Extrablatt!
Die Vorgaben für dieses Spiel mit Worten sind (noch ,-) die folgenden 8 Begriffe: Privatsekretär, Höhenangst, Größenwahn, spielen, atemberaubend, Lokalkolorit, unklar und Schweinebraten.
Diesmal zappelten sie sich zurecht zu einer Erinnerung an einen bemerkenswerten Menschen und Meister des treffenden Wortes.
Extrablatt!
Er war erstaunlich mild als der „rasende Reporter” Egon Erwin Kisch in einem für seinen Ruf erstaunlichen Schneckentempo über die Canal Street in Lower Manhattan schlenderte. Es war der 30. Dezember 1939 und er hatte tagelang auf Ellis Island auf sein Durchreisevisum gewartet. Vor zwei Tagen hatte er es endlich bekommen und hatte nun erstmal Luft.
Aus der Orchard Street strömten Juden mit ihren hohen Hüten und langen Gehröcken und traten ihm wie eine dunkle Phalanx entgegen, die Korkenzieherlocken an ihren Schläfen hüpften und schienen fast höhnisch zu rufen: Zeit ist Geld! Kisch dagegen verlangsamte seinen Schritt sogar noch und hob sein Gesicht in die Wärme der Wintersonne.
Die Ungewissheit seiner Zukunft setzte ihm zu, aber viel mehr noch die Tatsache, dass ihn keine Nachricht erreichte und völlig unklar war, ob seiner Frau die Flucht nach Spanien inzwischen gelungen war und sie eine Überfahrt und Einreisegenehmigung bekäme. Im Gegensatz zu vielen anderen, unterschätzte Kisch Hitlers Größenwahn keineswegs, und er rechnete nicht erst seit dem Überfall auf Polen mit einer zügigen Verschlimmerung der Lage in Europa. Doch nun sog er den Duft der Freiheit ein, nahm einen tiefen Atemzug, lächelte und dachte: „Wie süßlich sie riecht... Nach Benzin und dem Hefeteig der Bagels.”
1928 hatte er schon einmal versucht, ein Visum für die USA zu bekommen, aber selbst der Ruhm, den er sich als Berichterstatter des Ersten Weltkrieges und als investigativer Journalist während der Weimarer Republik erworben hatte, reichten nicht aus, ihm ein Visum zuzugestehen, ganz im Gegenteil. Ihm war als sozialkritischer Geist und Mitglied der Kommunistischen Partei nichts anderes übrig geblieben, als seine erste mehrmonatige Reise kreuz und quer durch die USA unter dem Decknamen Dr. Becker zu unternehmen.
Als Kisch den Erfahrungsbericht dieser Reise 1930 in Berlin als Reportageband veröffentlichte, gab er ihm nicht ohne Grund den ironischen Titel „Paradies Amerika”, denn es war eine Bestandsaufnahme, die die Widersprüchlichkeit der USA aufzeigte: einerseits großartig, visionär, ein Land mit sprichwörtlich „unbegrenzten Möglichkeiten”, aber andererseits eben auch geprägt von einem zum Teil erschütternden sozialen Gefälle und Repression.Daran dachte Kisch als er die Canal Street überquerte, die Hände in die Taschen bohrte und die Papiere fühlte, die in seiner viel zu dünnen Jacke steckten.
Die „Canal” markierte das südliche Ende von Little Italy und des jüdischen Viertels an der Lower East Side rund um die Orchard Street. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite begann schon Chinatown und Kisch betrat nun den Bürgersteig, an dem dicht an dicht die kleinen Läden chinesischer Händler die Straße säumten. Er traute seinen Augen kaum... Ein so abrupter Wechsel des Lokalkolorits und das Aufeinanderprallen gleich dreier Kulturen, die gegensätzlicher kaum hätten sein können! „Atemberaubend, diese Stadt.” dachte er. „Zum Anbeten in ihrer Vielfalt und hassenswert ob ihrer Gleichgültigkeit dem Einzelnen gegenüber.” Er pfiff leise vor sich hin und es war ihm nicht bewußt, dass es die Melodie von Bing Crosbys „Pennies from Heaven” war.
Schon nach wenigen Schritten tauchte er ein in eine Wolke unverständlicher Sprachfetzen und seltsamer Gerüche, wich dem hektischen Treiben und einem Mann mit einer Sackkarre voller Spitzkohl aus und stieß mit dem Kopf gegen einen roten Lampion mit einem schwarzen Drachen. Er hielt inne und betrachtete den Drachen für einen Moment irritert, denn er hatte etwas Martialisches.
Er erinnerte ihn an eine agitatorisch meisterliche Karikatur einer Flak, eine sogenannte Acht-Achter, die der Künstler und Karikaturist George Grosz, der wie er in Berlin auch für die Tageszeitung „Die rote Fahne” gearbeitet hatte, als eine der letzten für die Zeitung zeichnete, bevor sie 1933 verboten wurde und Kisch Deutschland Hals über Kopf verlassen musste. Kisch dachte voller Wehmut an seine verlorene geistige Heimat und an Grosz.
Wie oft hatte er den Freund komplett betrunken im „Tattersall” am S-Bahn-Bogen Savignyplatz in Charlottenburg aufgesammelt und quer über den Platz zur Nr. 5 und in seine Koje geschleift! Er mochte den unbestechlichen Helden an der Tuschefeder und vermisste ihn. Seine Glubschaugen, die so neugierig wie unstet umherirrten ebenso wie seine graue Hose, an der die goldene Uhrkette meist genauso verdreht war wie er selbst.
Kisch kam ein wenig aus dem Tritt. Einige Frauen stritten sich lautstark trotz ihrer piepshellen Stimmen und er kam weder durch noch vorbei an den aufgeregten, die mit ihren schwarzen Schöpfen über Kitteln mit exotischen Mustern, den ohnehin geringen verbliebenen Raum auf dem Bürgersteig blockierten. Plötzlich stieg ihm ein vertrauter Geruch in die Nase... Es roch gar köstlich nach Gebratenem. Kisch sah Lottes Gesicht vor sich, wie sie an ihrem letzten gemeinsamen Sonntag am Küchentisch in ihrer Wohnung am Savigny Platz 11 satt und glücklich zusammen saßen und sein Blick wurde dunkel wie die Soße zum Schweinsbraten, den Lotte deftig zu würzen pflegte und den er so liebte.
Er folgte seiner Nase, duckte sich, betrat das schmale Lokal und warf einen Blick in die Garküche. Er hatte noch Zeit. Dem Verleger Knopf hatte er sich erst in über einer Stunde angekündigt und er würde nur wenige Minuten brauchen, um zu Fuss dorthin zu gelangen.
Kisch stellte sich an, es war viel los um diese Uhrzeit, und als er schließlich an der Reihe war, deutete er auf ein Gericht, das vom Holzspatel des Kochs mit einer fast akrobatischen Behendheit beständig in Bewegung gehalten und daran gehindert wurde, über den Rand des eisernen Woks der Fliehkraft die Ehre zu erweisen.
Mit einer dampfenden Schale in der Hand, sah Kisch sich hilfesuchend um, die Tischboxen des schlauchförmigen Gastraums waren jedoch alle besetzt. Ein hutzeliger Chinese im Blaumann winkte mit knapper Geste, rutschte auch schon ein Stück auf der Bank nach innen und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Sofort wurden von einer zierlichen Gestalt die Schüsseln abgeräumt, die sich am Tischende stapelten, denn in der Mitte war ebenfalls kein Platz: dort war ein Mah-Jongg in vollem Gange, wie eigentlich auf jedem Tisch.
Kisch aß mit Heißhunger, trank ab und an einen Schluck Tee und schaute fasziniert zu. Vier der sieben Chinesen an seinem Tisch spielten konzentriert und mit ganzem Einsatz: ihre Hände flogen nur so durch die Luft, sie riefen Werte und Bilder auf und warfen reihum die zwei weißen Würfel mit der roten Eins und der roten Vier. Die anderen drei gestikulierten und kommentierten fleißig mit und schienen ebenfalls ganz bei der Sache zu sein.
Auf dem Tisch waren 152 flache, etwa bonbongroße Quader im Spiel, die zum größten Teil zu einer Miniaturmauer aufgeschichtet waren, die ein Quadrat aus 17 Quadern je Seite und zwei in der Höhe auf dem Tisch bildeten. Kisch wusste, dass dieses Quadrat den Himmel symbolisierte und jeder der vier Spieler einen der Winde. Ostwind war gerade am Zug und Westwind rief etwas dazwischen, was einige Umschichtungen am „lebenden” Ende der Mauer zur Folge hatte.
Kisch kannte das undurchschaubare Phänomen bereits, denn auf seiner Reportagereise durch China war ihm diese traditionelle Leidenschaft schon auf Schritt und Tritt begegnet und auch hier, auf der Lower Eastside, zog sie ihn wiederum in seinen Bann. Er hatte gelesen, dass in New York erst vor zwei Jahren, 1937, die „National Mah-Jongg League” gegründet wurde, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, einheitliche Regeln für die allerorts stattfindenden – und nicht ganz unchaotischen – Turniere einzuführen.
Kisch nahm einen Schluck und sein Blick fiel auf einen der zweischichtigen Spielsteine, der direkt vor ihm lag. Er bewunderte die feine Arbeit aus bemaltem Elfenbein mit zarter Gravur auf der Deckseite und der aus Bambus gefertigten Unterseite, die nicht etwa einfach verklebt, sondern ganz grazil verzinkt war. Kischs Gedanken schweiften ab und er sah die geschickten Hände seiner Frau vor sich. Wo sie wohl war? Er hoffte inbrünstig, dass Lotte nichts geschehen war und zwang sich, die aufsteigende Angst mit einem letzten Rest des gebratenen Huhns hinunterzuschlucken.
Wie geblendet, trat er wenig später ins helle Tageslicht hinaus und brauchte einen Moment sich zu orientieren. Er wandte sich schließlich nach rechts und folgte der Canal Street bis zum Ende und zu ihrer Einmündung in den East Broadway. Hier musste es sein.
Er und Lotte hatten das Verleger-Ehepaar Alfred Knopf und Blanche Wolf Knopf bereits Anfang der 30er Jahre in Berlin getroffen und sie hatten einen Vertrag unterzeichnet, der die Herausgabe von Kischs Autobiografie „Schwimmend im Tintenstrom” durch Knopf in New York besiegelte. Kisch hoffte, dass es nun endlich, nach all den Jahren der Verzögerung durch seine Flucht und die wechselnden Stationen des Exils innerhalb Europas, dazu kam, dass „Crawling in the Inky River” gedruckt werden würde, bevor seine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung für die USA, ihn ins Exil nach Mexiko nötigte. Außerdem brauchte Kisch dringend eine Einnahmequelle, denn er war inzwischen ziemlich klamm und wollte Lotte nicht völlig abgebrannt entgegentreten und ihr einen derart zweifelhaften Empfang bereiten.
Die Knopfs hatten ihnen eine Fotografie des Gebäudes gezeigt, in dem der Verlag untergebracht war und genau in dem Moment, als ein Kohlenträger mit einer Kiepe voller Briketts auf dem Rücken, Kisch anrempelte, sich sogleich wortreich entschuldigte und ihm auf den Oberarm klopfte, erkannte er das „Forward Building” schräg gegenüber.
Kisch wischte sich die schwarzen Spuren vom Ärmel, die die nette Geste des Mannes hinterlassen hatte und betrachtete die eindrucksvolle Fassade des 10-geschossigen Bauwerks, das die Nachbargebäude um Längen überragte. Das Auffälligste war das Dachgeschoss. Es wirkte wie ein aufgesetzter Tempel mit Säulen, Kapitellen und Friesen sowie rechts und links je einem terrassenartigen Austritt. Die Dachspitze bildete eine steinerne Muschel mit einer weithin sichtbaren Uhr unter der der Schriftzug „Ferverts” in goldenen hebräischen Lettern prangte.
Das Gebäude beherbergte hauptsächlich die jiddische Zeitung, die der Sozialist Abraham Cahan, mit dem Kisch in Berlin des Öfteren zusammengearbeitet hatte, Ende der zwanziger Jahre in New York gegründet hatte. Sie galt inzwischen als die einflussreichste Kraft im politischen und sozialen Leben der amerikanischen Juden, die schräg gegenüber, im Viertel um die Lower East Side versuchten, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Der Name der Zeitung bezog sich natürlich auf das deutsche Vorbild, den „Vorwärts”, was wenig verwunderte, denn dessen erster Herausgeber war Cahan selbst und Kisch schmunzelte, denn alleine der Anblick des Gebäudes, weckte in ihm schon ein angenehm heimatliches Gefühl und er fühlte sich fürs Erste angekommen.
Zwei berittene Polizisten versperrten ihm die Sicht und als sie sich endlich bequemten, glitt sein Blick über die von Kohlenstaub und dem Schmutz der Stadt leicht rußige Jugendstilfassade, die vier Büsten nahmhafter Sozialisten auf der Höhe der zweiten Etage zierten. Der Grundton der Fassade, ein lichter Ocker, ließ sich nur mehr erahnen, dennoch war der englische Titel der Zeitung, „Forward”, der in aprikosenfarbenen Lettern ganz oben auf der Querseite des Gebäudes und zur Kreuzung hin platziert war, weithin sichtbar.
Im unteren Geschoss vermutete Kisch die Produktion und tatsächlich, da bemerkte er auch schon die Zeitungsjungen, die mit ihren Bündeln der Abendausgabe aus einem der Seiteneingänge strömten. Kisch trat auf das Eingangsportal zu, nahm beschwingt die wenigen Stufen und las auf der polierten Messingtafel: Alfred A. Knopf Publishers Inc., Aufgang IV, 10. Stock.
„Respekt, das Dachgeschoss”, dachte Kisch und schon öffnete der Liftboy ihm das schwarze Scherengitter eines Fahrstuhls. Er lächelte dem kleinen Livrierten zu, ein halbes Kind noch, doch dieser sah verschämt zu Boden und setzte lieber das ruckelige Wunderwerk der Schmiedekunst mit einem „Bling” in Bewegung. Jedes Stockwerk wurde mit diesem hellen Ton angezeigt und Kisch bekam die zügige Fahrt nach oben sogar noch zusätzlich versüßt, denn über dem roten Velours im Sechsten, erhaschte er den Anblick einer Strumpfnaht auf einem bemerkenswert wohlgeformten Frauenbein.
„Knopf Publishers”, meldete der Kleine. Kisch bedankte sich, trat vor die Eichentür und schellte. Während er wartete, besah er sich das Schild mit dem Markenzeichen des Verlages, ein schwarzer Windhund, der auf dem poliertem Messinggrund besonders gut zur Geltung kam und ihn durchzuckte der freudige Gedanke, dass dieser auch bald sein Buch zieren würde.
Blanche selbst riss die Türe auf und ihn auch gleich aus seinem Wachtraum. Unter herzlichem Begrüßungsgeplauder und Glückwünschen zur endlich gelungenen Flucht, Nachfragen nach dem Verbleib seiner Frau und allerlei wechselseitigen Berichten, die in einer solchen Situation angemessen sind, fanden sie sich bald um einen Teetisch an der Glasfront vor der Aussichtsterrasse wieder.
Alfred Abraham Knopf hatte seinem Privatsekretär noch schnell einen Auftrag erteilt und sich, nachdem er Kisch so freundschaftlich entgegen getreten war, dass dieser die Begrüßung nach Männermanier noch Minuten später im Rücken spürte, längst ebenfalls dazugesellt. Kisch lockerte unwillkürlich immer wieder seine Schulter und sog beeindruckt den herrlichen Duft des Darjeelings wie den grandiosen Ausblick ein.
Knopf öffnete ein Vertiko, nahm eine Karaffe heraus und goß Blanche und Kisch einen Weinbrand ein, der im Licht der Nachmittagssonne in den Facetten des Glasschliffs warm und rotgold funkelte. Sie stiessen auf die guten, alten Zeiten an und Knopf nahm eine Mappe von seinem Schreibtisch, suchte kurz, entnahm ihr einen Zeitungsausschnitt, lehnte sich zurück und begann zu zitierten: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit, in der man lebt!“
Kisch errötete ein wenig und Knopf fragte triumphierend in die Runde: „Wer war’s? Wer hat’s gesagt?” Kisch schaute verlegen. „Du Schlawiner!” donnerte Knopf, „Einfach grandios, mein Freund. Das ist die höchste Kunst der Worte.” Blanche klatschte in die Hände, Knopf nahm einen Schluck und prostete Kisch zu. Dieser rutschte auf seinem Polsterstühlchen herum und sagte schließlich leise: „Drum ist es gut, ein wenig Höhenangst zu haben...” und grinste schief.
Eine gute Stunde später stand Kisch, bleich wie die Wand, auf der Straße und hielt sich an einem Mauergesims des Forward Buildings fest.
Mit zahlreichen Erklärungen und wortreichem Bedauern, hatten die Knopfs ihm auseinandergesetzt, dass in Anbetracht eines möglichen Kriegseintritts der USA an eine Veröffentlichung eines sozialkritischen Kommunisten aus Deutschland und sei seine Reputation auch noch so hoch und seine Leistung unbenommen, nicht zu denken sei.
Kisch kämpfte mit sich. Fassungslosigkeit und Enttäuschung dehnten sich in seinem Inneren aus und der Dämon der Feigheit würzte die gallige Suppe. Eine unsägliche Hoffnungslosigkeit erfasste ihn und schüttelte ihn durch. Minuten verrannen, er bemerkte es nicht.
„Kisch!” Eine Stimme drang zu ihm durch. „Kisch! Ich hatte so gehofft, dich bei den Knopfs zu finden!” Lotte legte ihre Hand unter sein Kinn, hob es an und brachte ihn dazu aufzusehen.
20 06 2016 © nyx