Haben oder nicht Sein, das ist hier die Frage
Nein, ich war nie schöngeistig angehaucht. Ich bin weder eine Bereicherung für Musiker, Poeten oder Künstler. Ich bin ein ganz normaler Kerl. Total normal. Das ist der Segen, aber auch der Fluch meiner Gattung.
Warum, werden Sie fragen. Nun, ich versuche, es zu erklären. Der Vater war Lastwagenfahrer, die Mutter Hausfrau. Oma eine begnadete Kreuzwort-Rätsel-Löserin und Opa Finanzwart einer petrochemischen Fabrik. Meine Schwestern waren auf der Realschule und ich blieb als Hauptschüler hintenan. Ärgerlich. Meine dicktittige Idiotin von Tante war Vorsitzende der Ätz-Lachfraktion und mein taubenzüchtender Onkel, der beim Doppelkopf immer die letzten 22 Stiche auswendig wusste, bildete die Spitze der Spießerfraktion. Bis auf Opa hasste ich sie alle.
Für Menschen wie mich gibt es nicht viele Möglichkeiten. Reich geboren würde ich früh hinreichend gefördert oder auch nicht, je nachdem, wie hoch der inzestuöse Geiss-Faktor wäre. Mir blieb nur, zu kämpfen und mich auf mich selbst zu verlassen. Kampf wurde mein Leben. Keine Kompromisse, keine Verhandlungen, keine Grauzonen. Schwarz oder weiß, alles andere wäre ein intellektuelles Bindemittel von lausiger Konsistenz und der Halbwertszeit einer Stubenfliege. Und so begann ich, zu leben. Jede meiner Erfahrungen legte ich in Gesetzen fest. Ganz früh, nach meinem ersten Fauxpas schrieb ich mit zwölf mein erstes Gesetz:
§1: Verlass dich nur auf dich selbst.
Das galt für Schularbeiten, Umgang mit den buckligen Verwandten und den bekloppten Idioten vom Schulhof. Besonders Harald und Claudia. Harald war der Platzhirsch, der Stärkste, der Lauteste und auch der Blödeste. Claudia war komisch. Sie hatte schon einen Tretroller und stellte mir nach. Ich mochte es nicht, verfolgt zu werden. Aber sie blieb in der dritten Klasse kleben und ich war sie los. Harald wurde ich los, indem ich mir die Freundschaft eines Zehntklässlers sicherte, der mich vor seinen Übergriffen schütze. Allerdings war er nicht immer da und der schlaue Harald wartete irgendwann auf mich und ich bezog schlimme Prügel. Daraus entstand §2: Na warte! Und §3: Wenn alles andere versagt, mach es selbst.
Ich trat in den Judo-Verein und wenig später in den Karate-Verein und kurz danach habe ich es den Schweinebacken gezeigt. Die Veilchen leuchteten Mitternachtsblau bis Uringelb und keiner der hitzigen Schlaumeier wollte zugeben, von einem der Unterlinge verhauen worden zu sein.
Claudia machte mir im Nachhinein schwer zu schaffen. Sie war bislang die Einzige, die sich aus sich heraus für mich interessierte. Was Mädchen anging, hatte ich immer Pech. Wollte ich etwas von ihnen, wichen sie zurück. Ob Disco, das Lingener TopTen war damals State-of-the-Art, oder die Schläger-Kneipe VAT69, ob tanzen oder sich zu schlagen, es gab immer nur diese zwei Optionen. Und wenn die Mädchen mich nicht wollten, ging ich mich eben hauen.
Dann kam das verhängnisvolle Jahr. Meine erste Wohnung. Mein Domizil, mein Zuhause. Ich war Zeitsoldat und die Bude wurde mir vom Militär zugewiesen. Wohnblocks, na und? Keine Möbel, den Schwarz-Weiß-Fernseher von Opa geschenkt, eine Behelfsküche aus dem Baumarkt und das Sofa aus Vaters Keller. Ja, auf Rosen gebettet war ich nie. Und das war gut so. Essen gab es in der Kaserne und notfalls konnte ich dort auch schlafen, wenn ich es alkoholbedingt nicht nach Hause schaffen konnte. Ich leistete mir einen Ford Capri 2.0 und war der Meinung, dass es mir an nichts mangelte.
Dann zog, welch perfider Humor, eine Frau nebenan ein, die ebenfalls Claudia hieß. Direkt mir gegenüber. Claudia war wie ich, 174 cm lang, hatte honigblonde, lange Haare, schlanke Beine und etwas, das ich nicht kannte. Große, feste (das allerdings vermutete ich nur) Brüste und das Bestreben, diese auch zur Schau zu stellen. Wir kamen zur gleichen Zeit nach Hause und verließen beide gegen 5 Uhr dreißig das Haus. Immer bestrebt, freundlich zu sein, höflich und zuvorkommend. Wie man das unter Nachbarn so macht. Und ich hatte nie Hintergedanken, bis…
Bis ich eines Samstag-Abends hörte, wie sie nebenan schrie. Hey, unter uns Betschwestern, Frauen schreien ab und zu, das ist schon fast normal. Aber man erkennt den Unterschied zwischen einem Schrei, einem Schrei und einem Schrei. Der eine ist geboren aus Lust und der der Geilheit geschuldet. Der andere Schrei ist der der Überraschung, des Erschreckens und der Überrumpelung. Wenn zum Beispiel ein kleines Spinnlein sich anschickt, direkt vor dem Fernsehbildschirm sich von der Decke abzuseilen. Die dritte Art Schrei ist aus reiner Angst geboren und birgt Panik und Ausweglosigkeit. Als Soldat fackelte ich nicht lange, sprang über den Balkon neben an, stürmte ins Claudias Wohnzimmer.
Und ich erstarrte. Claudia lag auf ihrem Teppich, nackt. Der Bademantel, der ihre Figur umhüllen und verbergen sollte, war zerrissen und lag in Fetzen an ihren Seiten. Über ihr, eine Faust in Claudias honigblonden, langen Haaren, kniete ein nackter Kerl. Seine Erregung war ihm deutlich anzusehen, sein Muskelspiel beeindruckend. Und er war größer als ich. Hatte aber ein Handikap. Sein Blut war nicht dort, wohin es gehörte, wollte er sich auf einen Kampf einlassen.
„Runter von ihr, Arschloch.“
Ich weiß bis heute nicht, woher ich die Coolness nahm. Ich weiß bis heute nicht, ob ich selbstsicher war oder größenwahnsinnig. Streng genommen ein aussichtsloses Unterfangen, gegen eine größeren und stärkeren Gegner anzutreten. Aber den Schwachen hat Gott die List gegeben.
„Die Militärpolizei ist unterwegs. Das wird jetzt so laufen, du Penner. Du wirst mich angreifen. Ich bin kleiner und schneller als du, werde ausweichen. Da ich Stiefel anhabe und du nur deine blöde Frisur, werde ich ausweichen und dir seitwärts ins Knie treten. In der Folge wirst du für den Rest deines beschissenen Lebens humpeln oder Krücken brauchen. Kannst es dir überlegen du Arsch oder gleich aufgeben. Und geh nicht wütend weg, geh einfach!“
Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, wer mir die Worte in den Mund gelegt hat. Ich weiß nicht, was passiert wäre, hätte er mich angegriffen. Eigentlich weiß ich gar nichts. Aber er ließ Claudia los. Er stand auf, sah mich böse an, zog seine Klamotten an und ging. Als die Tür zuschlug, sprang ich von Claudias Balkon, auf meinen hinauf und zog die Tür zu. Musste ja keiner sehen, dass ich wie Espenlaub zitterte. Ich bekam kaum die Flasche Ballantines auf, die ich in der Küche hatte. Nach dem dritten Doppelten beruhigte ich mich. Und ich ärgerte mich. Warum nur musste ich mich immer einmischen? Welche Idiotie ritt mich immer? Als ich den vierten Doppelten durch meine brennende Kehle laufen ließ, wusste ich es. Es war nicht Recht! Der Typ hätte alles Mögliche mit meiner Nachbarin angestellt und das war nicht in Ordnung. Also war ich der Gute. Und das war ein… gutes… Gefühl.
Samstagabend. Ich hatte keinen Dienst und der Vorfall in Claudias Wohnung war fast vergessen. Nachdenklich hielt ich ein Schriftstück von Oberstleutnant Klenner, meinem Kommandeur, in Händen. Erst gestern gab er mir den Brief. Eine Abkommandierung. Jägerbataillon 44. Ich hatte nicht damit gerechnet, versetzt zu werden. Wozu auch? Jägerbataillon. Die bilden Scharfschützen aus und ich versuchte, in der Versetzung einen Vorteil für mich zu sehen. Naja… da klingelte es. Eigentlich schnarrte es. Ende der Siebziger gab es wenig melodische Klingeln. Hoffentlich niemand, der Einlass begehrte. Meine Bude war wenig vorzeigbar und ein Spiegelbild meiner gewöhnlichen Herkunft. Widerwillig öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Fast so, als hätte ich Furcht vor dem, was draußen auf mich warten würde.
Es war Claudia. Sehr zu meiner Überraschung. Sie stand züchtig vor der Türe, die Hände sittsam hinter dem Rücken. Claudia trug ein dunkelblaues, knielanges Kleid mit einem schneeweißen Kragen. In den Achtzigern der letzte Schrei und sündhaft teuer.
„Hallo“ stotterte ich.
„Hallo. Ich äh ich wollte äh also ich möchte….“
„Zucker? Kaffee? Eier?“
„Großer Gott, halt einfach die Fresse, Alter!“ sagte ich mir.
„Nein, ich möchte gern die Situation aufklären von Sonntag“
„Ach so, ja. Klar, äh. Dann leg los.“
Claudia sah sich um, als wenn sie Spione im Hausflur vermutete und ich Idiot bemerkte nicht, was sie bezweckte.
„Könnten wir nicht, also… ääh….“
„Oh Sch… ja klar, komm rein.“
Im selben Moment verfluchte ich mich. In meine Bude konnte man niemanden lassen, es war ein Armutszeugnis. Aber es war zu spät. Sie trat vor, ich wich zurück und ärgerte mich. Das hat man nun davon!
„Hübsch hier“ sagte Claudia und ich konnte es nicht lassen.
„Was genau?“
Mein kleiner Flur war spartanisch, wenn nicht nackt. Eine Tapete vor einer Uroma, mit großen, dunkelroten Fresken zierten die Wände, ansonsten war dort nichts zu sehen.
„Na…es sieht so… „
„… arm aus?“
„Nein, eher schlicht. Nicht kahl, aber einfach.“
Damit konnte ich leben, Ich war immer einfach. Einfach war gut, kompliziert war schlecht. Ich lachte laut auf.
„Lachst du mich aus?“
„Nein, aber mir fällt gerade ein, dass ich dir nicht einmal einen Platz anbieten kann, ich habe keine Stühle.“
Claudia stimmte mit ein.
„Worauf sitzt du sonst?“
„Ich habe ein Dreier-Sofa, sonst nichts. Naja und einen Schwarzweiß-Fernseher.“
Claudia zog eine Flasche Jack Daniels hinter ihrem Rücken hervor.
„Aber zwei Gläser hast du, oder?“
Die zwei Gläser waren eine Edelstahltasse und ein ehemaliges Thomy-Senfglas. Als wir anstießen, immerhin hatte ich zwei Eiswürfel, begann gerade Thomas Gottschalk in Schwarzweiß seine nicht enden wollenden Monologe über das wichtigste Thema des Planteten: Sich selbst.
„Mann, ist der tuntig mit seinem schwulen Leibchen“ sagte Claudia und ich nickte nur.
„Aber er hat Kohle.“
„Woran siehstn das?“
„Schau mal seine Uhr. Eine Breitling Chronomat Vitesse mit UTC-Uhr und Haifisch-Armband. Unter 5 Mille ist da nix zu machen.“
„Neidisch?“
„Jepp. Aber keine Sorge, eines Tages werde ich auch so eine haben.“
„Echt?“
„Ja, es gibt nicht viele Dinge, die ich vom Leben erwarte aber das gehört dazu.“
„Was sonst noch?“
„Lass mich mal überlegen. Ein tolles Auto. Eine gute Frau. Eine Katze. Und immer einen guten Schluck. Mehr brauche ich nicht.“
„Echt jetzt? Du bist aber bescheiden. Was ist mit Familie, Haus, Freunden, Swimming-Pool, Parties, Gesundheit, Zufriedenheit….“
„…und Weltfrieden?“, lachte ich und ich gebe zu, dass ich mich ein wenig amüsierte.
„Idiot“, brauste sie auf, „anderen ist das wichtig. Getoppt von Karriere.“
„Ich bin Soldat, Claudia. Meine Karriere wird bestimmt von Planstellen und Ausbildung. Das Ende ist vorhersehbar. Ich habe weder Abitur, noch habe ich studiert oder komme aus gutem Hause. Wenn ich meine Dienstzeit auf 12 Jahre verlängere, ist maximal Hauptfeldwebel drin und Ende Gelände.“
„Ist denn Hauptfeldwebel so schlecht?“
„Nein… aber…“
„Aber was?“
„Es ist… oh Gott, wenn das einer hört. Es ist mittlere Laufbahn. Kein unterer Dienstgrad aber auch kein Offizier. Es ist Mittelmaß. Und Mittelmaß prägt mein ganzes Leben. DAS ist, was ich wirklich will. Verantwortung. Wichtig sein, ein JEMAND sein. Im Mittelfeld bist du ein Niemand und vergessen, sobald die Tagesschau kommt.“
„Aber du bist doch jemand!“
„Nein, bin ich nicht. Ich bin ein Typ, der nicht einmal zwei gleiche Gläser hat. Aber weißt du was? Ich finde das irgendwie gut. Wenn ich diese Bude einmal Hals über Kopf verlassen muss oder im Einsatz falle, wird niemand jemals wissen, wer ich war. Wie ein Geist, wie ein verwehender Ton im Wüstenwind.“
„Dazu ist es aber schon zu spät“, sagte Claudia und ich versteifte mich, als sie ihren Kopf an meine Schulter legte. Was sollte das denn jetzt? Warum auf einmal diese Nähe? Was fiel der ein? Ich kannte die doch gar nicht!
„Wie, was meinst du?“
„Du bist der, der mich… naja…gerettet hat. Naja mehr oder weniger. Das werde ich nie vergessen.“
„Was heißt mehr oder weniger? Das verstehe, wer will.“
„Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen kann. Ob du verschwiegen bist oder mich auslachst.“
„Auslachen würde ich nur den bekloppten Gottschalk!“
Claudia schwieg. Nach ein paar Minuten wusste ich nicht, ob sie eingeschlafen war oder weiter nachdachte. Dann, ihre Stimme war kaum zu hören:
„Was weißt du über Dominanz?“
„Ääh, also naja… zurzeit bin ich Unteroffizier. Ich befehle über ein Dutzend Leute, das ist schon Dominanz.“
„Nein, ich meine Dominanz im sexuellen Sinn.“
Ich war perplex. Dominanz im sexuellen Sinn? Was meinte sie damit? Bestimmen, was ab ging? Ich hatte nicht einmal so viele Frauen in meinem Leben um drei Finger zu heben.
„Im sexuellen Sinn? Äääh…..“
„Eben. Das Problem ist, jemanden zu finden, der einem selbst entspricht. Viele Frauen sehnen sich nach jemandem, der in gewissen Situationen sagt, was dran ist. Lassen wir das einmal so stehen. Diese Spezies Männer ist selten. Der Typ, den du verscheucht hast, war einer der Typen, die Dominanz mit Brutalität verwechseln. Ein Arschloch also. Deswegen hat er auch sofort den Schwanz eingezogen, als du ihn dominiert hast.“
„Okaaaaay“
Ich konnte nur stammeln. Eine vollkommen neue, fremde und seltsame Welt bot sich mir dar. Skurril, bizarr und absonderlich.
„Sorry, aber das verstehe ich… wirklich nicht.“
Claudia lachte leise. Sie hob ihr Gesicht. Ihre Augen lächelten, ihre Lippen lächelten. Ihre Hand fand die Meine.
„Doch, das wirst du. Du wirst es verstehen. Du musst nur lernen, dir mit Respekt, Anstand und Vertrauen das zu nehmen, was du haben willst.“
Montag Morgen. Ich meldete mich im Kompaniezimmer des ersten Zuges des Jägerbataillons 44. Ein Hauptfeldwebel begrüßte mich.
"Sie sind hier auf Befehl von Oberstleutnant Klenner?"
"Das ist richtig, Hauptfeld."
"Falsch." Lakonisch, einfach, schlicht.
"Falsch?"
"Richtig. Sie sind hier auf Empfehlung des stellvertretenden Verteidigungsministers Schneider."
Ich war sprachlos.
"Zu Befehl, Herr Hauptfeldwebel."
Immerhin stand er im Rang über mir.
"Sie bekommen hier vier Wochen Ausbildung, dann geht es nach Hammelburg. - dramatische Pause - aber jetzt nach nebenan ins Dienstzimmer, der stellvertretende Verteidigungsminister wartet."
Ich trottete hinter dem Hauptfeld her, der bereits einen Wohlstandsgürtel bildete. Er öffnete mir die Tür und ich trat in das schlichte Büro.
"Hallo, Soldat. Weisst du schon, was du haben willst?"
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