Fortsetzung einer alten Geschichte
Ich rase mit vollem Tempo über die A113 von Berlin in Richtung Cottbus mit Ziel Schenkendorf bei Mittenwalde. Es ist mir schnurzpiepegal, ob irgendwelche Radarfallen nette Bildchen von mir schießen oder die Tatsache, dass ich gar keinen Führerschein habe. "Worst case" wäre, wenn mich ein Streifenwagen stoppen würde, dann wäre die Welt, wie wir sie kennen, total am Arsch.
Also bitte lieber Gott, wenn es dich gibt und dir etwas an deiner menschlichen Schöpfung liegt, dann hilfst du mir jetzt und schaffst mir alle Hindernisse aus dem Weg, besonders diese lahmen Penner vor mir und zwar sofort!
Mehr als aggressiv trete ich das Gaspedal des Audi TT durch, den ich mir von meinem Stiefvater „ausgeliehen“ habe. Ich bin jetzt nicht kriminell, falls sie das meinen. Nein, Gott bewahre! Die blanke Not zwang mich dazu, denn er glaubte mir einfach nicht. Idiot!
Mein Vater hätte mir geglaubt, doch er ist seit zwei Jahren tot. Meine Mutter hat einen alten Schulfreund von ihm vor kurzem geheiratet, der zur Beerdigung gekommen war. Der Typ erschien mir nicht ganz koscher, er stellte immer so komische Fragen und sah mich dabei so seltsam an, aber meine Ma hatte schon genug Kummer und so hielt ich meinen Mund. Nun sind sie und mein Bruder verschwunden.
Keine Spur von ihnen, nur ein merkwürdiges Gebilde, wie eine angekokelte Schuppe, ist in dem völlig ausgebrannten Haus in Zehlendorf übriggeblieben. Die Polizei hat keine Idee, doch mir schwant etwas. Natürlich glaubt mir niemand. Hysterie (Sie verstehen?) unterstellt man mir. Beinahe hätten sie mich in eine Klappsmühle eingewiesen. Mein Stiefvater mietete ein anderes Haus, ziemlich abgelegen und an einem der vielen Seen im Berliner Umland. Er arbeitet den ganzen Tag in seiner Firma. Ich bin meist mit meiner Adoptivschwester allein und dann hat es begonnen.
Seitdem ist etwas Unaussprechliches hinter mir her und jagt mich. Gelbe, böse Augen im Dunkel der Nacht starrten mich an. Seltsame Geräusche im Garten, die nur ich hörte. Dann verfolgte es mich als ich mit dem Rad abends von einer Freundin heim fuhr und beinahe hätte es mich erwischt. Nur mit Mühe war ich entkommen, spürte den Pesthauch in meinem Nacken.
Das sorgfältige Recherchieren habe ich von meinem Pa geerbt und die Antwort liegt in dem kleinen Kaff Schenkendorf. Dorthin muss ich, zur Feldsteinkirche. Hier geht es um Stunden und vielleicht habe ich nicht mal mehr die. Zum Glück scheint der Allmächtige auf meiner Seite zu sein, denn alle vor mir machen sauber Platz. Besser so, es ist ja auch zu ihrem Besten, denn die Bestie würde sie nicht verschonen. Unser aller Überleben steht auf der Kippe.
Wie hat mich das Biest nur gefunden? Damals als ich mit meinem Eltern und meinem kleinen Bruder Joshua um die Adventszeit in dieses verfluchten Dorf im Odenwald ziehen musste, weil mein Pa ein Sabbatical genommen hatte, um ein Buch zu schreiben. Ich sollte dem Drachenvieh, dass dort hauste, als 1000. und damit letztes Opfer zum Fraß vorgeworfen werden, doch mein Pa hatte im letzten Moment eine Lösung parat, die aber nur unsere Familie und ein kleines Mädchen aus dem Dorf überleben ließ. Die anderen Bewohner und der alte Drache waren gestorben. Das Gemetzel war schrecklich gewesen. Wir Überlebenden flüchteten nach Berlin, in die anonyme Großstadt, wo es keine urzeitlichen Viecher gab. Jedenfalls dachten wir das, aber das Mistvieh im Odenwald musste ein Kind oder so was gehabt haben und das verfolgt mich nun. Marie, so mein Name – erinnern Sie sich an mich? ( Anmerkung: Der Weihnachtsdrache)
Inzwischen war ich älter und zahlreiche Tattoos zierten meinen Körper. Dreimal dürfen Sie raten, was für welche. Ja richtig – Drachen, aber tote. Erschlagene, durchbohrte und skelettierte. Siegfried - mein Held - allerdings war mir schleierhaft, wie er die Säure im Blut der Bestien überlebt hatte. Vielleicht hatte er einen jungen Drachen erledigt? Bevor dessen Blut pure Säure wurde? Oder war das Wasser der Quelle magisch gewesen? Egal, helfen konnte mir eh nur die Jungfrau Maria, so wie schon beim ersten Mal, als uns das Altarbild im Wormser Dom „Als die Drachen vor der Krippe flohen“ die Lösung bescherte. Diesmal würde sie es in Gestalt der Mondsichelmadonna sein.
Meine Lippen murmelten die Zeilen aus der Offenbarung des Johannes:
„Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen. Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und sie gebar ein Kind, einen Sohn, der über alle Völker mit eisernem Zepter herrschen wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt.“ (Offb, 12,1–5)
Erwähnte ich meine Schwangerschaft? Nein? Ich habe noch wenige Wochen bis zur Niederkunft und der Bauch behindert mich schon etwas. Bevor Sie jetzt denken, ich wäre eine Schlampe – nein, es gab keine Riesenauswahl an möglichen Vätern, nur einen einzigen und der hat mir mein Herz gebrochen. Sagte, er wäre nicht von dieser Welt und er müsse wieder in seinen Wolkenturm zurück. Tolle Ausrede! Aber ich hab sein Schwert mitgenommen, als ich ging. Er hat es selbst gemacht. Er ist Schmied. Ja, den Beruf gibt es auch heutzutage noch. Er fuhr voll auf Wieland und die Nibelungensage ab.
So haben wir uns überhaupt erst kennengelernt. Bei einem Mittelaltermarkt. Nützlicher Faible.
Kann sein, dass er jetzt sauer deswegen ist, denn das Schwert ist sein Meisterstück, aber es ist mir herzlich egal. Ich brauche es – für den Drachen - und unser Kind soll es später haben, sofern wir beide das überleben. Vor mir liegt die aus Findlingen erbaute Kirche.
„Na endlich!“ Lenas Erleichterung aus dem Wagen springen zu können, tut mir schon weh. Hab ich sie nicht sicher hergebracht?
„Los, schnell ins Innere, drinnen sind wir vor dem Feuer des Drachen sicher. Es kann die Mauern nicht durchdringen.“, scheuche ich uns hinein.
„Weiß ich doch!“, kommt es leicht pampig von meiner Adoptivschwester zurück, „schließlich komme ich aus einem Drachennest.“
Sie sagt das so als sei es etwas absolut Tolles und sie die Expertin in Sachen Drachenbesiegen. Ich schnappe mir Augen verdrehend die Tasche mit unseren Waffen und wir rennen gegen die geschlossene Tür. Shit – keine offene Kirche!
„Soll ich den Pastor suchen?“, fragt das Kind.
„Nein, dauert zu lang, geh aus dem Weg!“
Ich nehme das Schwert, um das Schloss zu zerschlagen als hinter uns brüllend und fauchend der Drache landet. Fast wirft uns der heftige Luftstrom um. Gerade noch rechtzeitig und nur mit einigen versenkten Haaren rennen wir ins sichere Innere. Draußen tobt die Bestie und schickt Feuerstoß um Feuerstoß gegen die Mauern. Es wird sehr heiß und das alte Gemäuer erzittert unter der Wucht des Angriffs. Die Luft drinnen heizt sich zu schnell auf, das Atmen wird zur Qual. Unsere Lungen drohen zu versengen. Wir werden lebendig geröstet. Na toll!
Unsere Haut nimmt die Farbe überreifer Waldbeeren an, erscheint als würde sie verbrennen.
Außerhalb ertönt unvermittelt noch anderes als Drachengebrüll, ein vokaler Gesang. Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa! In einer Endlosschleife. Kehlig, es klingt gruselig, irgendwie beschwörend. Es passt, denn ich fühle mich eh schon wie in einem billigen Horrorfilm der 70ziger Jahre. Ich presse mein Gesicht gegen die Buntglasscheibe und versuche etwas zu erkennen.
Da steht mein Stiefvater und andere Typen in komischen schwarzen Umhängen und mit Hörnern auf dem Kopf. Sie haben lange dicke Stäbe, die sie rhythmisch auf den Boden schlagen, immer schneller, immer fester.
Verdammt! Ich wusste es! Der Mistkerl steckt hinter allem.
Der Drache steht in ihrem Halbkreis und scheint sich in der unheimlichen Tonfolge hin und herzuwiegen. Kommunizieren sie mit ihm? Warum verschlingt er sie nicht?
Ich greife das Schwert mit beiden Händen fester und weiß, dass ich mich meinem Schicksal stellen muss. Lena bringt mir aus der Tasche die Amulette der Sonne, des Mondes und der Sterne. Es sind Abbilder wie bei der Mondsichelmadonna auf dem Altar der uralten Kirche. Sie hilft mir beim Anlegen des Sternenkranzes und des Sonnenkleides, legt die Mondsichel unter meine Füße. Die Kleine weint dabei. Böse Erinnerungen kommen wieder hoch. Schon wieder will uns ein Drache fressen.
Ich sage ihr, dass sie sich direkt unter dem dicken Stein des Altares verstecken soll, die Mondsichelmadonna wird sie beschützen – so hoffe ich.
Du musst daran glauben! Die eindringliche Stimme meines Vaters hallt in meinem Kopf. Immer lauter, immer schneller im Takt der auf den Boden schlagenden Stäbe.
„Ich glaube es ja!“, schreie ich.
„Was glaubst du?“, fragt mich jemand hinter mir.
„Michael?“, stoße ich ungläubig aus.
Verdammt, wie kommt die treulose Tomate hierher?
Und sinke in mich zusammen, dabei brülle ich wie verrückt, diesmal aber vor Schmerzen. Die Wehen haben eingesetzt. Lena kommt zu mir gelaufen und das Entsetzen steht auf ihrem Gesicht. Die Eichenholztür schwingt nun auf. Böse, gelbe Drachenaugen starren uns an und auch die schwarzen Gestalten. Ohne Erbarmen ist ihr Blick und ich weiß, sie werden uns alle töten. Der Mut verlässt mich, alles aus. Ende.
„Du musst es glauben!“, flüstert Michael, Vater meines Kindes und seines Zeichens Ex. Noch immer bin ich fassungslos, dass er hier ist. Ein Fenster im hinteren Bereich ist kaputt. Wir haben es durch das Drachengebrüll wohl nicht gehört. Eine Wehen-Pause. Neue Kraft durchflutet mich.
Ja, ich glaube es, ich glaube es doch! Und jetzt lieber Gott, schick uns Hilfe! Bitte.
„Wir werden es schaffen, denn nun sind wir komplett. Ich bin der Erzengel Michael, der in der Offenbarung gegen die Bestie kämpft. Dafür habe ich dieses Schwert geschmiedet. Nur dafür. Dass du damit kämpfen sollst, davon war nie die Rede, Marie.“
Sehr sanft, streichelt er mich und meinen Babybauch.
Häh? Ich versteh nur Erzengel. Heißt das jetzt, ich hab mit einem Engel geschlafen?
Er sieht mich mit diesem magischen Blick an, mit dem er mich seinerzeit becirct hat. Diese Augen, diese blauen Augen, so tief wie das Meer oder unendlich wie der Himmel. Ich glaube es. Ja. Die Amulette beginnen ein Eigenleben. Pures Licht fließt aus ihnen, es umhüllt Lena und mich, bildet eine schützende Kugel.
Michael nimmt mir das Schwert aus meinen kraftlosen Händen, denn die nächste Wehe überrollt mich und ich höre mein unmenschliches Gebrüll, fast lauter als das des Drachens.
Scheiße, Scheiße, Scheiße tut das weh!
„Du bleibst hier und bringst unser Kind zur Welt, Marie, lass mich dabei nicht aus den Augen! Das ist wichtig! Hörst du? Lena! Hilf ihr!“, weist er an und geht langsam in Richtung Tür. Bei jedem Schritt wird er entschlossener, wird sein Gesichtsausdruck grimmiger.
„Du musst glauben, Marie!“, flüstert er.
Und dann bricht draußen die Hölle los, während sich das kleine Wesen in mir den Weg nach draußen, ins Leben, bahnt.
Ich sehe in einer Art Dämmerzustand, vermutlich hervorgerufen von körpereigenen Endorphinen, wie heldenhaft Michael nicht nur gegen den Drachen sondern auch gegen die 13 schwarzen Männer kämpft. Seine Gestalt ist dabei in einen grellen Lichtschein unbekannter Quelle getaucht. Ich verstehe es nicht, vermutlich träume ich das nur.
Die bösen Kerle zerfallen bei seiner Berührung einer nach dem anderen zu Asche. Ein Panzer schützt ihn vor dem heißen Atem des Biests und schließlich schwingen sich beide sogar hoch in die Lüfte zum finalen Kampf – Gut gegen Böse.
Michael hat Flügel? Echt beeindruckend, diese Hormone!l
Auf allen vieren krieche ich nach draußen, denn ich muss ihn ja immer im Blick haben. Die letzte Wehe, mein Blick geht verschleiert vor Schmerz hoch zu ihm in die Luft. Wir sehen uns in Augen, er durchbohrt das Herz des Drachen und schlägt ihm mit letzter Kraft den Kopf ab. Doch zuvor trifft ihn noch ein letzter Feuerstoß. Er fällt mit der Bestie aus der Höhe zu Boden und bleibt reglos liegen.
Nein, nein, nein!
Das Baby schreit und reißt seine Äuglein auf. Blaue Augen, seine Augen. Ich schluchze und brülle, Lena nimmt das Würmchen und ich schleppe mich zu Michael.
Ich habe doch geglaubt! Warum ist er abgestürzt? Ich habe doch an ihn geglaubt! verdammter Gott, warum nimmst du ihn mir weg?!
Er liegt da, neben dem toten Drachen, dessen Blut in einer Lache den Boden tränkt, und rührt sich nicht. Alles an ihm ist verbrannt, sein Panzer geschmolzen. Seine Augen haben keine Lider mehr, weit aufgerissen sehen sie mich an. Lena nähert sich vorsichtig mit unserem Sohn und zeigt ihn ihm. Er lächelt und flüstert:
„Was für ein kleines Wunder, das wir beide erschaffen haben, meine Marie.“
Ich weine hemmungslos, er ergreift meine Hand: „Scht, nicht weinen. Das ist nicht das Ende. Rasch, tauch den Kleinen in das Blut und achte darauf, dass du keine Stelle vergießt. Noch ist das Drachenblut nicht ätzend. Das wird ihn, zusammen mit meinem Schwert, für die Zukunft unbesiegbar machen und es gibt noch viele Gegner zu bezwingen. Blöder Zeitpunkt, ich weiß. Aber ich muss nun wirklich zurück. Sie warten auf mich, ich bin schon viel zu lange hier unten. So gern bliebe ich bei dir, meine liebste Marie, und bei dem Kleinen.“
Ich küsse seinen lippenlosen Mund, frage, warum mein Glauben ihm nicht geholfen hat.
„Hat er doch, Liebste! Ich habe gewonnen, wir haben gewonnen.“
Noch ein Lächeln und er löst sich auf wie Nebel in der Sonne. Weg ist er. Vorsichtig benetze ich mein Baby mit dem Drachenblut und das Kleine jauchzt dabei. Scheint ihm zu gefallen und zum Glück wachsen ihm keine Schuppen. Ich dagegen bin wie betäubt. In mir herrscht Dantes Hölle, ich lasse alle Hoffnung fahren. Lege mich nieder ins Gras und wünsche mir den Tod. Aus der Ferne höre ich vertrautes Rufen. Ma und Joshua rennen über das Gras zu mir. Sie sehen mitgenommen aus, sind aber unverletzt. Wir schließen uns voller Freude in Arme. Ich spüre unendliche Liebe und Kraft für uns alle. Michael ist da, er wird immer an meiner Seite sein, ich rieche ihn, ich fühle ihn, nur sehen kann ich ihn nicht.
Nina de Wynter 28.11.16