das erste Mal trafen.
Hätte mir damals jemand prophezeit, dass ich mich Hals über Kopf und für immer und ewig in dich verlieben würde, hätte ich sicher protestiert – und schallend gelacht. Und doch kam es genau so. Ich konnte weder meine Augen, noch meine Hände von dir lassen. Die Begegnung mit dir hat alles auf den Kopf gestellt, was ich über mich und mein Leben zu wissen glaubte. Du hast all meine Pläne durchkreuzt, die sorgfältig konstruierten Gedankengebäude um Liebe und Moral zum Einsturz gebracht. Du hast mich komplett aus meiner Umlaufbahn geworfen. Ich fiel dir genau in die Arme, Liebster.
3
Es war an einem Spätsommerabend in den späten Neunzigern, auf der Party eines guten Freundes. Fast wäre ich nicht gekommen. Meine Scheidung lag gerade hinter mir, eine zerfleischende Odysee, in der ich nicht nur mit meinen eigenen seelischen Abgründen konfrontiert worden war. Leer und ausgebrannt, wie ich war, hatte ich keine Wünsche und Hoffnungen mehr. Schließlich ließ ich mich von besorgten, wohlmeinenden Freunden dazu überreden, doch endlich wieder am Leben teilzunehmen und auf die Party zu kommen. Und dazu ausgerechnet auf eine Kostümparty!
Ich fügte mich also in mein Schicksal, zog mir meinen einzigen, mehr schlecht als recht sitzenden Anzug an und setzte die noch eilig besorgte Nerdbrille auf.
Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie ich mich fühlte, als ich dort ankam. Das Haus meines Freundes war hell erleuchtet, die Musik war schon von weitem zu hören. Meine Freunde begrüßten mich herzlich und zogen mich in ihre Arme. Wellen von Musikfetzen, Gelächter und Stimmengewirr drangen auf mich ein, spülten mich mitten in das bunte Treiben. Überwältigt blieb ich stehen, hielt mein Glas fest umklammert. Die letzten Wochen hatte ich fast wie ein Mönch in seiner Zelle zugebracht. Ein falsches Wort hätte mich wahrscheinlich sofort in die Flucht geschlagen. Und dann sah ich dich oben an der Treppe stehen.
Unsere Augen trafen sich, klinkten sich ineinander. Dein ernster Blick unter den schweren, sorgfältig geschminkten Lidern brannte sich in meine Seele. Ein Lächeln umspielte deinen blutroten Mund. Dann warfst du den Kopf in den Nacken, dass die schwarzen Locken nur so flogen. Die langen Beine in schwarze Halterlose gehüllt, nahmst du langsam, graziös und unendlich provozierend Stufe um Stufe mit diesen schweren, hohen Plateauschuhen. Und die ganze Zeit über hattest du mich dabei fest im Blick, bei jedem Schritt. Du hast deinen Auftritt wirklich genossen.
Ich sehe dich noch immer vor mir, als sei es gestern gewesen: Die Bewegungen deines geschmeidigen Körpers, der sich zu den schmalen Hüften hin verjüngt, das neckisch geschnürte Korsett, das knappe schwarze Höschen, das mehr offenbarte als verbarg. Und keinen Zweifel an deinem Geschlecht ließ. Das alles sah ich, jedes Detail. Und konnte doch den Blick nicht von dir abwenden.
Mit ausholenden, majestätischen Schritten kamst du direkt auf mich zu, als hättest du nur auf mich gewartet. Dein Lächeln entwaffnete mich endgültig. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was du oder ich gesagt haben. Ich konnte dich nur anstarren. Mein Hals war völlig ausgedörrt, in meinem Kopf gähnende Leere. Vielleicht habe ich auch gestottert. Doch du lächeltest nur und nahmst meine Hand, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
Wir saßen ganz eng nebeneinander auf einer roten Couch und prosteten uns zu. Deine tiefe Stimme an meinem Ohr, die zynische, kleine Bemerkungen ausspie. Deine haarsträubend komischen Ausführungen über anwesende Gäste, die wie Dynamit in meinen Kopf einschlugen. Wir redeten, lachten und tanzten bis spät in die Nacht. Du bist nicht von meiner Seite gewichen. Früh am Morgen dann deine atemlosen Küsse auf der Straße, bevor das Taxi kam.
Bis dahin hätte ich es nicht für möglich gehalten, jemanden so sehr zu wollen. Du wurdest meine Frau, du warst mein Mann, du warst einfach alles für mich: exzentrische Diva und schüchternes Mädchen, augenzwinkernder Schelm und unwiderstehlicher Charmeur.
4
Ich strecke meine klammen, steifen Glieder und setze mich langsam auf. Streiche über meine Beine und erhebe mich mühsam. Ich gehe hinüber zur Balkontür und öffne sie behutsam. Der Regen hat aufgehört, vereinzelte Tropfen fallen noch von den Bäumen. Die Nacht ist still. Eisige Kälte umfasst mich, als ich mich weit über die Brüstung lehne. Dann sehe ich das Licht, endlich.
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