Die Fuge
Kielgeholt wurden acht Begriffe: kalfatern, Hügelkette, pökeln, artig, marode, Tangram, dürr und Renitenz. Sie wurden verletzt geborgen und fügten sich zu einer melancholischen Miniatur um die Schönheit des Brüchigen ...
Die Fuge
Spüre das Salz auf der Zunge. Deine Renitenz! Ich hätte es wissen müssen. Jahre lebten wir am schönsten und windigsten Punkt der Insel. Wirbelten umeinander, anfangs. Lebten. Artig, behaglich, das zumindest. Wann verschwand das Leichte, das Süße? Wann wurden wir bitter? Wie eingepökelt in der zähflüssigen Lake des sich anstauenden Ungesagten?
Zwischen uns Funkstille. Lange, zu lange. Kein Funkenflug mehr, kein Funkspruch. Kein vorsichtiges Morsen, um die sich ins Weite dehnende Distanz zwischen uns zu durchbrechen. Stille. War sie beredt? Oder einfach nur stumm, immer schon? Oder doch nur am Ende? Kein Lüftchen wehte mehr von mir zu dir oder von dir zu mir herüber.
Ich stand auf der sanften Hügelkette des Deichs, der Himmel bleigrau, Wolkentürme in Stahlfarbe. Ich schrie. Brüllte mit zu dürrer Stimme meinen Schmerz gegen den Wind, der mir jeden Ton von den Lippen riss, den Sinn forttrug, ihn über den Dünensand trieb, als sei er zu leicht und es ein Spiel. Ich riss. Riss mir die Jacke auf, das Hemd. Stemmte mich gegen den Wind, den einsetzenden Regen. Wollte, dass mich das Wetter peitscht, es aus mir herauspeitscht.
Jetzt gieße ich mir heißen Tee ein. Atme durch. Wie tröstlich diese eingeübte Geste ist. Ich starre in eines unserer Teegefäße, ein halbhohes Schälchen. Unaufdringlich, ganz schlicht und doch so harmonisch die Proportionen. Nahezu gleich sehen sie aus und dennoch ist jedes ein wenig anders. Der Anblick ihrer stillen Schönheit macht mich ruhig. Außen dunkel sind sie, innen hell. Überzogen mit unzähligen, haarfeinen Rissen, dem typischen Cracquelé in der wie durchscheinend wirkenden Glasur. Ich liebte Keramiken in der Technik des japanischen Raku-Brandes, immer schon. Tenshō-Ära, ausgehendes 16. Jahrhundert ... Ich halte mich an der Sachlichkeit dieses Gedankens fest, lege meine Hände um mein Schälchen, lasse die Wärme von meinen Handflächen über die Ellbogen hoch in meine Mitte einwandern. Außen sind sie dunkel und von der Farbe der Finsternis. Einer Finsternis, die wie gefüllt wirkt, die alles in sich birgt. Die alles Licht in sich vereinigt, als habe man die Farben des Regenbogens in der Schwärze dampfenden Teers versenkt.
Innen sind sie hell und von einem flüssigen Milchweiß, das sich über eine warme Steinschicht ergießt. Darin das Geflecht hauchzarter Äderchen, bläulich, grünlich, schimmernd wie Echsenhaut. Färbungen, die durch Metallsalze entstehen, oft Kupfer- oder Eisenoxide. So feine Linien! Verästelungen, die aussehen wie Flüsse, die man aus großer Höhe betrachtet. Google Earth, die Kraft der Potenzen, n (hoch) 10.
Ich denke an uns. Wann wurden wir so ungefüg? So ungefügig füreinander? Wann bekamen wir Risse, drifteten derart auseinander, dass wir uns hätten kalfatern müssen wie die Mahagoniholzplanken unseres Gaffelkutters? Was wäre für uns das Werg gewesen, das wir mit dem Butteisen an den schwierigen Stellen in die klaffenden Spalten zwischen uns hätten schlagen sollen? Was hätte uns das flüssige Pech sein können, das wir in die Plankenzwischenräume unserer Sprachlosigkeit hätten schmieren müssen? Hätte ich früher sprechen sollen? Auch darüber?
Ich nehme einen Schluck meines Tees und mir kommt die Legende zur Entstehung des Tangrams in den Sinn:
Ein Mönch gab einst seinem Schüler eine Keramiktafel und beauftragte ihn, auszuziehen und die Essenz der vielgestaltigen Schönheit der Welt auf ebendiese Tafel zu zeichnen. Der Schüler tat, wie ihm geheißen. Eines Tages, auf einer seiner Reisen, geschah ihm das Missgeschick: Die Tafel zerbrach in sieben verschiedene Teile. Er war verzweifelt und obgleich er sich sehr bemühte, er konnte sie nicht mehr zum ursprünglichen Quadrat zusammenfügen. Er gab jedoch nicht auf, versuchte es wieder und wieder. Unzählige, ja unendlich viele Muster und Bilder entstanden. Eines Morgens, mit dem Licht der aufgehenden Sonne, begriff er. Er musste nicht weiter umherziehen. Er hielt die vielfältige Schönheit der Welt in den Händen: In den sieben Teilen der zerbrochenen Tafel war sie bereits enthalten.
Meine Welt ist geborsten. Zerlegt. Ich bin weniger jetzt als die Summe meiner Teile. Auseinandergeflogen alles Feste, auf das ich baute, auf das ich mich verließ. Zusammenhanglos treibe ich und muss mich in acht nehmen vor der Wut, die alles verschlingt und mit sich zieht wie die Flut. Nach so viel gallertartigem Schweigen, das immer undurchdringlicher wurde und wie eine Wand zwischen uns stand, drang ich nicht mehr zu dir durch, konnte dich nicht mehr begreifen. Kaum noch angreifen sogar. Du warst gummiert, wie Aal in Aspik, entzogst dich mir und plötzlich! Ein Wortschwall jagte den nächsten. Daran hätte ich es merken müssen. Deine Worte türmten sich auf, rollten heran wie eine Welle, brachen sich über mir. Sah ich da den Schaum des Hasses vor deinem Mund? Ich hätte merken können, dass sich etwas Gravierendes abzuspielen begann.
Ganz reduziert und vorsichtig bewege ich mich in meinem Planquadrat. Ich weiß, ich bin aus den Fugen. Betrachte meine Risse, die dünne Glasur, die mich zusammenhält. Unvollständig bin ich. Du warst ein Teil von mir, warst da. Warst bei mir, so lange. Ich habe eines der Teegefäße nach dir geworfen an diesem Morgen. Wie du da standst an der Tür mit deinem steinernen Gesicht! Ich fand eine lustvolle Freude daran, es vor deinen Füßen zerbersten zu sehen. Dein Blick dann, so dunkel. Wie Teer.
Sah dir nur nach, machte keinen Schritt. Über den Deichgraben gingst du dann, ohne dich noch einmal umzudrehen.
Mein Blick geht zum Himmel. Möwen. Eine marodierende Horde in leichtem Spiel, sie nehmen die steife Brise zum Kameraden, lassen sich mitreißen, ziehen in eleganten, langgezogenen Kurven über die wippenden Gräser. Es ist schwer, im Gespaltenen einen Sinn zu erkennen, Schönheit gar. Ich höre den Schrei der Möwe, der mir immer ein wenig nach einem windigen Lachen klingt. Stapfe schweren Schrittes durch den nassen Saum des Sandes, sehe mich um. Sehe zu, wie meine Spur sich verliert.
Die See leckt über meine Stiefel, neckt mich, lockt. Ich suche die zerfallenen Stücke meines Lebens zusammen, sortiere. Trete fast auf eine Auster, deren Zartheit im perlmuttenen Innern mich angesichts der zerklüfteten Grobheit der Schale rührt.
01.2017©nyx
.