Notwehr
NotwehrIch hatte ein Essen gemacht. Reis aus China, Tofu aus Afrika und Bambussprossen aus Indien. Die Paprika aus dem sicheren Spanien und Kartoffeln aus Russland. Hierzulande waren Grundnahrungsmittel ja kaum noch zu bekommen. Es sollte wie eine normale Einladung zum Abendessen aussehen, wenn mein alter UN-Kampfgenosse Umberto die Lieferung brachte. Ich hatte ihn angewiesen, sein Auto direkt in die Scheune zu fahren, damit wir die Ware sofort im nutzlosen Heu verstecken konnten. Seit wir kein Vieh mehr auf dem Hof halten konnten, standen die Ställe leer und das Heu zerfiel mehr und mehr zu Staub. Das Futtersilo hatte ich mit einigen technischen Raffinessen zur Biogasanlage umgebaut. Wenigstens konnte ich so mit der Stromerzeugung ein paar Kröten dazu verdienen, aber da das mittlerweile jeder Bauer machte und Gärmaterial aus tierischen Abfällen rar geworden war, sprang nicht viel dabei heraus.
„Du musst mir das erklären, was hier bei euch abgeht“, fragte Umberto neugierig, nachdem wir die Kisten im Heu verstaut hatten. „Ich meine, zwei Schnellfeuergewehre, zwei Jagdgewehre, ein Luftgewehr, zwei Uzis, und das alles mit Schalldämpfern. Massenweise Munition. Was hast du vor? Willst du eine kleine Privatarmee aufstellen?“ schmunzelte er frech.
„Erst mal muss ich dir danken, das du die Waffen beschaffen konntest. Ich weiß nicht, wie du das machst und will nichts über deine Mafia-Connections wissen. Du bist meine Rettung!“
Wir setzten uns an den alten Eichentisch. Rustikal, robust und ausladend lang. Fast so alt der wie der gesamte Bauernhof, den meine Familie seit Generationen, weit abgelegen und freistehend in der Eifel bewirtschaftete. Ich war der letzte Erbe des gesamten Guts. Wir hockten vor dem dampfenden Essen, Umberto hatte einen italienischen Rotwein mitgebracht, den wir uns zum Essen einschenkten.
„Mein lieber Umberto, das ist eine lange Geschichte. Wahrscheinlich bekommt ihr auf Sizilien nicht viel davon mit, die Nachrichtensperre scheint gut zu funktionieren. Vor drei Jahren kam diese radikale Partei an die Macht. Sie wetterten gegen alles: Die Ausländer, die Asylanten, die Linken, die Gutmenschen, den Euro, das gesamte Europa, die schwache Vorgängerregierung der großen Koalition. Um den Sieg zu erreichen, machten sie sich bei einer großen Bevölkerungsgruppe beliebt: Den Tierschützern und Vegetariern!“
Umberto stutze: „Vegetarier? Tentar non nuoce. Was ist an denen so gefährlich?“
Ich schnaubte wütend: „Eigentlich nichts. Außer das sie ihre Theorien nie zu Ende gedacht hatten.“
„Jedenfalls...“, fuhr ich nach einem Schluck Wein weiter, „es war wie eine Revolution. Die Radikalen kamen an die Macht und strenge Ernährungs- und Landwirtschaftsgesetze wurden erlassen. Zuerst verboten sie den Moslems und Juden das Schächten. Später weitete sich die restriktive Politik aus. Das Ergebnis: Sie befreiten das gesamte Schlachtvieh und trieben es in die Freiheit. Kühe, Schweine, Hühner, Puten, Ziegen, Schafe und was man sonst noch essen kann oder tierische Erzeugnisse bringt. Innerhalb kürzester Zeit brach das Chaos aus. Hausschweine kreuzten sich mit Wildschweinen, Rinder mit Dammwild und Hühner wurden binnen kürzester Zeit wahnsinnig und rupften sich gegenseitig Federn und Augen aus. Niemand tat etwas dagegen, denn die Jagd wurde ja auch verboten. Jäger waren zu teuren Jagdreisen auf fernen Kontinenten gezwungen, obwohl hier jede Kugel nützlich gewesen wäre. Viehwirte wanderten aus oder suchten ihr Auskommen in anderen landwirtschaftlichen Zweigen. Was sich aber zunehmenden schwieriger gestaltete...“
„Porca miseria, das hört sich ziemlich verrückt an!“, rief Umberto in seinem lauten Italienisch aus, „Cin Cin, mio amico – ich dachte immer, die Deutschen wären ein vernünftiges Volk!“
„Ja, das sind sie – solange sie nicht von Ideologien verblendet und Demagogen geführt werden. Es gab ja schon mal einen Vegetarier, der das Land ins Verderben stürzte.“
„Sì, du meinst den Freund vom Duce mit der komischen Rotzbremse im Gesicht!“
Wir lachten trotz meiner offensichtlichen Verzweiflung und Umberto zauberte noch eine Flasche Roten aus seinem Rucksack. Wir räumten das Essen vom Tisch und füllten die Gläser auf. Ich spendierte eine Runde Zigarillos, die wir genüsslich dazu pafften.
„Auch so eine Sache. In keiner Kneipe darf mehr geraucht werden. Warum stehen ständig irgendwelche Idioten auf, um mit ihrer Weltanschauung die Freiheit andere einzuschränken? Wenigstens kann mir das in meiner eigenen Hütte niemand verbieten!“, sagte ich trotzig.
„Warum verkaufst du nicht alles und kommst zu mir nach Italien? Ich könnte noch einen fleißigen Mann für meine Tomatenfarm gebrauchen – und noch einige andere Geschäfte.“
Ich runzelte die Stirn: „Ich denke darüber nach, Umberto. Aber dies hier ist meine Heimat, Tradition, Lebenswerk. Verstehst du?“
„Du kannst es dir überlegen. Bei uns ist ja auch nicht alles picco bello, aber wenigstens darf ich noch meine Hühner schlachten und rauchen und trinken, wann und wo ich will.“
Umberto machte eine Pause und zog genüsslich den Rauch ein:
„Aber sag mir, was hast du nun vor? Wirst Du jetzt ein Bracconiere, ein Wilderer?“
„Rein gesetzlich und wenn sie mich erwischen sollten, wird man das wohl so nennen. Wobei diese Verrückten so einen Fall wahrscheinlich wie einen Massenmörder behandeln. Ich nenne es Notwehr!“
Wir redeten noch lange und tranken noch mehr Flaschen. Umberto hatte noch viele Fragen. Wie der Staat das alles vertuschen konnte. Warum er keine wild gewordenen Kühe auf den Straßen gesehen hatte. Es gab viel zu erklären und dabei wurde mir selbst immer bewusster, wie absurd die ganze Situationen war. Aber morgen Nacht würde ich mich wehren.
Sie kamen nur in der Dunkelheit und fielen über die Felder her. Es gab eine Ausgangssperre ab 20.00 Uhr für alle Bürger. Man hatte uns was von einer terroristischen Bedrohung erzählt. Die Wahrheit war, dass man die fehlgeschlagene Politik der Tierbefreiung vertuschen wollte. Getreide und Gemüse wurde importiert, weil eine Erzeugung auf heimischen Böden nicht mehr möglich war. Weite Landstriche wurden gesperrt, weil sie verseucht waren mit Keimen und Bakterien des ausgearteten Geflügels. Horden von Schweinen, seltsam durchmischte Formen, die wirkten wie kleine Steinzeitmonster, fraßen in einer Nacht ein komplettes Maisfeld leer. Kühe grasten sich gemütlich durch Industriebrachen und Heidelandschaften. Sie litten unter ihren prall gefüllten Eutern, viele platzten und brachten das Vieh damit um, wenn sie sich nicht durch säugende Kälber – oder andere Tiere – retten konnten, oder sich ein paar mutige Menschen erbarmten, die Viecher nachts zu melken – soweit sie genug Fachkenntnisse dafür hatten. Tagsüber zogen sich die Tiere in den Wald zurück oder versteckten sich an anderen, menschenleeren Orten. Einige kehrten auch in ihre vertrauten Ställe zurück auf Höfen, wo kein Mensch mehr wohnte. Sie spürten den Hass der Menschen und gingen ihnen aus dem Weg. Wie schnell doch übertriebene Liebe in Hass umschlagen kann.
Ich werde meine Felder verteidigen. Ich will wieder meinen eigenen Weizen und mein eigenes Gemüse anbauen. Erst mal nur für mich. Vielleicht würde ich weitere, mutige Verbündete finden – und natürlich hatte ich tierische Lust auf ein frisches, saftiges Steak!
„Ab heute Nacht, 21.00 Uhr wird zurück geschossen!“, lachte ich bitter in mich hinein und lud die Waffen durch.