Erstes Türchen
Der Ruf des Sterns
Makkaba wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. Ein leises Stöhnen neben ihr bewies, dass ihre Großmutter immer noch Schmerzen hatte, obwohl sie ihr Mohnsaft gegeben hatte. Seufzend erhob sie sich, um nach der alten Frau zu sehen. Fahles Mondlicht fiel auf das zerfurchte Gesicht. Makkaba griff nach dem weichen Tuch, das auf dem Hocker neben dem Lager lag, tauchte es in den hohlen Kürbis, in dem sich noch ein Rest Wasser befand, und tupfte ihrer Großmutter behutsam die Stirn ab.
„Mehr kann ich nicht für dich tun“, murmelte sie. Sie wusste, dass der Mohnsaft irgendwann nicht mehr ausreichen würde, um die Schmerzen, die in den Eingeweiden ihrer Patientin wühlten, zu lindern. Gedankenverloren starrte sie aus der winzigen Öffnung in der Leinwand, die ihre Bleibe nach außen verschloss. Seit Wochen peitschten Sandstürme durch das Wadi und ließen die letzten Halme verdorren. Bei Vollmond war die Sippe aufgebrochen, um andere Weidegründe zu finden. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Aufbruch erneut. Ihren Vater, schimpfend, weil sie sich weigerte mitzuziehen. Ihre Mutter, schimpfend, weil er sich weigerte, ihre Mutter, Naoma die Seherin, mitzunehmen. Nur sie war mit ihrer Großmutter zurückgeblieben. Nicht einmal ein Kamel hatte er ihnen zurückgelassen.
„Wenn du schon glaubst, der alten Frau mit eurem Hexenwerk noch helfen zu können, dann hilf dir selbst“, hatte er gesagt, sich auf sein Kamel gesetzt und die Spitze im fortreitenden Zug übernommen. Hexenwerk, dieses Wort gellte noch immer in ihren Ohren. Als wenn etwas falsch daran war, die Kräfte der Natur zu nutzen. Makkaba hatte der Karawane nachgesehen, bis sie von dem Staubmassen verschluckt schien, und sich dann wieder um ihre Großmutter gekümmert. Niemand wusste, warum die Gabe immer eine Generation übersprang. Naoma hatte ihr gesagt, das sei eben so, und sie solle sich nicht mit Fragen abmühen, auf die es keine Antwort gab.
Der Mond nahm Tag für Tag ab, genau wie Naomas Kraft. Wenn Makkaba ihren Leib berührte, konnte sie die starke Geschwulst unter der Haut spüren, etwas das nicht dorthin gehörte und täglich größer zu werden schien. „Wäre ich wirklich eine Hexe, ich könnte es wegzaubern“, dachte sie flüchtig. Ihre Aufmerksamkeit kehrte in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte. Draußen hatte der Wind nachgelassen, es war auf gespenstische Weise still. Naoma schien eingeschlafen zu sein. Makkaba erhob sich, wickelte sich den Schal fest um den Kopf, griff nach dem leeren Wasserschlauch und ging nach draußen.
Die Sandstürme hatten riesige Dünen aufgehäuft, die das Wadi nahezu unpassierbar machten, und mittlerweile fast bis an das kleine Plateau heranreichten, auf dem in einem Felsriss, geborgen hinter großen Steinbrocken, ihre Bleibe war. Generationen von Ahnen hatten Stufen von hier oben nach unten zur Talsohle in das harte Gestein gebrochen, damit ihre Seherinnen bequem auf- und absteigen konnten. Jetzt war von dieser Treppe nur noch die oberste Stufe zu erahnen. Sie hütete sich weiterzugehen. Es war lebensgefährlich, den losen Sand zu betreten, und da die Sippe fort war, bestand ihr einziger Schutz darin, nicht gesehen zu werden, keine Spuren zu hinterlassen, die einem Fremden anzeigten, dass sie hier oben hausten. Obwohl sie wusste, dass man sie hinter den großen Steinbrocken nicht bemerken konnte, verließ sie ihr Heim nur im Schutze der Nacht. Die Sterne konnten durch die sandgeschwängerte Luft nicht hindurchdringen, nur der Mond sandte die schwachen Strahlen seines letzten Viertels auf das Plateau.
Makkaba vergewisserte sich, dass alles still war. Nichts wies darauf hin, dass außer ihnen beiden Menschen im Wadi waren. Dann eilte sie leichtfüßig zwischen den Steinbrocken entlang und verschwand in einer schmalen Felsspalte. Ein Fremder würde sich hüten, dem engen Zickzackkurs zu folgen. Sie aber kannte seit ihrer Kindheit jeden Schrittbreit und benötigte kein Licht, um in das Innere des Berges zu gelangen. Hier war der größte Schatz verborgen, den ein Mensch besitzen konnte. Hier gab es Wasser. Es kroch aus allen Ritzen des Berges und floss in einer kleinen Senke zusammen, wo es langsam versickerte. Aber da etwas mehr zu- als abfloss, konnte man pro Nacht einen Schlauch füllen. Bei weitem nicht genug für die Sippe, aber genug für zwei Frauen. Und mehr Menschen hatten noch nie auf dem Plateau gelebt. Die Seherin und ihre Schülerin hatten dort ihr Reich, so war es Brauch, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte. Routiniert tauchte Makkaba den Schlauch unter Wasser, wartete, dass er sich gluckernd füllte, und machte sich dann auf den Rückweg.
Sie trat aus der Felsspalte und legte den Schlauch für einen Moment ab. Noch immer war es totenstill. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie realisierte, dass etwas anders war. Ein zweites Licht hatte sich neben den Mond gesellt. Es schien aus weiter Ferne zu kommen. Es musste ein neuer Stern sein, denn er stand außerhalb aller bekannten Himmelszeichen. Da passierte es. Die Stimme in ihrem Inneren begann zu flüstern. Sie ließ sich auf die Knie nieder, blickte das Licht an und lauschte nach innen, doch alles was sie vernahm, war ein leises Weinen. Es gab keine Botschaft. Nichts. Verwirrt stand sie auf, nahm den Wasserschlauch und ging zurück zu Naoma. Wenn sie sie doch nur fragen könnte, was das bedeutete. Aber die alte Frau konnte schon seit mehreren Tagen nicht mehr sprechen.
Makkaba seufzte und verschloss sorgsam den Eingang. Während der Mond langsam unter- und die Sonne aufging, streckte sie sich erneut auf dem Lager aus und fiel bald in einen unruhigen Schlaf. Wilde Traumfetzen wechselten sich in schneller Folge mit Phasen dumpfer Erschöpfung ab. Etwas schrie „folge mir“, sie schreckte hoch und spürte einen Moment lang nichts als Panik. Sie begann ihre Atemzüge zu zählen, so wie sie es von Naoma gelernt hatte, und versuchte, sich an die Träume zu erinnern. Doch die Bilder kehrten, anders als sonst, nicht zurück.
Draußen hatte die Sonne ihren Lauf schon fast wieder vollendet, ihre Großmutter hatte sich fast nicht bewegt und schlief immer noch. War das schon das Nahen des Todes? Unwillkürlich drängte sich der Gedanke auf, was sie dann tun solle, so ganz allein hier oben. Die Getreidevorräte, die getrockneten Feigen und das Dörrfleisch reichten höchstens noch für einen Monat. Zum ersten Mal im Leben spürte sie echte Angst. Sie versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, Naoma zu waschen, ihr abwechselnd etwas Wasser und Mohnsaft einzuflößen, selbst etwas zu essen. Doch etwas ergriff von ihr Besitz, schien von außen einzudringen in ihr kühles Felsgemach. Ein Sog ergriff sie, etwas sagte fest und bestimmt „folge mir“. Sie versank in Trance. Das helle Licht rief sie, da war Weinen, ein Gesang wie ein Wiegenlied, Schafe blökten in weiter Ferne, dann ein Krachen, das sie herausriss aus ihrer Vision.
Das Krachen war real. Sie lief zum Eingang und sah hinaus. Es war pechschwarze Nacht, unnatürlich um diese Uhrzeit. Sie sah keine Blitze, keinen Mond, keine Sterne. Aber es donnerte unaufhörlich, der Wind pfiff durch das Wadi und wirbelte den Sand hoch auf das Plateau. Und mittig über dem Plateau, genau an der Stelle wie in der letzten Nacht, stand still dieser neuer Stern und schrie, „folge mir“. Makkaba sank in sich zusammen und starrte nach draußen. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Keine Chance, das Felsgemach zu verlassen.
Drei Tage und drei Nächte dauerten Sturm und Donner an, dann tat es einen letzten Krach. Für einen Moment war es totenstill, dann ergossen sich sintflutartige Regenfälle, die das Wadi in eine Schlammlawine verwandelten. Sturm und Donner kehrten in doppelter Stärke zurück. Und in all diesen Unwettern stand der Stern unverrückbar am Firmament und rief sie. In ihr tobten Angst und Verzweiflung und lähmten ihre Gedanken, Fieberschübe jagten durch ihren Körper. Wenn sie kurz einschlief, jagten die Visionen sie quer durch die Wüste, sie stand zwischen Schafen, wanderte durch Ställe, schwamm durch tiefe Flüsse, nur um wieder aufzuschrecken, besorgt nach ihrer Großmutter zu sehen und kurz darauf wimmernd zusammenzusacken.
Am siebten Tage war sie so erschöpft wie noch nie in ihrem Leben. Sie starrte mit entzündeten Augen hinaus zum dem hellen Licht und schrie, „ich will das das aufhört! Ich tue alles, wenn das nur aufhört!“
Es tat einen letzten Donnerschlag, der Sturm legte sich und der Regen hörte schlagartig auf. Die Wolken lichteten sich und die Sonne sandte wärmende Strahlen. Und obwohl es heller Tag war, blieb der leuchtende Stern stehen. Gebannt starrte Makkaba nach draußen.
„Makkaba! Ein neuer König wird geboren. Er ist auserkoren. Geh und finde den neuen König!“ Laut und klar klang Naomas Stimme und gebieterisch stand sie hinter ihrer Enkelin.
„Großmutter!“ Sie sprang auf und starrte Naoma ungläubig an.
„Tu es!“, sagte die alte Frau. „Folge dem Licht, sobald du mich hier eingemauert hast. Für mich ist es Zeit zu gehen.“
„Ich verspreche es“, sagte Makkaba unter Tränen. „Ich verspreche es!“
Noama die Seherin sank zurück auf ihr Lager. „Der König, bring ihm die Myrrhe“, murmelte sie und verschied.
In der Seele ihrer Enkelin machte sich Frieden breit. Es gab keinen Zweifel, was zu tun war. Sie wusch ihre Großmutter das letzte Mal, zog ihr ihr bestes Kleid an, bettete sie auf ihr Lager und packte die verbliebenen Vorräte zusammen. Sorgfältig verschnürte sie die Myrrhe in einem Beutel, den sie an ihrem Gürtel fest verknotete. Noch einmal ging sie zu dem geheimen Wasser und füllte einen Schlauch. Nachdem sie alles, was sie mitnehmen konnte, auf dem Plateau gestapelt hatte, sammelte sie Steinbrocken, um den Eingang des Felsgemachs damit zu verschließen.
In dieser Neumondnacht verließ Makkaba die Seherin das Plateau ihrer Kindheit und folgte dem Stern, um den König zu finden.