Türchen 3
Das geraubte Paradies
„Du bist nicht mehr unser Sohn, wenn du dich weiter so verhältst. Eine Schande bist du, ich will mir gar nicht ausmalen, was die Nachbarn von dir oder, noch schlimmer, von uns als Eltern, denken. Geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr sehen!“
Das wutverzerrte Gesicht seines Vaters, seine Mutter, die sich, mit Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, von ihm wegdrehte und den Weihnachtsbaum weiter seelenruhig schmückte, jagte Michi Todesangst ein. Was, wenn er jetzt ins Heim musste? Ganz allein? Er wusste doch gar nicht, was er dort machen sollte. Außerdem waren hier doch seine jüngeren Geschwister, auf die er aufpassen musste. Vor allem jetzt an Weihnachten, wenn die Eltern Urlaub hatten und zu Hausen waren. Er beschützte die Kleinen immer. Er hatte inzwischen einen guten Instinkt entwickelt, spürte, wenn sich Ärger anbahnte, Wut aufstaute, die sich bald entladen würde. Immer stellte er sich vor seine Geschwister. Nie würde er es ertragen, müssten diese kleinen, zarten Wesen diese Schmerzen und Hiebe über sich ergehen lassen. Blaue Flecken und Striemen über Tage davontragen.
Nein, er musste sich endlich mal zusammenreißen. Noch lieber sein. Die Nachbarn brav grüßen, auch den Herrn Schultke, der ihn immer so komisch anfasste, wenn er auf seinem Schoß sitzen musste. Michi hasste es, wenn ihn seine Mutter zu dem alten Mann schickte, weil dieser doch so alleine sei und sich immer über Besuch freue. Nein, Michi beschloss, er würde das nächste Mal lieber die Straßenseite wechseln und so tun, als hätte er ihn nicht gesehen, den Herrn Schultke.
Wenn er in einem Heim wäre, müssten dann seine Geschwister den Herrn Schultke besuchen? Michi begann zu zittern. Nein, bloß das nicht. Er überlegte, wie er seinen Eltern zeigen könnte, dass er ganz lieb sein würde und sie nicht mehr von ihm enttäuscht wären.
Michi schlich ins Kinderzimmer und beobachtete seine Geschwister, die sich grade auf dem Teppich balgten. Tränchen kullerten, Fäustchen waren geballt. Michi setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, zog seine kleine Schwester Trixi auf den Schoß, schob die feuchten Strähnen aus der Stirn und klemmte sie ihr hinter das zierliche Ohr. Wischte rote Pausbäckchen trocken und wiegte sie leise summend in seinen Armen. Seine Schwester schob ihren Daumen in den Mund und kuschelte sich an ihn. Sein Bruder beobachtete das Geschehen und krabbelte kurzerhand über den zusammengefallenen Bauklotzturm hinweg und streckte seine Ärmchen nach Michi aus.
„Komm, du darfst dich in meinen anderen Arm legen. Hol noch deinen roten Teddy und die Kuscheldecke, wir bauen uns eine Höhle.“
Begeistert nickte der Kleine, holte sie Decke und zog sie über Michi. Das kleine Zelt lag schützend um die Kinder, die in der Wärme ein wenig Schutz fanden. Leise tuschelten sie, Michi erzählte eine Geschichte von einem Piraten, die er letztens erst in der Schule während der Deutschstunde gelesen hatte. Sein Bruder lauschte mit großen Augen und offenem Mund und krähte: „Ich werden mal der grööößte Chef von allen Paraten sein“.
Michi musste grinsen, stellte sich den kleinen Kerl vor, wie er mit schwarzer Augenklappe und einem Säbel an der Seite über die Meere schipperte.
Jäh wurden sie aus ihrer Traumwelt gerissen. Die Decke flog von ihren Köpfen in die Ecke. Michis Schwester presste sich noch enger an ihn, sein Bruder duckte sich und schob sich hinter Michi.
„Was soll denn dieser Mist hier? Wie soll was aus euch werden, wenn ihr nur solchen Quatsch im Kopf habt?“, brüllte sein Vater. Michi konnte seine Mutter in der Tür stehen sehen, mit hängenden Schultern schaute sie stumm zu.
„Ich bin Schuld, Papa, ich habe gesagt, wir sollen die Höhle bauen. Ich räume gleich auf, die Klötzchen habe ich aus Versehen umgestoßen, deshalb hat Trixi geweint. Ich habe sie getröstet“, antwortete Michi hastig. Das rote Gesicht des Vaters bedeutete nichts Gutes. Trixi flog von seinem Schoß und begann zu heulen, als Michi hart am Arm gepackt und nach oben gezogen wurde. Seine Schulter brannte und der Ellbogen verdrehte sich, doch er schwieg und hoffte, Trixi würde aufhören zu heulen. Das machte den Vater immer so wütend. Michi blickte sich um, hoffte, seine Mutter wurde eingreifen, ihm helfen, doch sie ging mit hängenden Schultern zurück in die Küche. Michi wurde aus dem Zimmer geschleift, die Türe wurde zugetreten. Wenigstens waren die Kleinen jetzt für die nächste Zeit sicher, dachte Michi erleichtert.
Er versuchte, seine Füße auf den Boden zu setzen, doch sein Vater zerrte immer wieder an seinem Arm, so dass er es aufgab und auf seinen Knien schleifte. Die Kellertür knarrte. Die feuchte, muffige Luft schlug ihm entgegen, er konnte die ausgetretenen Stufen in dem funzeligen Licht, das die alte Glühbirne spendete, erkennen. Wie oft ist er diese schon hochgestiegen, hatte den feinen Sand zwischen seinen Zehen gespürt und mit ins Bett genommen? Michi wusste es nicht, es war ihm auch egal. Er versuchte, sich aufzufangen, als er die fünf Stufen hinab fiel. Hart schlug sein Kopf auf dem gestampften Boden auf. Ein wenig benommen atmete er den erdigen Geruch des Bodens ein, hustete und versuchte sich aufzurichten. Ein Tritt zwischen seine Schulterblätter ließ ihn brutal nach vorne fallen. Seine Hände schabten über den Sand und kleine Steinchen rieben seine Handflächen auf. Er spürte Feuchtigkeit zwischen seinen Fingern und wusste, er blutete.
„Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, du sollst nicht so einen Kinderscheiß machen. Kümmer dich lieber darum, dass genug Bier im Haus ist. Das wirst du noch holen, wenn ich mit dir fertig bin!“ brüllte sein Vater.
Michi schloss die Augen, er wusste was jetzt folgte. Er hörte das Ratschen, mit dem der Gürtel aus den Schlaufen fuhr. Automatisch schob er seinen Pulli nach oben und beugte sich vor.
Die Tür schlug krachend zu, Dunkelheit umhüllte ihn. Michi keuchte. So viele Schläge hatte er zuvor noch nie bekommen. Aber sicher hatte er sie verdient. Er hatte wirklich vergessen, das Bier zu holen. Michi hörte Trixi oben schreien und nach ihm rufen. Er stolperte die Treppe hoch, schlug mit seinen Fäusten an die Holztür.
„Lass sie ihn Ruhe! Sie hat nichts getan!“, schrie Michi verzweifelt und spürte seine brennenden Tränen.
„Pssst Michi, sei leise. Du weißt doch wie er ist…“, hörte er seine Mutter hinter der Tür zischen.
„Mama, geh hin, hilf Trixi, bitte“, flehte Michi. Doch er hörte nur ihre schlurfenden Schritte, die sich von ihm entfernten.
Trixi weinte und schrie noch lange, Michi stand an der Tür, hörte hilflos zu, streichelte das Holz und weinte für sie und seinen kleinen Bruder.
Als diese schreckliche Stille eintrat, lief er wieder die Treppe hinab. Er rollte sich auf den alten, kratzigen Kartoffelsack, verschmierte seine Tränen und roch den Staub auf seinen Händen. Er schloss die Augen, er war so müde, er wollte schlafen. Davon träumen, dass er mit Trixi und seinem Bruder auf einem Schiff wegfuhren, ganz weit weg, auf eine Insel, auf der sein Bruder ein toller Pirat sein konnte.