Die Königin vom Westend
Marilyn Monroe ist gar nicht tot. Sie nennt sich jetzt Josefine und lebt in einem Altersheim im vornehmen Westen der Stadt. Dieses Jahr wird sie ihren neunzigsten Geburtstag feiern. Bei ihrem Alter zumindest hat sie also nicht geschummelt, wie man vielleicht erwartet hätte.
Noch immer hat sie diesen unnachahmlichen Blick aus himmelblauen Augen. Niemand kann wie sie so kokett den Kopf neigen, um dir dann im nächsten Moment huldvoll und anmutig die rechte Hand zu reichen, natürlich in Erwartung eines standesgemäßen Handkusses.
Wie es sich für eine Grande Dame gehört, erwartet Josefine viel Aufmerksamkeit von denjenigen, die sie umgeben und die ihr selbstverständlich zu Diensten sein sollten. Sie geht dabei soweit, dies auch lautstark einzufordern, indem sie vehement und ausdauernd mit reich beringten Händen auf den Tisch schlägt. Gewohnt, zu bestimmen, kann sie bei Ungehorsam ihres Gegenübers durchaus beleidigend werden.
Beim Anblick von Männern jedoch, egal, welchen Alters, mutiert Josefine schlagartig zur Femme Fatale. Zwar ist ihr Körper gebeugt und von Narben geprägt, ihr Gang mittlerweile unsicher.
Doch die Grandezza ihres Lächelns und ihrer Gesten ziehen fast jeden in ihren Bann.
Darüber hinaus hat Josefine eine sehr spezielle Art, sich auszudrücken. Jedes Wort wird betont, als habe alles, was sie sagt, eine besondere Bedeutung. Als sei jedes ihrer Worte eine Perle, eine ganz besondere Darbietung an ein meist leider unwürdiges Publikum.
Ihr Gedächtnis hat zwar stark nachgelassen und manche Worte entfallen ihr, noch bevor sie den Satz zu Ende sprechen kann. Trotz dieser Einschränkung ist Josefine gesegnet mit einer provokanten Schlagfertigkeit, die so manche Pflegekraft sprachlos erstarren lässt.
An diesem Morgen schläft „Ihre Majestät“ noch tief und fest. Ab und zu entfährt ihrem Mund ein leises Scharchen. Das helle Haar umgibt ihren Kopf wie eine fedrige Wolke, das Spitzennachhemd zeigt mehr, als es verhüllt.
Während ich die Vorhänge öffne, singe ich ein Lied für sie, das ich ihr zu Ehren umgetextet habe:
„Josefine, Josefine, oh du meine eine Liebe! Josefine, Josefine: Du bist so schön!“
Sie lächelt, noch bevor sie die Augen aufschlägt.
„Komm, Liebe, Zeit zum Aufstehen! Magst du mit mir einen Kaffee trinken gehen?“
Sie streckt die Arme nach mir aus, um sich aufhelfen zu lassen. Am Bettrand sitzend, reibt sie sich schlaftrunken die Augen und sieht mir schweigend dabei zu, wie ich vor ihr knieend, ihr Socken und Schuhe anziehe.
Als sie endlich anfängt, zu sprechen, ist ihr Ton ernst und bedeutungsvoll.
„Mit mir stimmt etwas nicht.“
Noch kämpfe ich mit ihren Schuhen, nestle am Verschluss, der sich wieder einmal verhakt hat.
„Was genau meinst du damit, Josefine?“
Sie macht eine Kunstpause, erwidert meinen fragenden Blick.
„Ich habe eine Bewusstseinsstörung.“
Ich stutze und halte in meiner Bewegung inne, kann kaum glauben, was ich da soeben gehört habe. Fast muss ich grinsen, verkneife es mir jedoch. Wo hat sie dieses Wort nur aufgeschnappt? Ich bin mir sicher, dass weder ich noch eine meiner Kolleginnen in ihrer Gegenwart solche Fachausdrücke benutzen.
„Aha, verstehe... sag mal, wie fühlt sich sowas an?“
Sie seufzt und sucht nach Worten. Ihre Unterlippe zittert.
„Manchmal bin ich so dumm im Kopf, und dann schäme ich mich so.“
Ich stehe auf und helfe ihr auf die Beine. Streiche besänftigend über ihren Arm.
„Ja, das verstehe ich. Aber es geht uns allen manchmal so, liebe Josefine.“
Ich hake sie unter und gehe langsam mit ihr ins Bad.
Sie schwankt ein bißchen und lehnt den Kopf an meine Schulter.
„Ach, du bist lieb. Das sagst du doch nur so.“
„Nein, das meine ich auch so. Und immerhin hast du das bemerkt. Das kann nun wirklich nicht jeder von sich behaupten, weißt du?“
Sie nickt und drückt meinen Arm.
Im Bad thront Madame vor dem Spiegel am Waschbecken. Sie überläßt mir die Körperpflege, spart dabei aber nicht mit Anweisungen:
„Das Wasser ist viel zu kalt!“
„Und jetzt die Creme, bitte schön.“
Das war keine Bitte, das war ein Befehl.
„Und wo ist eigentlich meine Perlenkette?!“
„Lass mich dir zuerst den Rücken waschen, liebe Josefine, ja? Alles der Reihe nach.“
Sie verdreht dramatisch die Augen. Lässt dann die Arme schlaff hängen, als würde sie gleich einer Ohnmacht erliegen.
„Kannst du dich bitte gerade hinsetzen? Und mir vielleicht ein wenig behilflich sein?“
Sie ignoriert mich und wischt unwillig Spuren der Gesichtscreme von ihrer Wange.
Ich greife über sie hinweg nach der Bodylotion, drehe ihr dabei halb den Rücken zu.
Kaum habe ich sie einen Moment aus den Augen gelassen, spüre ich auch schon ihre Hände auf meinem Po. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehe ich mich zu ihr um.
„Josefine, was soll das werden?“
Sie spitzt den Mund zu einem Kuss und grinst, gibt mir aber keine Antwort.
Unsere Augen treffen sich im Spiegel. Ich lenke ein und zwinkere ihr verschwörerisch zu:
„Du weißt schon, dass das nur mein Liebhaber darf?“
Ihre Augen funkeln, als sie mit zuckersüßer Stimme sagt:
„Aber natürlich weiß ich das. Darum reizt es mich ja gerade.“
Ihr Lächeln ist einfach unwiderstehlich. Gelernt ist halt gelernt.
(C) IntoTheWild63