Das Gewissen der Soldaten
Und er dachte noch: „Nur nicht übertreiben, Leute.“ Niemand wollte hören. Er hörte Dinge, wie: „Das ist unabdingbar. Nicht aufzuhalten. Wir dürfen nicht schwächeln. Diese großartige Nation…“
Wem wollten die eigentlich kiloweise Flugsand in die Augen streuen? Großartige Nation? Die USA? Die größte, am schwersten bewaffnete, aber nichtsdestotrotz dreckigste Hütte im Dorf? Großartig? Groß… ar…tig… die Silben rauschen wie ein Wasserfall aus Methan durch seinen Verstand. „Es muss sein, Corporal, das sehen Sie doch ein? Ich möchte, dass sie sich freiwillig melden. Ich könnte es auch befehlen, Soldat…“ , ließ er den Satz im Raum schweben.
„Das heißt, Sir?“
„Na, was denken Sie, Corporal?“
„Wenn das Ergebnis positiv ist, soll ich dem verdammten Chamäleon den Kürbis runterschießen.“
„Exaktemundo.“
„General, das ist… das ist…“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nur eines: Notwendig.“
„Aber auch eine Gewissensentscheidung.“
„Negativ, Corporal. Sie sind doch Trekkie?“
„Ja, Sir.“
„Was ist die Grundregel der Vulkanier?“
„Das Wohl Vieler, es wiegt schwerer als das Wohl von Wenigen. Oder Einzelnen.“
„Richtig, Corporal. Also machen Sie es?“
„General, warum machen Sie es nicht?“
Entsetzen im Gesicht des Lamettaträgers. Seinem Adjutanten fiel der Kaugummi aus dem Mund.
„Weil ich es nicht kann (er betonte das Wort und fühlte sich dabei wohl wie ein Depp), Corporal.“
Corporal Jack Stephen Truman, um drei Ecken mit dem Ex-Präsidenten verwandt, bester Schütze des 1st Special Forces Operational Detachment-Delta in Fort Bragg, North Carolina, nickte bedächtig.
„Also, okay. Ich bin ihr Mann.“
General Beckwith atmete erleichtert auf. Wenn ein Kommandosoldat sein Wort gab, galt es. Die Operator der 1st Special Forces Operational Detachment, kurz SFODs genannt, waren Menschen, auf die man sich verlassen konnte. Noch niemals gab es bei irgendeinem dieser Männer etwas zu monieren. Außer unter Carter, da hat einer mal besoffen gegen den Fahnenmast gepinkelt. Er sortiert heute Kopierpapier in einem Horchposten in Alaska.
Es ist der 8.November 2016. Jack hatte sich durch die Menschenmenge des Tiffany&Co, 5th Avenue 727 bis zu den Aufzügen durchgeschummelt. Er war in Zivil. Chinos, keine allzu auffälligen Stiefel, ein rot-blaues Holzfällerhemd unter einer schwarzen Matrosenjacke, wie sie gerade oft getragen wurde. Er war in der Masse unsichtbar. Im Lift wartete er, bis er allein war. Seelenruhig nahm er den Schlüssel für die obersten Etagen zur Hand. Das oberste Stockwerk. Ein bulliger Mann stand mit hinter dem Körper verschränkten Armen breitbeinig vor Apartment 2416. Typisch Marines, die können einfach nicht aus ihrer Haut. Jack nickte ihm wortlos zu. Der Marine gab ihm einen Schlüssel und ließ ihn ins Apartment. Möbliert, wie es in New York üblich ist. Doch Jack hatte keinen Blick für das Edle im Raum. Sein Interesse galt dem Koffer, der auf dem Tisch lag. 120 Zentimeter lang, 50 Zentimeter breit und 18 Zentimeter hoch. Aus demselben Material wie Samsonite-Koffer. Nur mit brisanterem Inhalt. Denn im Inneren wartete Jackie. Eine Barrett M82A3, Kaliber 12,7 x 99 NATO. Das Scharfschützengewehr. Eine Zeiss-Optik 6-24 x 56 vervollkommnete das Gerät. Zufrieden ruhte Jacks Blick auf seinem Gewehr.
Jäh erhob er sich, nestelte aus seinem Mantel einen Glasschneider und schnitt ein 10 cm durchmessendes Loch in das Panzerglas des Hauses. Der rechten Innentasche entnahm er einen Windmesser, steckte ihn durch das neue Loch im Glas. Wind, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Abtrift. Wichtige Daten für einen Präzisionsschuss. Jack nahm sein Gewehr, stellte den Koffer neben den Tisch. Er klappte das Zweibein auf und stellte das Gewehr auf den Tisch. Trockenübungen. Gegenüber waren dutzende Leute mit der Vorbereitung auf eine Party beschäftigt. Die übliche Dekoration. Blau-weiß-rote Banderolen, schneeweiße Tischdecken auf den meterlangen Buffets, Luftballons, Luftschlangen, Goldflitter.“ Eine mächtige Party wird das werden. Oder auch nicht.“, dachte Jack. Und atmete durch.
Ein schneller Blick auf die Uhr. 14hundert. Reichlich Zeit. Er nahm Maß. Den Schaft fest an die Schulter gepresst. Das Zielfernrohr auf die Entfernung eingestellt. Probeweise das beleuchtete Absehen einschalten. Rot? Oder lieber Grün? Vielleicht gar keins. Bis 21 Uhr wäre noch reichlich Zeit und im November wird es früh dunkel. „Aber nicht in New York“, dachte Jack und nahm sich vor, das kurz vorher zu entscheiden.
Zeit für ein Schläfchen. Jack brauchte keinen Wecker. Er dachte intensiv an 20 Uhr und konnte sich darauf verlassen, dass seine innere Uhr präzise funktionieren würde. Er legte sich auf das schwülstige Ledersofa und schloss die Augen. Ließ die Geschichte Revue passieren. Einer der größten Fehler wäre es, Jack für dumm zu halten. Auch wenn ein gewisser Ghostface aus Germany den US-Amerikanern grundsätzlich jegliche kognitiven Fähigkeiten absprach. Aber um den würde man sich zu gegebener Zeit separat „kümmern“.
Jack dachte an die Geschichte der Staaten. Es gab bis heute 21 Anschläge auf gewählte, ehemalige oder amtierende Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Vier Präsidenten wurden direkt getötet. Abraham Lincoln, James A. Garfield, William McKinley und John F. Kennedy. Attentate wurden immer wieder versucht. Die beiden Roosevelts, Andrew Jackson, Ford, Carter, Reagan und ja, auch sein Urgroßvater Truman wurde Ziel eines Anschlages. Wirklich witzig war, als er seine Freundin kennen lernte. Claudia Hernandez. Eine Umweltaktivistin. Sie erklärte ihm, dass die reinen Attentate eine eigene Riege waren. Weil… weil die Namen der Attentäter: Richard Lawrence, Cipriano Ferrandini, John Schrank, Giuseppe Zangara, Oscar Collazo, Samuel Byck, Oswaldo Ortiz, Robert Pickett und wie sie nicht alle hießen, immer nur zwei Namen hatten. Die Attentäter der Präsidenten, die tatsächlich getötet wurden, waren: John Wilkes- Boothe, Charles James Guiteau, Leon Armando Czolgosz und Lee Harvey Oswald. Die Präsidentenmörder hatten alle drei Namen. Zufall? Jack dachte an seinen eigenen Namen. Jack Stephen Truman. Ein Präsidentenmörder? Konnte das sein? Durfte das sein?
Jack erinnerte sich an einen Nebensatz des Ausbilders in Fort Bragg. „Regel Nummer 1 bei Attentaten: Töte den Attentäter.“ Jack sprang auf. „Was, wenn… tief durchatmen, Junge. Ganz ruhig.“ Was, wenn Claudia Recht hatte? Es war um Jacks Ruhe geschehen. Er dachte nach. Ging zum Koffer, öffnete ihn. Was er sah, waren die acht großkalibrigen Patronen und den leeren Abdruck des Gewehres im Schaumstoff. Was mache ich eigentlich hier? Bin ich bekloppt?“, fragte er sich. Dann griff er instinktiv in den Schaumstoff und zog ihn aus dem Koffer. Jack atmete auf. Hatte er wirklich gedacht, da wäre eine Wanze oder etwas Ähnliches? Quatsch. Und doch ließ ihn der Gedanke nicht los. In der Einsatzbesprechung war nicht dargelegt, dass er hier fünf Stunden lang bleiben sollte. Entschlossen ging Jack zurück zum Tisch und klickte das Zielfernrohr von seinem Gewehr. Dann versicherte er sich, dass sein Schlüssel in der Tasche war, verließ das Apartment, ging zum Treppenhaus. Der Marine war fort. Gut so. Schnell die 55 Stufen hoch. Die Stahltür vorsichtig nur einen kleinen Spalt öffnen. Das Zielfernrohr nur bis zur Zarge, weil man es sonst sehen könnte. Gelände abtasten. Das Gebäude gegenüber. Jedes Stockwerk tastete er ab. Ergebnislos. Auf dem Dach allerdings, der kleine, kaum zu erkennende Strich, das könnte der Lauf eines Gewehres sein. Allerdings auch eine Antenne. Ob Jack wollte, oder nicht, er musste weiter sondieren. Oder nicht? Gäbe er sich jetzt auf dem Dach zu erkennen, gäbe er einen taktilen Vorteil auf. "Was nun, großer Häuptling Cochise?“, fragte er sich. "Wir brauchen reine Logik. Nichts anderes." Wenn man davon ausgehen würde, dass sein Auftrag allein das wäre, wofür er ausgebildet worden ist, bestünde keine Gefahr. Wenn es allerdings ein militärischer Eingriff in die politischen Strukturen wäre, egal aus welchen Motiven, dann dürfte das niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Die logische Konsequenz wäre ihn Jack Stephen Truman, verschwinden zu lassen. Was wäre wahrscheinlicher? Egal. Was wäre für ihn tödlicher?
Jack kniff die Augen zusammen. Es wäre wohl sehr viel gesünder, wenn er annähme, dass er ebenso im Zielkreuz eines Scharfschützen stünde, wie sein eigenes Ziel. Aber das ist Quatsch. Wie sollte man ihn hier treffen? Höchstens, verließe er das Gebäude. Das wäre der Zugriffspunkt. Das Problem war, dass, bliebe er stumpf hier, er schnell überrumpelt werden würde. Eine andere Richtung wäre, würde er einfach nicht schießen. Dann würde man Gründe finden, ihn unehrenhaft aus der Army zu entlassen oder, was wahrscheinlicher wäre, er würde bei einer Übung einen bedauerlichen Unfall erleiden, den er nicht überleben würde. Allmählich wurde Jack klar, in welch einem Schlamassel er steckte. Bei all seinen Überlegungen durfte er aber auf keinen Fall den Auftrag vergessen. Ehre, Gott, Korps, Vaterland. Und nun? Jack nahm eine der mächtigen Patronen zur Hand. Zwölfkommasieben Millimeter mal neunundneunzig. Kaliber 50. Absolut tödlich.
Jack setzte sich an den Tisch und lud sein Gewehr mit den acht Patronen. Aber er war nachdenklich. Hin und hergerissen zwischen Verschwörungstheorie und Realität. Verdammt! Seine innere Uhr hatte längst angeschlagen. Jack sah durch sein Zielfernrohr. Die Party kam in Schwung. Die Laune wurde alkoholischer, die Menschen ausgelassener. Jack beobachtete in einem Nebenraum, wie einige sich ein paar Lines in die Nase zogen. Am liebsten hätte er sofort abgedrückt. Jack hasst Drogen wie die Pest. Aber der Auftrag, der vermaledeite Auftrag. Er war Operator, er war Delta-Force-Soldat. Er war in gewisser Weise Gott. Er war Herr über Leben und Tod. Und jetzt sah er ihn.
Das Ziel. Groß, schwerfällig, plump und mit einem getünchten Fiffi auf dem Kopf. Jack nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Das wäre das Zünglein an der Waage. Würde der Fiffi-Mann gewinnen, wäre der Liquidierungsauftrag intakt. Verlöre er, würde Jack das Appartement sang-und-klanglos verlassen und direkt nach Fort Bragg fahren. 21 Uhr. Das Ergebnis. Jack wurde blass und presste seine .50 fest an die Schulter. Donald. Es ist Zeit.