Aphrodisika
Heute ist mir furchtbar langweilig.
Ich habe frei, muss niemanden erwecken, keinem neue Kraft geben, in niemandes Haut schlüpfen, um ihn kraftvoll und energiestrotzend wirken zu lassen.
Also fliege ich so herum.
Durchstreife die Lüfte, stecke den Kopf in die Wolken, umkreise die Sonne, spiele Fangen mit dem Wind.
Doch dann sinke ich herab, schwebe sanft über der Erde dahin. Mein körperloses Wesen erlaubt mir, einfach gerade aus zu gleiten, durch alles hindurch, was sich mir in den Weg stellt.
Da, eine
Fußgängerzone: ich fliege hindurch, beobachte die Menschen.
So manchen streife ich dabei, durchziehe im Hindurchschweben seinen Körper. Es ist lustig, wie die Betreffenden in diesem Augenblick die Energie in sich fühlen, wie ihnen das Glänzen in die Augen steigt, wie sie schlagartig erotische Gefühle in sich aufsteigen fühlen, wie ihre Blicke auf einmal abschätzend über die Menschen um sie herum huschen.
Mich zu berühren, von mir durchdrungen zu werden, heißt Lust zu bekommen, sexuelle Energie zu verspüren, ausgefüllt zu sein von Kraft, Energie, Tatendrang.
Und jene, die ich nun in dieser belebten Fußgängerzone zufällig streife, verspüren für eine kurze Sekunde genau dies.
Selbst können sie es sich nicht erklären - später werden sie sagen, sie hätten eine schmutzige Phantasie, die sich zuweilen wie von selbst meldet, wenn sie gerade nicht damit rechnen.
Wenn sie nur wüssten...
Ich verlasse die Fußgängerzone, schwebe durch ein offenes Fenster in ein Haus. Unten vor der Tür sah ich gerade einen gut gekleideten Mann aus dem Auto steigen; in den Händen trägt er eine Flasche
Rotwein (soweit ich erkennen konnte, einen teuren, guten Wein) und eine Papiertüte, aus der einige Stangen knusprigen
Weißbrots ragen. Sah aus, als sei ein Abend mit Gaumenfreuden geplant...
Nun hänge ich hier in einer Wohnung unter der ordentlich weiß gestrichenen Decke herum und beobachte etwas verblüfft, was sich unter mir abspielt. Da steht eine Frau im Flur, direkt vor der weißen Wohnungstür, von der bereits teilweise der Lack absplittert. Sie scheint aufgebracht zu sein, und sie tut etwas, das mich interessiert näher schweben und zugegeben etwas ratlos hinsehen lässt: über ihrem Kopf hält sie eine große, massive
Bratpfanne in die Luft. Den Griff umfasst sie fest mit beiden Händen - ihre Fingerknöchel treten weiß hervor, und auch der Rest ihres doch recht ansehnlichen Körpers scheint enorm unter Spannung zu stehen; sie zittert ein wenig, und ihr Gesicht hat sie zu einer bösen Grimasse verzogen.
Da - von außen wird ein Schlüssel ins Schloss der Tür gesteckt und umgedreht, ich höre Papier rascheln und eine tiefe männliche Stimme, die durch den sich öffnenden Türspalt ruft: "Schatz, ich bin zuhause!".
Die Tür öffnet sich, und nun geht alles sehr schnell:
Der Mann mit dem Wein und dem Weißbrot schiebt sich herein, erblickt die Frau, bleibt wie erstarrt stehen.
Seine Augen weiten sich, sein Mund klappt auf, und ich ahne, was gleich geschehen wird.
Bevor sie ihm in ihrem unerklärlichen Zorn die schwere gusseiserne Bratpfanne mit den winzigen Kratzern am Rand über das Hirn ziehen kann, lasse ich mich blitzschnell herabsinken und fahre in sie hinein.
Puh, ich war noch rechtzeitig - sie reißt für einen Moment die Augen auf, stößt wild die Luft aus, und schließlich lässt sie die Bratpfanne sinken. Noch immer steht er, mit Rotwein und Weißbrot in seinen zitternden Händen, vor ihr und begreift kaum, was geschieht.
Sie jedoch schmeißt schwungvoll die Bratpfanne in die Ecke, schließt mit einem festen Tritt die Wohnungstür und fällt ihm leidenschaftlich um den Hals.
"Mein Schatz, ich habe Dich so vermisst! Gerade war ich noch wütend, denn Du hast mich betrogen und belogen, erzählst mir jeden Freitag, Du gingest mit Deinem alten Schulfreund zum Squashspielen - dabei habe ich soeben Video-Aufzeichnungen im
Webcam-Archiv auf Deinem Laptop entdeckt, die mir gezeigt haben, welcher Art Euer Squash-Spiel ist. Ich war enttäuscht, traurig, entsetzt - warum hast Du mir nie gesagt, dass Ihr in Wirklichkeit halterlose Strümpfe, halb durchsichtige Dessous und High-Heels tragt und daran Spaß habt? Ich würde doch zu gern dabei zusehen...!"
Er ist verblüfft, versteht noch nicht so ganz ihren plötzlichen Sinneswandel, doch so ist es immer, wenn Meinesgleichen spontan in einen Menschen fahren und seine Stimmung schlagartig vom Streit ins Erotische umlenken.
Erleichtert darüber, dass meine Mühen nicht vergeblich waren, werfe ich noch einen schnellen Blick auf die beiden, die sich soeben in wilder Verzückung die Kleider vom Leib reißen, dabei Schritt für Schritt dem Schlafzimmer näher kommen und mit feurigen Augen heiße Liebesschwüre herausstoßen, und schwebe schließlich leicht wie eine Feder zum offenen Fenster wieder auf die Straße hinaus.
Ich streife so die Straße entlang, fliege durch einen engmaschigen Zaun (ich liebe es, die engen Drahtmaschen leicht durch mich hindurchgleiten zu spüren) und finde mich auf einem alten
Schrottplatz wieder.
Aufmerksam sehe ich mich um, während ich darüber hinweg gleite.
Doch hier gibt es nichts Besonderes zu entdecken - nur zwei halbwüchsige Jungen mit verdreckten Hosen, die sich mit billigen Plastik-
PumpGuns ein Jagd-und-Schieß-Spiel liefern. Ich höre sie noch laut "Baaaammmmm!!!" schreien, während sie hintereinander her laufend und über Schrottberge kletternd so tun, als könnten ihre Plastik-Spielzeuge tatsächlich feuern.
So langsam werde ich müde.
Ich mache mich leicht, steige wieder auf Richtung Wolken.
Dort oben ist mein Zuhause; ich werde mich auf eine Wolke legen und mich ausruhen, bis morgen früh meine nächste Schicht beginnt.
Seufzend denke ich daran, dass ich doch heute frei hatte - und dennoch hab ich auf ein Neues meine Fähigkeiten eingesetzt, um jene Frau zu lenken. Die Menschen sind anstrengend.
Keiner von ihnen besitzt eine allein und selbstständig funktionierende erotische Phantasie!
Sie alle brauchen in gewissen Momenten die Hilfe der Liebesgeister. Geister wie ich haben einzig die Aufgabe, Menschen in den entsprechenden Situationen erotisch zu beseelen.
Mit diesen Gedanken schwebe ich durch das wolkige Tor meiner Wohn- und Arbeitsstätte, auf dem ein Schild prangt mit den Worten "Menschen-Lenk-Stätte, Sektion 6: Erotik und Verlangen".
Genau diese Worte stehen auch auf meiner
Visitenkarte, genau unter meinem Namen:
Miss Aphrodisiaka
Gefühlsbringerin