Von Liebe war nie die Rede
Ein frischer Morgen im Frühsommer, es ist halb neun. Wie immer um diese Zeit sitzen sie am Holztisch der Wohnküche beim Frühstück. Die Tür zur Terrasse steht offen, das Gezwitscher der Vögel füllt das Schweigen zwischen ihnen. Sie sieht hinaus in den üppig blühenden Garten. Es hat viel geregnet in den letzten Wochen, das Grün ist förmlich explodiert. In letzter Zeit kommt sie kaum noch mit der Gartenarbeit hinterher. Er stellt das Radio an, kommt zurück an den Tisch. Setzt sich umständlich und beginnt, Brombeermarmelade auf seinem Brötchen zu verteilen. Seine Bewegungen sind bedächtig und akkurat, wie sie es von ihm kennt. Sie essen schweigend.
Klassikradio bringt heute Vivaldis Vier Jahreszeiten, natürlich den Sommer. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee, blickt über den Rand der Tasse zu ihm hinüber. Da ist er wieder, diese abwesende Ausdruck in seinen Augen, als sei er in einer anderen Galaxie, Lichtjahre von ihr entfernt.
„Ich geh dann mal mit dem Hund,“ sagt er mehr zu sich selbst, die Augen noch immer auf den Frühstücksteller gerichtet. Geschäftig steht er auf, stellt Tassen und Teller zusammen, schichtet das Besteck oben auf und trägt alles zur Spülmaschine. Als er die Küche verläßt, scheint er ihre Anwesenheit schon vergessen zu haben.
Sie atmet tief durch, nippt an ihrem Tee. Der letzte Schluck ist kalt und bitter. Sie hört ihn im Flur hantieren, sieht vor sich, wie er die Jacke anzieht und die Leine von der Konsole nimmt. Zögernd folgt sie ihm, bleibt im Türrahmen stehen. Er kniet auf dem Boden, bindet sich mit energischen Handgriffen die Sportschuhe zu. Die Arme vor der Brust verschränkt, sieht sie zu ihm hinab. Er hat immer noch zuviel Energie, denkt sie, und er weiß nicht, wohin damit.
Sein Haar ist schütter geworden im letzten Jahr. Ein Ächzen entfährt ihm, als er sich wieder aufrichtet. Jetzt lächelte er sie an, streicht mit der Hand über ihre Wange.
“Alles in Ordnung, Schatz?“
Das fragst du mich?!
Sie denkt es nur, sie sagt es nicht. Ihre rechtes Augenlid beginnt zu zucken.
Wenn jemand einen Grund hat, das zu fragen, bin ich es!
Doch sie nickt, und unterdrückt den Impuls, seine Hand abzuschütteln.
Er pfeift nach dem Hund. Der kleine Rauhhaardackel kommt auf krummen Beinen aus dem Garten gerannt und springt an seinem Bein hoch.
„Ja, mein Guter, jetzt geht’s hinaus in die große Freiheit!“ Er beugt sich hinunter, krault den runden Bauch des Hundes. „Da draußen darfst du die ganz großen Katzen jagen!“
Unbeweglich steht sie da, beobachtet Mann und Hund. Der bittere Geschmack in ihrem Mund intensiviert sich. Wann hat er sie zuletzt zärtlich berührt?
Er klickt die Leine an das Halsband, dreht sich noch einmal zu ihr um. Mit einem gewollt schelmischem Blick beugt er sich vor, um sie zu küssen. Seine Lippen landen knapp neben ihrem Mund, die Berührung ist kurz und trocken. Und wieder dieses angestrengte Lächeln. Es tut ihr in der Seele weh. Wie lange kann und will sie dieses Schauspiel noch mit ansehen?
Erst vor zwei Tagen, abends beim Italiener, hat sie ihn noch einmal ganz direkt gefragt. Das ist sonst nicht ihre Art, sie insistiert selten.
„Es ist wichtig, dass wir endlich offen miteinander reden. Sei doch bitte dieses Mal ehrlich zu mir.“
Er zieht sich, elegant wie immer, aus der Affäre:
„Darüber haben wir schon gesprochen. Du weißt doch, dass mir gerade vieles durch den Kopf geht. Seit ich aufgehört habe, zu arbeiten, muss ich mich um so viele Dinge kümmern, muss neu planen und organisieren. Können wir es nicht endlich dabei bewenden lassen?“
Sein Ton ist sachlich und freundlich, von einer Endgültigkeit, die sie fast wütend macht. Sie sieht seinen leeren Blick, die Müdigkeit in seinen Zügen. Fast hat sie Mitleid mit ihm, aber nur fast.
„Ich glaube dir nicht. Ich spüre, nein, ich weiß, dass da etwas ist, was du mir nicht sagen willst. Es vergiftet mehr und mehr die Atmosphäre zwischen uns.“
Er seufzt, tupft sich mit der Serviette über den Mund. Schiebt den Teller ein Stück von sich und lehnt sich zurück, die Hände über seinem Bauch gefaltet.
„Du weißt doch, was wir vereinbart haben: dass wir über derartige Dinge nicht mehr reden. Das müssen wir auch nicht, weil es in dieser Hinsicht absolut nichts zu besprechen gibt.“
Sein Lächeln könnte gütig und geduldig wirken, wäre da nicht dieser undurchdringliche Blick. Er spricht mit ihr, als sei sie seine Tochter. Als sei sie ein ängstliches Kind, das er davon überzeugen muss, dass es im Wandschrank keine Monster gibt.
In diesem Moment weiß sie, dass er wohl nie darüber sprechen wird, und dass er das schon lange so entschieden hat. Sie weiß auch, dass er nie ihre Ehe in Frage gestellt hat, egal, was passiert ist.
Doch das ist ihr kein Trost. Seit viel zu langer Zeit schon sind sie zu dritt.
Die unsichtbare Dritte ist seit Monaten präsent in ihrem gemeinsamen Alltag, beeinflusst seine Stimmungen und seine Tagesform. Hat sich in seinem Kopf, seinen Genitalien und in seinem Herzen eingenistet. Selbst wenn er, wie sie vermutet, diese Geschichte vor kurzem beendet hat: Ein Teil von ihm ist mit ihr verschwunden.
Mit der Leine in der Hand, tritt er aus der Tür und entfernt sich mit schnellen Schritten vom Haus. Ein überwältigender Fluchtreflex ergreift ihn. Er muss sich zwingen, langsamer zu gehen. Vielleicht steht sie ja noch am Fenster und sieht sie ihm nach.
Gemäßigten Schrittes geht er Richtung Wald, der Hund springt vor ihm her. Als er längst außer Sichtweite ist, wird er langsamer, bleibt schließlich stehen. Sein Puls ist immer noch viel zu schnell. Auf der Lichtung vor dem Wäldchen setzt er sich auf eine Holzbank. Unter seinen Lidern pochen heiße, schwere Tränen. Er zwinkert ein paar Mal heftig, unterbindet vehement den Schmerz.
Nein, er würde nie darüber sprechen. Warum auch, die Sache war beendet, aus und vorbei.
Er hatte sich verboten, noch länger deswegen zu leiden. Er würde auch nicht mehr weinen, keine einzige verdammte Träne mehr. Von Anfang an hatte er gewusst, dass es irgendwann enden musste:
Die Zeit der Schmetterlinge war unwiderruflich vorbei.
Und von Liebe war natürlich nie die Rede.
(C) IntoTheWild63, 07.07.2016